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Inhaltsverzeichnis


Online-Lehrbuch Demokratie:

Einleitung

Was ist Demokratie?

Entwicklung

Staat

Gesellschaft

Probleme

 


Probleme der Demokratie

[Autor: Dr. Ragnar Müller, Mail an den Autor]


In den anderen Abschnitten dieses Online-Lehrbuchs wurde immer wieder deutlich, dass die Demokratie keine Maschine ist, die - einmal installiert - dauerhaft problemlos funktioniert. Sie lebt von Voraussetzungen, die immer wieder neu geschaffen werden müssen. Sie ist dauerhaft in Gefahr, sich zu weit vom demokratischen Ideal zu entfernen. Kurz gesagt: Demokratie ist kein Zustand, sondern eine permanente Aufgabe. Zum Gelingen tragen die Institutionen und Verfahren bei, vor allem aber das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. In diesem Abschnitt werden einige der Probleme angesprochen, mit denen die Demokratie heute zu kämpfen hat.

Als erstes kommt einem in diesem Zusammenhang das Schlagwort von der Politikverdrossenheit in den Sinn. Ausgehend von der Familie beim Fernsehen, die uns im gesamten Online-Lehrbuch Demokratie begleitet hat, zeigt der erste Text auf, wie es zur "Politik - nein danke!"-Haltung kommen kann. Im Kasten auf der rechten Seite finden sich wichtige Hinweise zu den Voraussetzungen und Problemen des für die Demokratie grundlegenden Mehrheitsprinzips.

Ein zweiter Text weiter unten auf der Seite beschäftigt sich mit der Zukunft der Demokratie. Nach einer Bilanz zu den Erfolgen und Gefährdungen der Demokratie im 20. Jahrhundert sowie einem Abschnitt zum Problem der Expertokratie werden die Krisensymptome der Gegenwart aufgelistet.

Ein weiterer Text diskutiert die Perspektiven der Demokratie im 21. Jahrhundert ausgehend von den Thesen von Tocqueville und Bryce. Dabei kommt das Problem der Mediendemokratie ebenso zur Sprache wie die Probleme der "konkurrenzlosen" Demokratie nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Alternative.

Informationen zur Ausgestaltung und zu den Herausforderungen von Demokratie jenseits des Nationalstaats finden Sie auch in den Online-Lehrbüchern Europäische Union, Globalisierung und Vereinte Nationen.
























 



Politik? — nein danke!

In den anderen Abschnitten dieses Online-Lehrbuchs hat in unserer "Fernsehfamilie" immer alles reibungslos funktioniert. Vielleicht hat den einen oder die andere dieses Bild schon lange gestört, weil sie oder er das Gefühl hat, dass es von der Realität abweicht. Für solche Abweichungen gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten. Entweder entsprechen die Regeln in der Familie nicht unserem Idealbild oder die Familienmitglieder halten sich nicht an die Regeln.

Ein Beispiel für die erste Möglichkeit wäre es, wenn ein Familienmitglied mit den Batterien für die Fernbedienung so viel Macht erhält, dass es sich von den restlichen Familienmitgliedern distanziert und deren Programmwünsche nicht mehr ernst nimmt. Ein weiteres Beispiel wäre die Vergabe der Fernbedienung an ein Familienmitglied auf unbegrenzte Zeit. In beiden Fällen wird das grundlegende demokratische Prinzip der Gewaltenteilung verletzt, das wir aus dem Abschnitt zum demokratischen Staat kennen, und den Familienmitgliedern fehlen die Kontrollmöglichkeiten über den Besitzer der Fernbedienung.

Auch für die zweite Möglichkeit gibt es genügend Beispiele. So wäre es ein Verstoß gegen die ungeschriebenen Regeln, wenn sich der Besitzer der Fernbedienung, z.B. die Tochter, nach ihrer Wahl nicht an das abgemachte Fernsehprogramm hält, sondern gegen den Willen der Mehrheit der Familie ihr Lieblingsprogramm einschaltet oder das Lieblingsprogramm des Vaters wählt, weil dieser sie mit einem Stück Kuchen bestochen hat.

Um diese Probleme, mit denen sich jede Demokratie auseinandersetzen muss, geht es in diesem Abschnitt. Ähnlich wie in unserer Familie ist es auch im demokratischen Staat. Das Idealbild geht von einer gut funktionierenden Beziehung zwischen Wählern und Gewählten aus. Eine Beziehung, die auf Wechselwirkungen basiert, so dass beide Gruppen aufeinander angewiesen sind. Aber hier gibt es ebenso Abweichungen vom Idealbild. Gelegentlich tritt der Fall ein, dass sich die Gewählten nicht an die Gesetze oder die Abmachungen halten. Dadurch werden die Erwartungen der Wähler an die Gewählten enttäuscht. Bei den Wählern entsteht dann das Gefühl, dass sie keinen Einfluss auf die Gewählten und dadurch keinen Einfluss auf die Politik haben.

Ebenso erwecken die Politiker, die sich nicht an die Regeln halten, die sich bestechen lassen, die nur zu ihrem eigenen Vorteil und nicht im Sinne der Wähler handeln, das Misstrauen der Bevölkerung (manche Menschen halten sogar alle Politiker für Verbrecher). So kann es passieren, dass Teile der Bevölkerung sich nicht mehr für Politik interessieren, nicht mehr wählen gehen und sich auch sonst nicht politisch engagieren. In solchen Fällen ist von Politikverdrossenheit die Rede. Demokratie ist aber auf die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger angewiesen, wenn sie befriedigend funktionieren soll.

In unserer Familie würde das bedeuten, dass ein oder mehrere Familienmitglieder sich nicht an der Wahl des Fernsehprogramms und der Vergabe der Batterien für die Fernbedienung beteiligen. Ist der Anteil der Politikverdrossenen und der Nichtwähler in der Bevölkerung sehr hoch, stellt das ein Problem für den Besitzer der Fernbedienung bzw. den gewählten Politiker dar, da dieser Teil der Bevölkerung die Herrschaft bzw. die Politik des Gewählten nicht mitträgt und seine Legitimation dadurch sinkt. Wenn zu wenige Batterien im Umlauf sind, funktioniert gewissermaßen die Fernbedienung nicht ordentlich.

Es ergeben sich aber nicht nur Probleme für die Gewählten, sondern auch für die, die sich nicht beteiligen. Sie können nicht mitbestimmen. Sie verzichten auf ihr Recht, über das Programm mitzuentscheiden. Das führt sicherlich nicht dazu, dass sie zufriedener werden. Kurz gesagt: Die Institutionen und Regeln in einer Demokratie müssen so beschaffen sein, dass die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger dauerhaft nicht nur ermöglicht sondern erleichtert wird. Und die Bürgerinnen und Bürger selbst müssen diese Möglichkeiten nutzen. Das kann ihnen keine noch so raffinierte Konstruktion der Demokratie abnehmen.


Zukunft der Demokratie

Weltweiter Sieg der liberalen Demokratie?

Im März 1985 wurde Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt und leitete alsbald eine Reformpolitik mit dem Ziel ein, die Sowjetunion aus wirtschaftlicher Krise und Stagnation herauszuführen. Nicht um die Übernahme westlicher Demokratievorstellungen ging es ihm, sondern die Sowjetunion sollte durch Reformen (Perestroika) und Durchschaubarkeit der Entscheidungen (Glasnost) fit gemacht werden für die Anforderungen der Gegenwart und Zukunft.

Die rasch verlaufende Entwicklung führte — gewiss ungewollt — zum Zusammenbruch der Systeme des "real existierenden Sozialismus" und scheinbar zum weltweiten Sieg der liberalen Demokratie.

Angesichts diesen Triumphes ist der warnende Hinweis angebracht, dass es erhebliche Anfechtungen der Demokratie gegeben hat und auch sicher in Zukunft geben wird.

Demokratie im 20. Jahrhundert — Gefährdungen und Erfolge

Die folgende kurze geschichtliche Übersicht möge die bewegte Geschichte der Demokratie im 20. Jahrhundert, ihre Gefährdungen und ihre Erfolge, vergegenwärtigen.


 

 

 

Hintergrund: Mehrheitsprinzip

 

Demokratie basiert auf Mehrheits-entscheidungen. Sie sind das wichtigste Instrument zur friedlichen Konfliktlösung. Aber wie die folgenden Texte zeigen, kann das Mehrheitsprinzip keine absolute Geltung beanspruchen. Es ist an Voraussetzungen gebunden (Text 2) und weist durchaus auch problematische Seiten auf (Text 1).

1. Probleme des Mehrheitsprinzips

Der Mehrheitswille wird nur dort dauerhaft als Gemeinwille akzeptiert, wo für die jeweils überstimmte Minderheit nicht zuviel auf dem Spiel steht — und wo es nicht immer dieselben sind, die überstimmt werden.

(...) Die Mehrheit darf keineswegs über alles und nach Belieben entscheiden. Der Verfahrenskonsens erfordert eine Verständigung darüber, auf welche Entscheidungsbereiche das Mehrheitsprinzip überhaupt Anwendung finden kann und auf welche nicht.

(...) Vor allem aber dürfen aktuelle Mehrheiten ihre einmal erreichte politische Überlegenheit nicht festschreiben, etwa indem sie für zukünftige Entscheidungen das Mehrheitsprinzip selbst suspendieren, oder aber durch Manipulation der Wettbewerbschancen es der Minderheit von heute über Gebühr erschweren, die Mehrheit von morgen zu werden.

Eng verbunden mit dem Erfordernis der strukturellen Offenheit des Verfahrens verbunden ist die Grundvoraussetzung der Korrigierbarkeit bzw. Revidierbarkeit von Entscheidungen durch neue Mehrheiten.

(...) Wir stehen heute jedoch in vielen politisch mit zu entscheidenden Fortschrittsfeldern, wie beispielsweise im Bereich der Kernenergie, der Genbeeinflussung, (...) der Waffentechnologie vor politischen Entscheidungen eines historisch neuen Typs. Die hier zu treffenden Entscheidungen sind infolge ihrer historisch unvergleichlichen Reichweite von vornherein auf Seiten der Überstimmten mit dem Bewusstsein der Irreversibilität befrachtet. Jedermann weiß, dass gegen Kernkraftwerke, wenn sie erst mal stehen, ‚neue Mehrheiten‘ nichts mehr nützen.

(...) Das Mehrheitsprinzip arbeitet mit einer ‚Fiktion‘, der Fiktion abstrakter (Teilhabe-) Rechtsgleichheit: ‚one man, one vote‘. Die Stimmen werden gezählt, nicht gewogen. Die ideale Voraussetzung wäre, dass jede Stimme auch etwa gleich wöge, dass in etwa die gleiche Sachkenntnis, das gleiche Engagement, die gleiche Verantwortlichkeit jeweils dahinterstünde. Dass dies ein frommer Wunsch bleibt, leuchtet unmittelbar ein — zumal unter den Bedingungen hochgradiger Interdependenz und wachsender Komplexität.

Je mehr der Staat und die Politik für alles zuständig werden, um so häufiger treffen wir auf die Konstellation, dass apathische, schlecht informierte und mangels ersichtlicher persönlicher Betroffenheit auch völlig desinteressierte Mehrheiten engagierten, sachkundigen und hochgradig betroffenen Minderheiten gegenüberstehen.

[aus: Bernd Guggenberger/Claus Offe: An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984]

2. Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips

Demokratische Herrschaft beruht nicht auf Unterwerfung, sondern auf Auftrag. Die Regierenden werden durch die Regierten ins Amt gebracht, sie sind rechenschaftspflichtig und haben ihre Autorität durch die am Auftrag zu messende und im Rahmen der allgemein verbindlichen Normen zu erbringende Leistung auszuweisen.

Kennzeichnend für die demokratische Verfahrensweise sind der Kompromiss und die ihm zugrundeliegenden Prämissen — der Kompromiss, der von sich aus friedensfördernd ist, weil er zur Abschleifung gegensätzlicher und unversöhnlicher Positionen führt.

Auftragserteilung in der allgemeinen Wahl durch Mehrheitsentscheidung bedeutet, dass sich die Minderheit nur deswegen und nur unter der Voraussetzung einordnet, dass die jeweilige Mehrheit nicht berechtigt ist, der Minderheit die Chance zu nehmen, selbst Mehrheit zu werden.

Folglich muss Willensbildung auf den Prinzipien legitimer Vielfalt und nichtdiskriminierender Konkurrenz beruhen; sie muss auch kontroversen und oppositionellen Meinungen die Wettbewerbs- und Mitwirkungschance gewährleisten, was sich im Fortbestand öffentlicher Kritik- und Meinungsfreiheit sowie in der Garantie politisch wichtiger Grundrechtsbereiche ausdrückt.

Die Legitimität der Mehrheitsentscheidung folgt also nicht aus sich selbst, sondern aus der vorausgesetzten politischen Gleichberechtigung aller Staatsbürger.

[aus: Heinrich Oberreuter: Wahrheit statt Mehrheit? An den Grenzen der parlamentarischen Demokratie, München 1986]

 

 



immer mehr Demokratien







Gründe für die Überlegenheit der Demokratie






dynamische Stabilität


Um 1930 etablierten sich überall in Europa autoritäre Systeme, Demokratie und Liberalismus schienen abgewirtschaftet zu haben. Nach 1945 setzte eine demokratische Renaissance ein, der auch verbliebene autoritäre Systeme wie in Spanien, Portugal und Griechenland auf die Dauer nicht widerstehen konnten. Angefochten wurde die liberale Demokratie westlicher Prägung allerdings von der sozialistischen Demokratie des Ostblocks, die ab 1968 zunehmend im Westen Anhänger gewann. Mit dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch fast aller Ordnungen des "real existierenden Sozialismus" scheint der Siegeszug des westlichen Demokratiemodells über konkurrierende Systeme vollendet zu sein.

Wie konnte es soweit kommen, dass die scheinbar labilen liberalen Demokratien sich gegenüber den scheinbar stabilen revolutionär-totalitären (Mussolini, Hitler, Stalin) oder bürokratisch-totalitären (Breschnew, Ulbricht/Honecker) und autoritären (Spanien, Portugal, Griechenland) so gründlich durchsetzen konnten, dass dort die liberale Demokratie als vorbildlich erkannt und übernommen wurde? Alexander Jakowlew, einer der führenden Reformer in der ehemaligen Sowjetunion, begründete die Überlegenheit der Demokratie in dreifacher Weise:

  • Ihr Ziel ist die Erneuerung des politischen Systems, um den Lebensstandard zu heben und soziale Sicherheit zu gewährleisten. Die Erstarrung der politischen Ordnung gilt es zu vermeiden und die Funktionsfähigkeit und die internationale Konkurrenzfähigkeit zu verbessern.

  • Die Methode, dies Ziel zu erreichen, liegt im Parteienpluralismus, der die Flexibilität des Systems gewährleisten soll.

  • Die Rechtfertigung der Umgestaltung besteht in der dynamischen Stabilität eines für Veränderungen offenen demokratischen Systems.

Die Genugtuung über den Triumph einer oft herabgesetzten und manchmal überwunden geglaubten Form der Ordnung darf nicht von der Tatsache ablenken, dass nichts endgültig ist. Veränderungen können sich, wie das Schicksal der Demokratie im 20. Jahrhundert beweist, auch negativ auswirken.




Wahlsieg der islamischen Heilsfront











Bürgerbeteiligung und Expertenmacht








Misstrauen gegenüber den Bürgerinnen


Das Beispiel Algerien

Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Demokratie in Algerien, wo am 26. Dezember 1991 Parlamentswahlen mit einem Sieg der islamischen Heilsfront endeten. Deren erklärtes Ziel war die Abschaffung aller Ansätze westlicher Demokratie zugunsten eines islamischen Gottesstaates. Diese Entwicklung wurde durch das Eingreifen des Militärs verhindert, das die Wahlsieger verhaftete und auf diese Weise mit undemokratischen Mitteln den "Souverän", das Wahlvolk, daran hinderte, auf demokratischem Weg die Demokratie durch ein totalitäres System zu ersetzen.

Gewiss handelt es sich hierbei um ein problematisches Vorgehen, dessen Rechtfertigung in der historischen Erfahrung liegt, dass freiheitliche Grundwerte nicht zur Disposition des Wählers stehen dürfen. (...) Zugleich beweist das algerische Beispiel, wie sehr soziale Sicherheit Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie ist.

Demokratie und Expertokratie

Nach wie vor ringen in den westlichen demokratischen Ordnungen zwei gegenläufige Tendenzen miteinander: Auf der einen Seite die demokratische Tendenz: Der Wille zur Mitbestimmung und Beteiligung aller im Prinzip gleichen Staatsbürger; auf der anderen Seite eine oligarchische Tendenz. Die Kompliziertheit des politisch gesellschaftlichen Gefüges erfordert Experten, Sachverständige, die auf eng begrenzten Gebieten Entscheidungen vorbereiten und treffen.

Mit den Massenorganisationen und den politischen Parteien entwickelte sich eine Form der Demokratie, in der Mitbestimmung und "Expertokratie" vereinigt wurden. Die Parteien wurden ein unentbehrliches Werkzeug, um das sich selbst organisierende Volk aktionsfähig zu machen. Der Volkswille kann nur in den Parteien als den politischen Handlungseinheiten erscheinen (...).

Es ist eine Tatsache, dass in Demokratien auch Minderheiten den politischen Prozess in Gang setzen und betreiben. Die Kritik richtet sich dagegen, dass im parlamentarisch-repräsentativen, von politischen Parteien getragenen System ein Misstrauen der Gewählten gegenüber dem Souverän, dem Volk, herrscht. Diese Tatsache findet ihre Erklärung in der Ausweitung der Staatstätigkeit und der zunehmenden Kompliziertheit und Unüberschaubarkeit der Gesellschaft. Das Gefühl, von politischen Vorgängen nicht betroffen oder ihnen hilflos ausgeliefert zu sein, führt zu politischer Apathie. So stehen der passiven Mehrheit informierte und sachverständige Experten gegenüber, die jedoch nur geringen Kontakt zu den Betroffenen haben. Infolgedessen kommt es bei Teilen der Bevölkerung zu Reaktionen, die von Unverständnis über Verweigerung bis hin zur offenen Auflehnung und Gewaltanwendung reichen. Dass diese Entwicklung zu einer Gefahr für den in einer Demokratie notwendigen Konsens führt, liegt auf der Hand.





Krisenbewusstsein statt Fortschrittsoptimismus







weltweite Gefahren


Krisensymptome der Gegenwart

Weltweite Veränderungen hängen damit zusammen. Wir leben in einer Zeit laufender Wandlungen und der Umwertung von Werten. Die gärenden Widersprüche der Zeit äußern sich in einem allgemeinen Krisenbewusstsein, das eine Gegenwartsdiagnose nötig macht. Die Antwort auf die Frage, woher wir kommen, wo wir stehen und wohin wir gehen, ist in der Krise der Werte und Maßstäbe nicht selbstverständlich, sondern muss mühsam gesucht werden. Die Krise des Staatsbewusstseins und des Rechtsstaates ist eingebettet in ein globales Krisenbewusstsein unserer Tage. Der Fortschrittsoptimismus der sechziger und frühen siebziger Jahre ist abgelöst worden durch einen weltweiten Pessimismus. Im einzelnen handelt es sich um Befürchtungen:

  • Vor extremistischer Staats- und Gesellschaftsgefährdung.

  • Vor dem Versagen ökonomischer Effizienz, Aufbrauchen der Ressourcen der Erde, was zum Ende des Wohlstandes und der sozialen Sicherheit führt. Die Bedrohungen durch eine weltweite Völkerwanderung aus Gebieten wirtschaftlicher Not in die reichen Staaten des industrialisierten Nordens und Westens gehören dazu.

  • Vor Krieg und Rüstungswettlauf. Der Zerfall der Weltordnung von Jalta und Potsdam bringt das Ende eines fast 50jährigen relativ stabilen internationalen Systems. Große weltpolitische Bruchlinien wie der Ost-West- und der Nord-Süd-Konflikt gehen über in zahllose begrenzte, aber gerade deswegen unüberschaubare explosive Krisenherde.

  • Vor einer ökologischen Katastrophe.

  • Vor dem Zerfall der Moral. Kriminalität und Terror ereignen sich nicht nur, sie werden als Widerstand moralisch gerechtfertigt.

  • Demokratie und Rechtsstaat werden infolge dessen als gefährdet angesehen.




Gefahr: unkontrollierte Herrschaft





Rechtsstaat und Demokratie untrennbar verbunden





Mehrheit muss Institutionen akzeptieren



Rechtsstaat und Demokratie sind untrennbar

(...) Jedem Staatsbürger muss deutlich werden, warum wir heute eigentlich für die Bewahrung der parlamentarischen, repräsentativen Demokratie eintreten. Aufgrund der historischen Erfahrungen muss deutlich sein, dass der Rechtsstaat heute ohne Demokratie nicht denkbar ist. Die Komplexität der Gesellschaft erfordert öffentliche Kontrolle, weil andernfalls eine unkontrollierte Herrschaft, eine diktaturähnliche Machtausübung eintritt. Heute muss das nicht einmal die Herrschaft eines einzelnen Diktators, sondern kann die Herrschaft einer unkontrollierten Expertokratie oder — was weitaus schlimmer wäre — die Herrschaft einer uninformierten, emotionalen, manipulierten Masse bedeuten. Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts war es durchaus denkbar, dass Rechtsstaatlichkeit auch ohne Demokratie möglich ist. Heute sind Rechtsstaat und Demokratie untrennbar verbunden. Der weltanschauliche Pluralismus muss sich frei äußern können, der Staat hat weltanschaulich neutral zu sein. Jede weltanschauliche Gebundenheit bedeutet Unterdrückung der Andersdenkenden(...).

Mit dieser Überlegung schließt sich der Kreis in unserer Demokratie-Betrachtung (...). Die Gefahr geht nicht nur von einem Diktator aus, sondern auch eine auf Leidenschaft und Mangel an Vernunft beruhende Tyrannei der Mehrheit ist gefährlich und schädlich. Ein Mittel dagegen ist in den institutionellen Sicherungen einer repräsentativen Demokratie zu suchen, in der sich verschiedene Gewalten gegenseitig kontrollieren, und eine funktionierende Rechtsordnung Unvernunft und Leidenschaften bändigt. Nötig ist nur, dass diese Institutionen von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden, dass die Gewählten sich nicht von ihren Wählern entfernen (...). Eine vorsichtig dosierte Beteiligung der Bevölkerung, um die "Zuschauerdemokratie" und unkontrollierte Ausbrüche von Unzufriedenheit zu vermeiden und das Gefühl der Verantwortung fürs Ganze zu stärken, kann einen Weg für die notwendige Weiterentwicklung der Demokratie und ihre Anpassung an die Erfordernisse der Zeit darstellen.

[Hans-Helmuth Knütter; aus: Bundeszentrale für politische Bildung: Demokratie, Informationen zur politischen Bildung Nr. 165, Neudruck 1992]



 



Der folgende Textauszug von Ludger Kühnhardt diskutiert die Perspektiven der Demokratie im 21. Jahrhundert ausgehend von den Thesen von Tocqueville und Bryce. Dabei kommt das Problem der Mediendemokratie ebenso zur Sprache wie die Probleme der "konkurrenzlosen" Demokratie nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Alternative.





Spekulation als Selbstvergewisserung








Alexis de Tocqueville

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Individualismus








Gefahr: Diktatur neuen Typs



Die Zukunft der Demokratisierung

Spekulationen über die Zukunft des demokratischen Verfassungsstaates können der Selbstvergewisserung über dessen gegenwärtige Situation dienen. Sie können eine Schneise durch das Dickicht der Möglichkeiten weisen, die vor jeder Weiterentwicklung der Geschichte liegen. Zugleich bilden sie einen Referenzpunkt, um sich in die Zukunft hinein aufzumachen, eine Art Geländer, an dem sich orientieren kann, wer der Zukunft entgegenarbeitet (...).

Alexis de Tocqueville

Den ersten neuzeitlichen Maßstab für die spekulative Auseinandersetzung mit einer ebenso großen wie komplizierten Idee hat im 19. Jahrhundert Alexis de Tocqueville gesetzt. Sein Werk über die Demokratie in Amerika war mehr als eine Analyse der Neuen Welt, die den konservativen Europäer während seiner Reise dorthin in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts ebenso faszinierte wie skeptisch stimmte. In Amerika meinte de Tocqueville ein Bild der reinen Demokratie gesehen zu haben, welches sich in der kommenden Zeit auch in den Staaten Europas einstellen werde. Er sah demokratische Jahrhunderte voraus und in ihnen viele jener Ambivalenzen, die in der Tat Wirklichkeit werden sollten.

De Tocqueville beschrieb das Wesen der Demokratie nicht aus den Strukturen der Verfassungsordnung oder den Prozeduren in den politischen Institutionen heraus, sondern von seinen anthropologischen Prämissen her. Das Bild, das der Mensch sich von sich selbst macht, sei konstitutive Grundlage des demokratischen Zeitalters. Der Mensch strebe in dieser Epoche mit Leidenschaft nach Freiheit und suche zugleich die Anerkennung durch die Gleichheit mit den anderen.

Die Sitten, die in der Antike als "mores" bezeichnet worden waren, seien es, die die Seele der Demokratie ausmachen: Die Seele der Demokratie sei so gut oder so schlecht wie die Sitten der Bürger in ihr und den demokratischen Prinzipien gegenüber. Wo jeder sich gleich frei und in dieser Freiheit einzig und egalitär zugleich fühlen wolle, ergreife ein eigentümlicher Mechanismus Besitz vom Einzelnen und von jedem demokratisierten Volk. Misstrauen wachse untereinander, und gleichzeitig nehme eine Tendenz zu, sich der öffentlichen Meinung — oder dem, was sich als solche darzustellen wisse — zu unterwerfen. So mache sich ein Konformitätsdruck breit, der dem Ideal eines freien Menschentums mehr und mehr entgegenwirke. Aus dem Antrieb der Freiheit erwachse die Unterwerfung unter die Gesetze der Gleichheit mit einem "ungeheuren Druck der Massenseele auf den Einzelgeist".

Der Sinn für Bürgertugenden und für den Auftrag politischer Institutionen schwinde, zugleich nehme die "Neigung zum Wohlergehen" zu, die immer offensichtlicher zu Saturiertheitserscheinungen führe. Während die Vorfahren nur den Egoismus kannten, verbreite sich in der egalitären Demokratie ein neues Phänomen: der Individualismus (...).

Die Menschen seien im Großen und Ganzen nicht egoistischer als in früheren Zeiten. Aber die Auswirkungen der demokratischen Mentalität bewirkten eine verschärfte Anpassung an seine Bedingungen und Ausdrucksformen: Die Gesellschaft bewege sich immer mehr, um immer weniger wirklich voranzukommen. Der Ehrbegriff republikanischer Bürgertugenden schwinde zugunsten eines individualistischen Glücksstrebens.

Nicht weniger weit- und hellsichtig mutet es aus der Retrospektive des späten 20. Jahrhunderts an, welche politische Gefährdung de Tocqueville für die egalitäre Massendemokratie voraussah: eine Diktatur neuen Typus, die er mangels eines präzisen Begriffs als Despotismus bezeichnete und die heute präzise als Totalitarismus benannt werden kann. Die Anfälligkeit der entwurzelten, individualisierten Massengesellschaft für eine Wahrheitsdiktatur, die mit den Mechanismen des kollektiven Zwanges egalitäre Konformität in Gesinnungskontrolle umzuwandeln vermag, ist uns heute wohlbekannt und musste von vielen Menschen während des 20. Jahrhunderts schmerzhaft erlitten werden (...).






James Bryce

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James Bryce

Drei Generationen nach Alexis de Tocqueville und schon unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges griff James Bryce zur Feder, um über die Zukunft der Demokratie aus den Erfahrungsschätzen eines langen wissenschaftlichen und politischen Lebens heraus zu reflektieren. Der amerikanische Präsident Wilson wollte die Nachkriegswelt "sicher für die Demokratie" machen. Nach dem Ende des mehrjährigen Waffenganges waren die monarchischen Imperien Deutschlands, Österreich-Ungarns, Russlands und — faktisch — des Osmanischen Reiches eingestürzt. Die Demokratie schien einem unaufhaltsamen Siegeszug entgegenzustreben. In dieser Situation schrieb Bryce seine Gedanken über die Lage der demokratischen Verfassungsstaaten und die Zukunft der Demokratie (...).

Bryce war illusionslos in Bezug auf alle heute eher modischen Ideen partizipatorischer Demokratie. Das Prinzip der Volkssouveränität bezog er im klassischen Sinne der englischen Vorstellungen von Repräsentation und Herrschaftskontrolle nicht auf die unmittelbare Gestaltung der Politik eines Gemeinwesens. Vielmehr wusste er mit guten Gründen Abstand zu halten von der Illusion, dass eine reine Demokratie möglich sein könnte: Demokratie sei zwar keine Herrschaft "durch das Volk, wohl aber für das Volk. Das Volk erklärt als das Ziel der Herrschaft das Wohlergehen der ganzen Gemeinschaft und nicht eines bevorzugten Teiles. Es überlässt die Mittel zur Erreichung dieses Ziels den Mitbürgern, die für diesen Zweck gewillt sind. Es beobachtet diese erwählten Bürger, um sicher zu sein, dass jene mit der ihnen anvertrauten Autorität keinen Missbrauch treiben." Bryce wies — wie auch schon de Tocqueville — auf die entscheidende Bedeutung der freien Presse, der veröffentlichten Meinung hin. Der Empiriker der Demokratie setzte seine Hoffnungen auf die Kontrollkraft der Medien.







Wer kontrolliert die Medien?


Mediendemokratie

Längst sind die Medien zu einer voll etablierten Macht in den demokratischen Verfassungsstaaten geworden, ohne zumeist in den Verfassungen selbst überhaupt thematisiert zu werden. Vielfach kontrollieren sie nicht nur die Regierungen als Stimme des Volkes, sondern beeinflussen die Tagesordnung der Politik und beteiligen sich an den Meinungsfindungsprozessen, die zu politischen Entscheidungen führen. Damit stellt sich in den Demokratien des späten 20. Jahrhunderts — anders als es de Tocqueville und Bryce bewusst sein konnte — die Frage danach, wer die Kontrolleure kontrolliert, das heißt die Frage nach der verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Stellung der Medien, ihren Rechten und Pflichten, ihrem Auftrag und ihrer Verantwortung. Die Medienthematik ist zu einer zentralen Problematik der heutigen Demokratie geworden; sie bezieht sich beispielsweise auf das innere Ethos der Medien, aber auch auf die Effekte der Medien in Hinsicht auf den Kurs politischer Diskussionen und die Handlungsfähigkeit der politischen Institutionen unter medial inszeniertem Zeitdruck.

Mit Blick auf die Bedeutung der freien Medien bei der Vermittlung und Verstärkung der demokratischen Erhebungen von 1989 ist ihnen vielerorts Bewunderung und Respekt gezollt worden. Das revolutionäre Sturm- und Epochenjahr 1989 war auch das Jahr der Medien, allen voran der elektronischen Medien. Diese Erfahrungen vermögen aber nicht die weit verbreitete, wenngleich oftmals diffuse Kritik an Rolle, Macht und Anmaßung der Medien in den westlichen Verfassungsstaaten zu überdecken, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg der Massenmedien, zumal von Hörfunk und vor allem Fernsehen, sprunghaft verbreitet hat (...).



















Demokratie: kritische Selbstreflexion


Zukunft der Demokratisierung

Damit sind wir bei der Frage nach der Zukunft der Demokratisierung angelangt. Ihr Referenzpunkt sind einerseits die Zustände und Zusammenhänge in den real existierenden westlichen Demokratien. Andererseits sind es die Hoffnungen und Ängste, die Aufbruchsstimmungen und Grenzerfahrungen, die in der Freiheitsrevolution von 1989 in jenen Ländern zum Ausdruck kamen, die über Jahrzehnte unter totalitären und spättotalitären Regimen hatten existieren müssen.

Aber ist der Totalitarismus, der das politische Gesicht des 20. Jahrhunderts in seinen linken wie rechten Variationen so gewalterfüllt und wirkungsmächtig durchdrungen und zerrüttet hat, ein für alle Mal ersetzt worden durch einen immerwährenden und universell anerkannten demokratischen Konsens? Im Blick auf verschiedene posttotalitäre Länder kommen wenige Jahre nach "1989" noch immer oder schon wieder Zweifel auf. Und auch in der Welt des alten Westens ist am Ausgang des 20. Jahrhunderts weniger klar als noch zu Zeiten der totalitären Bedrohungen, was die Demokratien eigentlich zusammenhält und wie sie es mit ihren inneren Defiziten halten, damit sie zukunftsfähig bleiben können.

In mancherlei Hinsicht sind die äußerlich durchaus stabilen Demokratien des Westens von jenen Phänomenen und jener Mentalität eingeholt worden, die Alexis de Tocqueville sorgenvoll als unausweichlich hat heraufziehen sehen. Und hat nicht auch James Bryce mit der Prognose Recht behalten, dass den Demokratien der "geistige Sauerstoff" fehle, von dem sie zwingenderweise leben, wenn sich mehr und mehr Bürger von der politischen Mitverantwortung zurückziehen und den Berufspolitikern das Feld der Res Publica überlassen — in dem diese dann schließlich nurmehr durch verbale Unmutsäußerungen und aufgebrachte Aktivisten herausgefordert werden?

Seit den Tagen der antiken Demokratietheorie sind zwei Fragen grundlegend für jede Betrachtung über die Zukunft der Demokratie im jeweils sich wandelnden zeitlichen und sachlichen Kontext geblieben:

  • Unterliegt die Demokratie — und wenn ja: wie — einem Zyklenvorgang? Ist sie also Ausdruck aufsteigender gesellschaftlicher und politischer Linien, um schließlich infolge innerer Erschöpfung und einer Verwandlung in Form und Inhalt so sehr ihren Charakter zu verändern, dass sie nurmehr vordergründig als "Demokratie" beschrieben werden kann bzw. alsbald Platz machen muss für andere, wahrscheinlich eher oligarchische Konzeptionen der Organisation von Politik und Herrschaft in einem Gemeinwesen?

  • Von welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen her leben die Institutionen und Prozeduren der rechtsstaatlich gezähmten Demokratie? Welchen Beitrag leistet die pluralistisch verfasste Bürgergesellschaft zur Aufrechterhaltung eines geistig-moralischen Grundkonsenses, den es stets zu erneuern und zu aktivieren gilt, damit der Pluralismus nicht in selbstzerstörerischen Relativismus umschlägt?

Die konkurrenzlose Demokratie?

Am Ende des 20. Jahrhunderts haben diese Fragen nichts von ihrer Bedeutung verloren. Eher sind sie wieder schärfer hervorgetreten, seitdem die totalitären Ordnungsalternativen zerstört sind. In den Demokratien muss wieder der Sinn des Diktums neu gelernt werden, das Aristoteles zugeschrieben wird — dass nämlich das Gute aus sich selbst heraus definiert werden muss. Wie wir wissen, ist gerade dies besonders schwierig.

Die optimistische, fortschrittsgewisse Perspektive in Bezug auf die Zukunft der Demokratisierung ist nicht verstummt. Von der "demokratischen Weltrevolution" hat Martin Kriele schon vor dem Fall der Mauer in Berlin und der Politbüros an den verschiedensten Orten der Welt gesprochen und dies mit Blick auf Immanuel Kants kategorischen Aufklärungsidealismus und die moralische Wucht des Menschenrechtsgedankens begründet. Als die sozialistische Ordnungsalternative endlich zerbrochen war, wusste Francis Fukuyama sogar das "Ende der Geschichte" zu verkünden, und zwar mit Rückgriff auf Hegel und seine geschichtsspekulative Theorie von einem unaufhaltsamen und permanenten Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Längst ist allseits anerkannt, dass trotz der Anrufung deutscher Großdenker der Lauf der Welt einen komplexeren, eigentümlichen Verlauf nimmt.

Inzwischen haben sich die Gemüter abgeklärt. Zur geistigen Signatur der posttotalitären Zeit ist das Ende vieler gewohnter Fortschrittsgewissheiten geworden. Neue Zweifel am Triumphzug der Demokratie haben sich eingestellt: Theoretisch sind ihre inneren Widersprüche offensichtlicher geworden, praktisch scheint sich ihre Verwirklichung keineswegs weltumfassend und unvermeidlich einzustellen. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ergibt sich aus dieser Lage vor allem die Notwendigkeit, einen abgeklärten, realistischen Sinn für die Verwirklichungs- und Erhaltungsbedingungen der Demokratie zu gewinnen (...).

Selbstkritische Demokratie

Die Zukunft der Demokratisierung wird vor dem Hintergrund dieser Bedingungen und Zusammenhänge von den jeweiligen Konstellationen abhängen, die von Land zu Land, von Region zu Region, von Kulturkreis zu Kulturkreis voneinander abweichen. Die Vielfalt der Entwicklungen reflektiert die Vielfalt der Ausgangspositionen. Nach einem Jahrhundert totalitärer Verführungen und barbarischer Abstürze ist dieser Befund einer prinzipiell offenen, vielschichtigen Zukunft wohl das Beste, was zu Beginn des 21. Jahrhunderts gesagt werden kann. Chancen stehen allerorten neben Ungewissheiten. Im Westen selbst aber, der Wiege der modernen Demokratie, hat sich ein neuer Sinn für die nüchterne und auch selbstkritische Reflexion der Demokratiefrage ausgebreitet. Dazu gehört es vor allem zu fragen,

  • ob die Demokratie wirklich so widerspruchsfrei ist, wie gemeinhin angenommen und ob sie in den westlichen Ländern auf die Dauer regenerationsfähig bleiben wird;

  • ob die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen in den postkommunistischen Transformationsländern stark genug sind — wobei zumeist vor allem an Russland gedacht wird —, damit dort dauerhaft eine stabile Entwicklung der rechtsstaatlichen Demokratie möglich wird, ohne einen Absturz in neoautoritäre Regime fürchten zu müssen;

  • ob aus den Konflikten zwischen einheimischen traditionellen Vorstellungen der verschiedensten Art und dem westlichen Verständnis vom Menschen, vom Gemeinwesen und vom Staat ein Ausgleich möglich sein kann, der sicherstellt, dass in den außerwestlichen Regionen der Erde zumindest die wichtigsten Grundelemente der Demokratie — Anerkennung der Menschenwürde und der elementaren Rechte des Einzelnen, kontrollierte und gewaltengeteilte Herrschaftsformen — verwirklicht werden und dort, wo dies, wie etwa in Japan oder Indien, gelungen ist, aufrechterhalten bleiben können?





große Debatte über die Demokratie










Was ist das Ziel?





Demokratismus statt lebendige Demokratie





Erstarrt die selbstverständlich gewordene Demokratie?



Notwendigkeit einer Demokratiedebatte

Im Westen selbst ist eine neue große Debatte über die Demokratie, die Grundlagen und Voraussetzungen, ihre Möglichkeiten und Grenzen notwendig geworden. Die Zukunft der Demokratisierung hängt dabei vor allem davon ab, welcher Konsens über welche Konzeption der Demokratie heute hergestellt werden kann. Gängige Demokratietheorien schwanken zwischen dem klassischen Ansatz repräsentativer Demokratie, in dem die Idee der politischen Handlungsfähigkeit eine zentrale Rolle spielt, und dem idealistischen Ansatz der partizipatorischen Demokratie, bei dem die Idee vorherrscht, eine egalitäre Mitwirkung über den Radius der politischen Institutionen hinaus auf möglichst viele Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens auszudehnen. Im Angesicht dieser Optionen wird unter den Bedingungen des pluralistischen Wettbewerbs immer neu nach Konsens gesucht werden müssen. Jede Suche nach Demokratiekonsens aber wird an zwei elementaren Fragen nicht vorbeikommen:

  • Welches Menschenbild liegt dem politischen Bemühen in der Demokratie zugrunde, das heißt, worin gründen Rechte und Pflichten des Einzelnen im politischen und gesellschaftlichen Zusammenleben?

  • Welche Ziele sollen in einer demokratischen Ordnung angestrebt werden, das heißt, wozu dient das politische und gesellschaftliche Zusammenleben, worauf zielt es ab?

Über beide Fragen besteht in den heutigen demokratischen Staaten des Westens nurmehr in engen Grenzen Konsens. Er muss aber, wenn nötig in Form der Austragung von Interessen- und Meinungskonflikten, wieder neu definiert und verbreitert werden. Ansonsten wird sich die Demokratie nahezu unvermeidlich immer mehr in einen konturenlosen Demokratismus verwandeln. Dies wäre die unglücklichste Folge, die aus dem Triumph der Demokratie über die großen totalitären Ersatzreligionen des 20. Jahrhunderts erwachsen könnte.

Im Westen ist die Demokratie am weitesten fortgeschritten und so selbstverständlich geworden, dass die Frage nach ihren Erhaltungsbedingungen nur ungern gehört wird. Gerade im Westen aber muss die Diskussion über die Zukunft der Demokratie auf dieses Thema hin konzentriert werden. Sonst könnten Übertreibungen das Wesentliche der Demokratie verzerren und Sinnentleerungen das Bewahrenswerte und Schutzbedürftige aushöhlen. Im Konflikt über diese Fragestellungen wird neuer Demokratiekonsens im Westen wachsen müssen. Andere Regionen der Welt werden sich in ihren Erörterungen über die Zukunft der Demokratisierung jedenfalls daran orientieren, wie der Westen in Zukunft die Demokratie zu leben und zu erklären vermag. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muss man feststellen: Viele der eher skeptischen Zukunftsprognosen von James Bryce und Alexis de Tocqueville haben die Gegenwart der Demokratie vor ihrer neuen Zukunft längst eingeholt.

[aus: Ludger Kühnhardt, Die Zukunft der Demokratisierung, in: Karl Kaiser/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Weltpolitik im neuen Jahrhundert (Bundeszentrale für politische Bildung 364) Bonn 2000, 233-242]











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