Die Entwicklung der Demokratie in der Neuzeit ist entscheidend für
das Verständnis der heutigen Demokratieformen und -probleme. Auf
dieser Seite wird die Entstehung der modernen Demokratie aus
verschiedenen Perspektiven beleuchtet:
Der erste Text gibt einen
einführenden Überblick über wichtige Meilensteine dieser
Entwicklung. Ausgehend von den Ideen der Aufklärung kommen die
Kerngedanken von Locke, Montesquieu und Rousseau zur Sprache.
Wie sich diese Ideen in der Realität niedergeschlagen haben,
zeigt ein Blick auf die Entwicklung der amerikanischen
Verfassung und der Menschen- und Bürgerrechte.
Der
anschließende Text beschäftigt sich mit den zentralen
Grundlagen und Elementen der politischen Philosophie der
Neuzeit. Was hat sich geändert mit dem Beginn der Neuzeit?
Welche Denkfiguren sind hinzugekommen? Welches Weltbild liegt
der Neuzeit zugrunde? Neben Descartes´ Philosophie der
Subjektivität geht es unter anderem um das Gedankenexperiment
vom Naturzustand und die Vertragstheorie.
Der folgende Textauszug von Hans-Helmuth Knütter geht von den
Ideen der Aufklärung aus und vermittelt einen ersten Eindruck von der
Entstehung der neuzeitlichen Demokratie.
Die Emanzipation des Menschen von gesellschaftlichen und religiösen
Bindungen begann im 17. Jahrhundert. Im "Zeitalter der Vernunft"
beschäftigte sich die Philosophie mit der Existenz des Menschen als
vernunftbegabtem Wesen (René Descartes [1596 bis 1650]: cogito ergo sum,
ich denke, also bin ich). Das neue Menschenbild führte zwangsläufig zu
der Frage, wie eine politische Ordnung aussehen solle, die Freiheit des
einzelnen und öffentliche Ordnung so miteinander verbindet, dass
obrigkeitsstaatliche und gesellschaftliche Unterdrückung vermieden wird.
Besonders in den Werken von John Locke (1632 bis 1704), Charles de
Secondat Montesquieu (1689 bis 1755) und Jean-Jacques Rousseau (1712 bis
1778) finden wir dem gleichen Ziel verpflichtete, jedoch
unterschiedliche Antworten auf die Frage nach einer vernunftgemäßen
politischen Ordnung.
Locke wendet sich in seiner Schrift "Two Treatises of Government" (Zwei
Abhandlungen über die Regierung, 1690) gegen die Rechtfertigung der
absoluten Monarchie. Die politische Ordnung beruht für ihn auf dem
Zustand völliger Gleichheit und Freiheit, die durch Rücksicht auf andere
und die Notwendigkeit friedlichen Zusammenlebens begrenzt wird. Zum
Staate schließen sich Menschen zusammen, um ihr Eigentum zu sichern.
Die Aufgaben der Staatsgewalt sind begrenzt, folglich dürfen auch die
Machtmittel der Regierung nicht unbeschränkt sein. Deshalb soll die
Macht auf verschiedene Träger verteilt werden: die Legislative (das
Parlament) als gesetzgebende, die Exekutive als ausführende und die
Föderative, die für die äußere Sicherheit zuständig ist. Die beiden
zuletzt genannten Gewalten befinden sich in der Hand des Monarchen und
seiner Regierung. Alle Macht findet ihre Grenze an der Zustimmung der
Bürger. Eine Herrschaft, die sich gegen das Recht auf Unversehrtheit der
Person und des Eigentums vergeht, ist Tyrannei und fordert Widerstand
heraus.
Die Wirkung John Lockes auf die politischen Ideen der folgenden
Jahrhunderte kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die von ihm
entwickelten Vorstellungen über Machtbegrenzung und -kontrolle,
Verantwortlichkeit der Machtträger dem Volke gegenüber, die Bedeutung
des Privateigentums machen Locke zu einem Vorläufer der liberalen
Demokratie, auch wenn ihm und seiner Zeit diese Begriffe noch nicht
geläufig waren.
Montesquieu betrachtete England als Vorbild, wenn er schreibt, es sei
die "Nation..., die als unmittelbaren Zweck ihrer Verfassung die
politische Freiheit hat". In seinem Hauptwerk "De l'Esprit des Lois"
(Vom Geist der Gesetze, 1748) bezeichnet er die Despotie als die
schlechteste aller Staatsformen. Die beste sei jene freiheitliche, in
der die Bürger das Recht haben, alles zu tun, was die Gesetze erlauben.
Er sieht durchaus die Gefahr, dass auch in einer Demokratie diese
Freiheit gefährdet sein kann. Der menschlichen Neigung zum
Machtmissbrauch — ähnlich wie bei John Locke — soll durch
Machtverteilung und -kontrolle Schranken gesetzt werden.
Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung weicht von der John Lockes
ab. Er kennt neben der Legislative und Exekutive die richterliche Gewalt
(Judikative). Zukunftweisend war auch Montesquieus Bejahung der
Repräsentation. Das Volk als Ganzes könne weder in kleinen noch in
großen Staaten die gesetzgebende Gewalt direkt ausüben. Deshalb müsse
das Volk durch Repräsentanten (also Abgeordnete) tun lassen, was es
selbst nicht könne. Die Lehre Montesquieus hat die Entwicklung der
Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika stark beeinflusst und
seit der Französischen Revolution die Ausbildung des modernen
Verfassungsstaates in erheblichem Maße mitgeprägt.
Während Locke und Montesquieu zu den geistigen Vätern der
repräsentativen Demokratie zählen, hat Rousseau die direkte Demokratie
theoretisch begründet. Er ist einer der umstrittensten Denker, dessen
unmittelbare Wirkung bis in die Gegenwart reicht. Noch in den sechziger
Jahren des 20. Jahrhunderts haben sich Kritiker der parlamentarischen
Demokratie auf ihn berufen, wenn sie eine direkte Demokratie forderten
und Gruppeninteressen bekämpften. Andere haben in Rousseau einen
Vorläufer des modernen Totalitarismus gesehen, der die Menschen zu ihrem
Glück zwingen will.
Seine politische Theorie beruht auf der Annahme, dass der Mensch von
Natur aus gut sei und in öffentlichen Angelegenheiten tugendhaft handeln
müsse. Die menschliche Gesellschaft hindere den Menschen, sich seinen
Anlagen entsprechend zu verhalten, der Mensch ist durch die
Gesellschaft, ihre Institutionen und Konventionen sich selbst
"entfremdet". Zwar benutzt Rousseau den von Hegel geprägten und vom
Marxismus popularisierten Begriff der Entfremdung noch nicht, die
Vorstellung stammt jedoch von ihm. Mit seinen politischen und
pädagogischen Schriften will Rousseau eine Ordnung der Freiheit,
Gleichheit und Gerechtigkeit schaffen.
In seinem in diesem Zusammenhang wichtigsten Werk, dem "Du contrat
social" (Gesellschaftsvertrag, 1762) entwickelt Rousseau eine Ordnung,
die auf Vereinbarung beruht. Alle schließen sich zum gemeinsamen Schutz
zusammen. Da jeder dies frei tut und alle gleich sind, hat keiner einen
Nachteil. Jeder stellt seine Person unter die oberste Leitung eines
allgemeinen Willens (volonté générale), so dass ein geistiger
Gesamtkörper entsteht. Da es möglich ist, dass einzelne Bürger einen
gegen den Gemeinwillen gerichteten Partikularwillen entwickeln, das
heißt ein Sonderinteresse vertreten; muss der Staat Zwang bis hin zur
Todesstrafe anwenden, um dieses zu unterdrücken.
Parteien, Gewerkschaften und sonstige Verbände wären mit Rousseaus Lehre
unvereinbar. Die Menschen müssen notfalls gezwungen werden, das Gute und
Richtige zu wollen, da sie es nicht immer selbst erkennen. Sie müssen
ihr Urteil der Vernunft anpassen, damit aus der allgemeinen Einsicht ein
Zusammenwirken aller entsteht. Rousseaus Idealvorstellung ist die
direkte Demokratie ohne Gewaltenteilung und Repräsentation, die er für
unfreiheitlich hält. Es liegt nahe, dass diese Konzeption in der
Gegenwart sehr umstritten ist. Einerseits wird der freie Mensch
gefordert, der nur dem Gesetz gehorcht, das er sich selbst gegeben hat,
andererseits kann aus Rousseaus Vorstellungen eine politische Ordnung
abgeleitet werden, in der die Bürger vom Staate total beansprucht werden
und in der sogar die "richtige" Gesinnung kontrolliert wird.
Die Staats- und Gesellschaftstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts haben
— so widersprüchlich sie sind — die demokratischen Bewegungen gefördert
und theoretisch fundiert. Zuerst fanden sie in der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 ihren Niederschlag. Thomas
Jefferson (1743 bis 1826), später Präsident der USA, formulierte die
Unabhängigkeitserklärung in enger Anlehnung an die Ideen John Lockes.
Der Gedanke, dass es keine Regierung ohne die Billigung der Regierten
geben dürfe, wurde zur Grundlage der Verfassung der USA von 1787/91.
Der Grundrechtsgedanke erwuchs aus der naturrechtlichen Philosophie des
17. und 18. Jahrhunderts. Seit John Locke führte die Auffassung von der
sittlich begründeten Autonomie und dem Eigenwert des Menschen zur
Forderung nach einer der Staatsgewalt entzogenen Rechts- und
Freiheitssphäre für den einzelnen. Bereits 1679 hatte das britische
Parlament mit der Habeas-Corpus-Akte den Schutz der persönlichen
Freiheit gegen staatliche Willkür durchgesetzt. Die weiteren Stationen
auf dem Wege der Durchsetzung waren die britische "Declaration of
Rights" (1689), die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776), die
Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (1787/91) und die
"Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" durch die Franzosische
Nationalversammlung (1789).
Die Menschen- und Bürgerrechte
Die Erklärung der Menschenrechte erfolgte auf Antrag Lafayettes (1757
bis 1834), des Kommandanten der Nationalgarde, der als Teilnehmer am
amerikanischen Unabhängigkeitskrieg populär war. Die Erklärung bildet
eine der wichtigsten Grundlagen für die liberalen und demokratischen
Vorstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Menschenrechte, die jedem aufgrund
seiner menschlichen Existenz zustehen,
Bürgerrechte, die ihm aus seiner
Staatszugehörigkeit erwachsen.
Will man eine inhaltliche Unterscheidung treffen, so kann man die
Grundrechte drei Hauptgruppen zurechnen:
Die Freiheitsrechte oder liberalen
Grundrechte sind negativ formuliertes subjektives Recht. Sie
gewähren dem einzelnen Anspruch auf Unterlassung staatlicher
Eingriffe in seine persönliche Freiheitssphäre.
Die Staatsbürgerrechte oder
politischen Grundrechte sind positiv formuliertes subjektives Recht.
Sie sichern dem einzelnen Mitwirkungsbefugnis im Gemeinwesen (Recht
auf Staatsangehörigkeit mit aktivem und passivem Wahlrecht, Recht
auf Zugang zu öffentlichen Ämtern).
Die Leistungsrechte oder sozialen
Grundrechte sind ebenfalls subjektives Recht und ergeben sich aus
der Entwicklung vom liberalen Rechtsstaat zum Sozial- und
Vorsorgestaat. Sie verbürgen das Recht auf Teilhabe am
wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt (zum Beispiel das Recht
auf Arbeit und gerechte Entlohnung, Recht auf öffentliche Fürsorge
in Notfällen, Recht auf Wohnung).
Grundrechte sind heute in vielen nationalen und internationalen
Dokumenten als positives Recht verbürgt. (...) International gelten die
"Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" der Vereinten Nationen von
1948 sowie die (Europäische) "Konvention zum Schutze der Menschenrechte
und Grundfreiheiten" von 1950. Die Garantie der Grundrechte in diesen
Dokumenten sagt nichts über ihre tatsächliche Verwirklichung im
internationalen Rahmen aus. Immer wieder hat sich erwiesen, dass das
Völkerrecht keine wirksamen Sanktionen gegen Menschenrechtsverletzungen
kennt.
[Autor: Hans-Helmuth Knütter, aus: Bundeszentrale für politische
Bildung: Demokratie, Informationen zur politischen Bildung Nr. 165,
Neudruck 1992]
Video als Einstieg in das Thema Menschenrechte
Den Menschenrechten ist auf D@dalos ein eigenes Online-Lehrbuch
gewidmet. Dort wird unter anderem die Entwicklung der Menschenrechte aus
den naturrechtlichen Wurzeln sowie deren Ausgestaltung und
Weiterentwicklung im Völkerrecht näher erläutert (...zum
Online-Lehrbuch Menschenrechte). Das folgende Video bietet einen
hervorragenden Einstieg in das Thema Menschenrechte. Es wurde vom Verein
/e-politik.de/ e.V. (www.e-politik.de)
entwickelt, der seit Anfang 2010 das Projekt "WissensWerte-
Animationsclips zur politischen Bildung" betreibt:
neue Grundlegung der politischen Philosophie in der Neuzeit
Vom Staunen zum Zweifel
Grundlagen der neuzeitlichen politischen Philosophie
Der folgende Textauszug arbeitet die zentralen Grundlagen und Elemente
der politischen Philosophie der Neuzeit heraus. Was hat sich geändert
mit dem Beginn der Neuzeit? Welche Denkfiguren sind hinzugekommen?
Welches Weltbild liegt der Neuzeit zugrunde?
Vom Kosmos zur Baustelle
Aristoteles hat die politische Philosophie als eigenständige Disziplin
begründet. Seine Grundlegung hat schulbildende Kraft entfaltet, deren
Fortwirken bis in die Gegenwart zu beobachten ist. Viele der
aristotelischen Begriffe kehren auch in der Neuzeit wieder. Dennoch darf
man nicht übersehen, dass die politische Philosophie der Neuzeit einen
entscheidenden Wandel in der Grundlegung vollzogen hat. Dabei verändert
sich auch die Bedeutung des Politischen.
Der Mensch ist für Aristoteles von Natur aus ein politisches Lebewesen;
denn das beste Werk menschlichen Handels ist die polis, der
Staat. Das Wesen des Menschen liest Aristoteles am vollkommenen Werk des
menschlichen Wirkens ab. Dieses Werk ist der Endzweck menschlichen
Strebens, dasjenige, worumwillen der Mensch existiert. Aristoteles
bestimmt das menschliche Handeln von seinem Ende her. Er fragt nicht:
Was vermag der Mensch zu leisten? Wo liegen die Grenzen seines
Leistungsvermögens? Seine Frage ist vielmehr: Welches Werk ist dem
Menschen kraft seiner Natur vorgegeben? Welche Bedingungen fördern oder
behindern das Erreichen dieses Endzwecks? Aristoteles geht also vom
vorgegebenen Werk als Ziel des Handelns aus. Hieraus leitet er die
menschlichen Vermögen her, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlich
sind.
Das entgegengesetzte Verfahren geht von einer Analyse der menschlichen
Vermögen aus, um dann hieraus das Ziel, das erstrebenswert und
erreichbar erscheint, abzuleiten. Im ersten Fall werden vom
vorausgesetzten Werk her die gebotenen Leistungen erschlossen; im
zweiten Fall werden die menschlichen Vermögen in ihren Möglichkeiten
ausgemessen, nicht um sie auf ein spezifisches Werk festzulegen, sondern
um den Umkreis, die Grenzen des Machbaren abzustecken. Das Wesen des
Menschen bestimmt sich dann nicht mehr aus dem Werk, das er kraft seiner
Natur vollbringt, denn auf ein spezifisches Werk lässt er sich gar nicht
festlegen. Es bestimmt sich vielmehr aus den Möglichkeiten, die
realisierbar sind; sie sind abzugrenzen gegen das Unmögliche, das
unerreichbar bleibt.
Die erste Frage unterstellt, dass die Welt ein wohlgeordnetes Haus ist,
in dem alles in der Welt Vorfindliche seinen natürlichen Platz findet.
Dieser natürliche Ort ist ihm vorgegeben durch sein Werk, das es kraft
seines Wesens vollbringt. Dies ist in der Tat die aristotelische
Konzeption vom Kosmos.
Die zweite Frage dagegen geht davon aus, dass menschliches Vermögen sich
an kein spezifisches Werk binden lässt; dieses ist immer endlich und
kann deshalb überschritten, verbessert, erweitert werden. Die Welt ist
dann kein fertiges, in sich vollendetes Haus, sondern eine Baustelle,
auf der beständig gearbeitet wird, und zwar nicht allein an der
Vollendung, sondern vor allem an der beständigen Verbesserung des
Projekts. Die Grenzen dieses Arbeitens sind in der Endlichkeit der
menschlichen Fähigkeiten und in der Gesetzmäßigkeit des Baumaterials zu
suchen. Innerhalb dieser Grenzen sind ein beständiger Fortschritt und
ständige Verbesserungen möglich. Dem Bauherrn geht es wie dem Eroberer,
der sich im Feindesland bewegt: Jede neue Grenze, die er siegend
erreicht, ist für ihn nur Schranke seines Tuns, Aufforderung, sie
kämpfend zu überschreiten — die Grundeinstellung der neuzeitlichen
Philosophie. Für Aristoteles ist der Grundaffekt, der zum Philosophieren
Anlass gibt, das Staunen, die Verwunderung über die gute und schöne
Ordnung der Welt. In der Neuzeit aber ist es der Zweifel an den eigenen
Fähigkeiten des Menschen, um deren Möglichkeiten und Grenzen auszuloten,
damit sie zu immer größerer Entfaltung gebracht werden können.
Cogito ergo sum: Philosophie der Subjektivität
René Descartes (1596-1650) hat als erster die neuzeitliche
Begründungsweise der Philosophie dargestellt, und zwar in seinen
"Meditationen über die Erste Philosophie" (1641).
(...) Alles vorhandene menschliche Wissen muss daher einer kritischen
Prüfung unterworfen werden. Die Methode dieses Prüfens ist der Zweifel,
das Infragestellen des Anspruchs gegebenen Wissens, gewiss und wahr zu
sein. Was aber ist das Fundament der Gewissheit und Wahrheit
menschlichen Wissens? Auf diese Frage sucht Descartes eine Antwort.
(...) Nur ein Fall sei vorgeführt. Wenn ich etwa behaupte, der Kreis sei
viereckig, so kann ich mit gutem Grund den Wahrheitsgehalt dieser
Aussage bezweifeln. Was aber in dieser Aussage selbst nicht unsinnig
sein kann, ist die Tatsache, dass ich selbst es bin, der diese
Behauptung aufgestellt hat. Das Ich, das Aussagen macht, gleichviel ob
diese wahr oder falsch sein mögen, ist der Ursprung und Grund allen
Aussagens und damit auch von Gewissheit und Ungewissheit, Wahr und
Falsch. Damit ist der Grund, das unerschütterliche Fundament alles
Wissens entdeckt: die Selbstgewissheit des denkenden Ichs. Diese
Selbstgewissheit des sich als denkendes Wesen wissenden Ichs ist — so
Descartes — schlechterdings unbezweifelbar; denn sie ist der Boden, die
Bedingung der Möglichkeit allen Zweifels. Das "Ich denke, also bin ich"
(cogito, ergo sum) ist das Prinzip allen menschlichen Wissens und
damit auch der Philosophie.
Die Methode der neuen Grundlegung der Philosophie ist die Rückwendung
des Menschen auf sich selbst, die Ausmessung der eigenen
Leistungsfähigkeit, um hieraus die Grenzen zwischen dem Erreichbaren und
dem Unerreichbaren zu ziehen, ein Vorgehen, das Reflexion, Zurückwendung
auf sich selbst heißt.
Das Ich, das sich als denkendes Wesen weiß, liegt allem Wissen zugrunde.
Ein solches erstes Zugrundeliegendes heißt lateinisch sub-iectum.
Die neuzeitliche Philosophie, welche von dem Ich als dem
Zugrundeliegenden ausgeht, nennt man daher zu Recht: Philosophie der
Subjektivität.
Warum braucht man einen Staat?
Konzeption des Staates abhängig vom Menschenbild
Legitimation des Staates: Sicherheit
Das Gedankenexperiment vom Naturzustand
(...) Bei Descartes steht die theoretische Philosophie, die Metaphysik,
im Mittelpunkt. Die neue Begründungsform im Geist der Philosophie der
Subjektivität betrifft auch die praktische Philosophie. Aus dem Menschen
als Ich, das sich selbst reflektiert im Hinblick auf sein
Leistungsvermögen, muss auch die praktische und die politische
Philosophie begründet werden.
(...) Die politische Philosophie der Subjektivität geht auf den Menschen
zurück und fragt, was ihn nötigt, sein Zusammenleben mit anderen
Menschen staatlich zu regeln. Sie beantwortet diese Frage in einem
Gedankenexperiment. Von allem, was der Mensch dem staatlichen
Zusammenleben verdankt, sieht sie ab und versetzt ihn in einen Zustand
ohne Staat, in einen Naturzustand. In ihm verhält sich der Mensch
frei von allen staatlichen Beschränkungen und Zwängen; er zeigt hier
sein eigentliches Wesen, das Streben nach Selbsterhaltung. Als sich
selbst erhaltende Wesen sind alle Menschen einander gleich. Im
Unterschied zu Aristoteles, der eine natürliche Ungleichheit der
Menschen annimmt und Gleichheit nur unter Bürgern desselben Staats
bestehen lässt, unterstellt die Neuzeit, dass alle Menschen von Natur
aus gleich sind; die Tatsache, dass die Individuen mit körperlichen und
geistigen Kräften nicht in demselben Maß ausgestattet sind, ändert
nichts an der prinzipiellen Gleichheit der Lebenssituation, am Streben
nach Selbsterhaltung. Wenn aber alle Menschen ohne jegliche Beschränkung
nach der Sicherung und Optimierung ihrer Selbsterhaltung streben, so
treibt diese fessellose Konkurrenz in einen Zustand völliger
Unsicherheit und Gefahr. Sie sehen sich genötigt, dieses Streben in
wechselseitige Grenzen zu bannen, um einen Zustand der Sicherheit und
des Friedens herzustellen: den staatlichen Zustand.
Ausgangspunkt der Ableitung des Staats bildet also eine Wesensbestimmung
des Menschen, wobei die Selbsterhaltung im Mittelpunkt steht. Je
nachdem, ob der Mensch pessimistisch als ein aggressives oder
optimistisch als ein eher geselliges Wesen eingeschätzt wird, fällt die
Konzeption des Staats aus. In jedem Fall aber muss der Staat die
Einhaltung der einmal eingegangenen Übereinkünfte durchsetzen, und sei
es mit physischer Gewalt. Eine pessimistische Anthropologie baut auf
einen Staat, der mit allumfassender Gewalt ausgestattet ist. Eine
optimistische Anthropologie hingegen setzt auf das Vertrauen der Bürger
zum Staat, der sie gerecht regiert, so dass nur ein Minimum an Staat für
geboten erachtet wird.
Die politische Philosophie der Subjektivität geht aus von einer
Wesensbestimmung des Menschen, von einer politischen Anthropologie.
Aus ihr wird die Notwendigkeit des Staats als Garant der Sicherheit der
Selbsterhaltung, als Garant der Friedlichkeit des Zusammenlebens der
Menschen begründet, wobei der Grad der Ausstattung des Staats mit Macht
direkt von den anthropologischen Grundannahmen abhängt.
Hatte Aristoteles das gute Leben der Menschen als Zweck des Staats
bestimmt, so ist in der Neuzeit das Ziel des Zusammenlebens der Menschen
in staatlich organisierter Form die Sicherung der individuellen
Selbsterhaltung, die Sicherung des Friedens. Diese
Friedenssicherung ist der fundamentale Legitimationsgrund des Staats in
der Neuzeit: zunächst die Sicherung des Friedens im Inneren, während die
Sicherung des Friedens nach außen nur bedingt in die Kompetenz des
einzelnen Staats fällt.
Naturrecht auf Selbsterhaltung
Staat als neutraler Richter
Bedingungen: Herrschaft des Gesetzes,
Gewaltmittel zur Rechtsdurchsetzung
Zwei Verträge
Gesellschaftsvertrag
Wie aber wird der Übergang vom Naturzustand in den Staatszustand
bewerkstelligt? Die einhellige Antwort der neuzeitlichen politischen
Philosophie lautet: durch Abschluss eines Vertrages. In diesem Vertrag
wird die unumschränkte Freiheit der Selbsterhaltung des einzelnen
eingeschränkt, und zwar so, dass die individuelle Freiheit aller
friedlich zusammen bestehen kann. Jeder verzichtet auf sein
schrankenloses Recht, akzeptiert Einschränkungen und erhält dadurch
Sicherheit sowie Friedlichkeit des Zusammenlebens. Jeder Mensch hat ein
Naturrecht auf Selbsterhaltung. Dieses Recht kann nicht
aufgehoben werden; denn das würde die Vernichtung der Existenz bedeuten.
Es kann aber eingeschränkt werden, so dass die unveräußerlichen Rechte
aller Menschen nebeneinander bestehen können. Diese Einschränkungen
werden kodifiziert in Gesetzen. Es gibt von Natur aus ein
unveräußerliches Recht der Menschen, es gibt aber kein Naturgesetz; denn
das Gesetz, die Einschränkung der Freiheit, geht auf freie und gleiche
Übereinkunft zurück, kurz — auf einen Vertrag.
Im Naturzustand strebt jeder nach optimaler Sicherung seiner
Selbsterhaltung, was zu Konflikten zwischen den Beteiligten führt, weil
jeder nur seine eigene Sache vertritt. Die Beteiligten können
unmittelbar ihre Interessenkonflikte nicht schlichten. Deshalb sehen sie
sich genötigt, sich auf folgendes zu einigen:
erstens auf die allgemeinen Regeln der Schlichtung, auf Gesetze;
zweitens auf eine interessenneutrale Instanz, die in der Lage
ist, einen interessenneutralen Schiedsspruch zu fällen, der den
streitenden Seiten Rechnung trägt.
In der Neuzeit wird der Ursprung des Staats nach diesem Richtermodell
gedacht: Der Staat wird als eine neutrale Gewalt eingerichtet, die
Konflikte schlichtet und so den Frieden im Zusammenleben garantiert.
Zwei Bedingungen sind also vonnöten: Es bedarf zum einen der
Herrschaft des Gesetzes; zum andern muss die Herrschaft des Gesetzes
Institution werden in Gestalt der Monopolisierung des Rechts auf
Anwendung physischer Gewalt. Dieser Institution fällt die Aufgabe zu,
die Durchsetzung des Richterspruchs nach Gesetzen zu garantieren; dazu
bedarf es der Gewaltmittel. Die neuzeitliche Konstruktion des Staats
muss daher eine Rechtskonstruktion sein: Politische Philosophie
wird Rechtslehre, der legitime, mit Vernunftgründen gerechtfertigte
Staat ist Rechtsstaat.
Die Gründung des Staats durch Vertrag fußt auf zwei rechtlichen Akten.
Im Naturzustand herrscht ein soziales Chaos, das keinerlei ordnender
Regel unterworfen ist. Die Menschen müssen sich deshalb einigen, dass
sie in einer Gemeinschaft leben wollen, die durch Gesetze geregelt ist.
Es muss also ein Vereinigungsvertrag (pactum unionis) zustande
kommen, wodurch die Menschen sich zu einem politischen Körper
vereinigen. Dies reicht jedoch noch nicht aus. Es muss noch eine
staatliche Gewalt eingerichtet werden, die über die Einhaltung der
beschlossenen Regeln oder Gesetze wacht und dies auch durchzusetzen
vermag. Dem Vereinigungsvertrag muss noch ein Unterwerfungsvertrag (pactum
subiectionis) folgen und diesen ergänzen. Es ist nun schwer, das
Verhältnis beider Verträge zu fassen, und in der Geschichte der
politischen Philosophie der Neuzeit sind sehr heterogene Lösungsmodelle
entworfen worden, wobei die Konstruktionen zwischen der Betonung der
Unterwerfung und der Einigung schwanken, zwischen einem eher autoritären
und einem eher demokratischen Staatsmodell.
[aus: Eberhard Braun/Felix Heine/Uwe Opolka, Politische Philosophie. Ein
Lesebuch. Texte, Analysen, Kommentare, Reinbek 1984]
Weitere Seiten und Abschnitte zum Thema Demokratie
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