Inhaltsverzeichnis
Online-Lehrbuch Demokratie:
Einleitung
Was ist Demokratie?
Entwicklung
Staat
Gesellschaft
Verbände
Parteien
Medien
Probleme
|
Demokratische Gesellschaft:
Verbände
[Autor: Dr. Ragnar Müller,
Mail an den Autor]
Der folgende Text von Waldemar Besson und Gotthard Jasper
widmet sich der Rolle von Verbänden im politischen System. Welche
Aufgaben erfüllen sie? Warum braucht eine Demokratie Verbände als
Mittlerinstanz zwischen den Bürgerinnen und den
Entscheidungsträgern? Welche Probleme können durch die
Interessenorganisation entstehen?
Wichtig ist zu sehen, dass die Verbände als Teil des intermediären
Systems mit den anderen Teilen dieses Systems eng verflochten sind.
Um ihre Interessen wirkungsvoll zu artikulieren, sind sie auf die
Medien angewiesen. Die Beeinflussung der
öffentlichen Meinung zählt zu den wirkungsvollsten Instrumenten,
über die Verbände verfügen.
Eng verflochten sind sie auch mit den
Parteien. Verbandsmitglieder können auch Mitglied in einer
Partei sein. Oft stehen einzelne Verbände bestimmten Parteien nahe.
Und natürlich sind Parteien auch ein wichtiger Adressat von
Verbänden, wenn sie versuchen, den von ihnen vertretenen Interessen
im Entscheidungsprozess Gehör zu verschaffen.
Die Verbände im politischen
System
[Häufig] wird der große Einfluss der Interessenverbände negativ
bewertet. Man spricht oft von der »Herrschaft der Verbände«, die die
Obrigkeit vom geraden Weg des Dienstes an den »staatspolitischen
Notwendigkeiten« abbringe und an der Ausrichtung der Politik am
Gemeinwohl hindere. Aber dieses Gemeinwohl ist, wie schon
festgestellt wurde, keine von vornherein fixierte Größe, und die
gerade die Macht ausübende Regierung kann, soll die Freiheit der
Bürger nicht ein leeres Wort sein, nicht einfach von sich aus
definieren, was das gemeine Beste erfordere. Alle Gruppen der
Gesellschaft - Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Erzeuger und
Verbraucher, Land- und Stadtbewohner, Hausbesitzer und Mieter (...)
- müssen ihre Auffassung über die richtige und gute Politik frei
vertreten können, damit ein Ausgleich zwischen den verschiedenen
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Kräften
entsteht, der sich allerdings an den Grundwerten einer
menschenwürdigen und freiheitlichen Sozialordnung messen lassen
muss.
Der Kompromiss zwischen den
verschiedenen Interessen eines Volkes kann aber nicht ohne die
Mitwirkung organisierter Gruppen gefunden werden, in denen sich die
Interessen verdichtet haben. Wer die aktive Teilnahme der Bürger am
demokratischen Staat über das Wählen - und allenfalls
Leserbriefe-Schreiben - hinaus fordert, der darf ihnen nicht
verwehren, die Formen zu suchen, in denen ihre Beteiligung am
politischen Geschehen auch wirksam werden kann. Das aber bedeutet
unter den Bedingungen der hochkomplexen modernen Gesellschaft, dass
der einzelne sich mit Gleichgesinnten und Gleichinteressierten
zusammenschließen muss, um sich in der Konkurrenz der Interessen
durchsetzen zu können.
So stellen die Verbände eine
Vertretung der Bürger dar, die in ihrem Namen zu bestimmten Zwecken
sprechen können. Die Verbände sind gleichsam der verlängerte
politische Arm der einzelnen, durch den diese ihren Wünschen
Nachdruck verleihen und mit dessen Hilfe sie sich gegen die
Übermacht des Staates oder anderer organisierter Gruppen wehren
können. Ähnliches gilt von den Bürgerinitiativen, die - meist lokal
begrenzt und auf ein konkretes Ziel ausgerichtet - die Betroffenen
organisieren und gegenüber den Instanzen der Politik und Verwaltung
vertreten.
Die Verbände richten ihre
Wünsche und Forderungen zumeist an die Regierungen und Parlamente.
Doch das empfinden diese nicht immer nur als lästigen Druck, sondern
nicht selten auch als Unterstützung. Bei der gewaltigen Ausdehnung
und Kompliziertheit moderner Gesetzgebung sind heute die Vertreter
der betroffenen Interessenverbände nicht selten die einzigen
wirklichen Experten. Man kann sich ihres Sachwissens bedienen, auch
ohne allen ihren Forderungen nachgeben zu müssen. Durch die
Mitarbeit der Betroffenen in der Vorbereitung der staatlichen
Entscheidungen werden Staat und Gesellschaft integriert, und es
entspricht natürlich auch einer Regierung für das Volk, dass die von
den geplanten Maßnahmen betroffenen Bürger durch ihre
Interessenvertretung zuvor gehört worden sind.
Dieses Anhören der Verbände
findet in den verschiedensten Formen statt und ist nicht selten
durch Geschäftsordnungsbestimmungen von Regierungen und Parlamenten
vorgeschrieben. Interessenvertreter versuchen, wo immer sie können,
für ihre Gesichtspunkte zu werben und diese zur Geltung zu bringen.
Man nennt sie zuweilen etwas abschätzig Lobbyisten. Darunter
versteht man im ursprünglichen Wortsinne denjenigen, der in der
Vorhalle des Parlaments, der Lobby, die Abgeordneten durch direkte
Gespräche zu beeinflussen sucht. Heute haben sich die Formen dieser
Einflussnahme sehr ausgeweitet. Nicht selten haben die großen
Interessenverbände ihre Vertreter direkt in den Parlamentsfraktionen
sitzen. |
Verbandsvertreter im Parlament
unterschiedliche Organisations- und Konfliktfähigkeit von Interessen |
Jedes Parlament unserer Tage kennt
seine Bauerngruppen oder seinen Gewerkschaftsflügel oder die Fraktionen
der Beamten und der Bürgermeister, die quer durch die verschiedenen
parteipolitischen Gruppierungen hindurch gehen. Solche Verbandsvertreter
sind häufig die wichtigsten Experten ihrer Parteien für die jeweiligen
Sachgebiete und meist auch von erheblichem Einfluss auf die
Willensbildung der Fraktion. Mit ihrem Sachwissen und ihren
Informationsquellen, die ihnen durch den Verbandsapparat zur Verfügung
gestellt werden, sind sie in der Lage, die Experten von Regierung und
Parlament zu kontrollieren. Der einzelne Abgeordnete kann schon mangels
entsprechender Kenntnisse meist nicht der Widerpart der
Ministerialbürokratie sein. Hier kann der Verband mit seinem Apparat
einspringen. Nicht selten wird die staatliche Verwaltung von der
Verwaltung der Verbände kontrolliert, wenn Parlament und Parteien dazu
nicht mehr in der Lage sind.
Aus alle dem kann die Notwendigkeit
von Interessenverbänden und ihrer politischen Aktivität in der
pluralistischen Demokratie nicht bezweifelt werden. Doch darf dies nicht
zu einer Verharmlosung der organisierten Egoismen der Gesellschaft
führen. Denn in der Macht der Verbände liegen auch Gefahren. Zum großen
Teil stammen sie aus der oft sehr mangelhaft ausgebildeten Demokratie
innerhalb der Verbände und dem Mangel an Kontrolle der Führungsgruppen
und des Apparats der Verbände durch die Mitgliedschaft. Ferner suchen
sich die Verbände gerne der Öffentlichkeit zu entziehen. Ihre Tätigkeit
bleibt deshalb nicht selten unsichtbar, was es anders gerichteten
Interessen schwerer macht, rechtzeitig ihr Gegengewicht ins Spiel zu
bringen.
Noch bedenklicher aber ist es, wenn
einzelne, besonders große Verbände einen übermäßigen Einfluss erringen.
Sie gewinnen politische Macht, indem sie eine oder mehrere politische
Parteien dazu zwingen, ihre Wünsche bevorzugt zu befriedigen. Wer über
zahlreiche Wählerstimmen verfügt oder sich durch finanzielle Zuwendungen
für die Partei unentbehrlich gemacht hat, wird eher berücksichtigt als
andere. Das kann dazu führen, dass einzelne Verbände am
gesamtgesellschaftlichen Kompromiss weit stärker beteiligt werden, als
weniger organisierte oder kleinere Interessen, die aber gerade in einer
Demokratie ebenfalls Anspruch auf Berücksichtigung haben. |
Parteien als wichtiges Korrektiv |
Die natürliche Vielfalt der
Interessen wird es zwar in der Regel verhindern, dass ein einziger
Verband sich gegen alle anderen durchzusetzen vermag. Dazu ist auch der
Konkurrenzkampf unter den Interessen viel zu groß. Aber es kann doch
leicht eine Situation entstehen, in der lebenswichtige Interessen, die
für das gesamte Volk von Bedeutung sind, unter die Räder kommen, nur
weil sie sich nicht durchsetzungsfähig organisieren lassen oder nicht
wirkungsvoll organisiert sind. Die relative Machtlosigkeit etwa der
Verbraucher- und Umweltverbände zeigt diese Gefahr deutlich. Je
allgemeiner ein Interesse ist, um so schwerer lässt es sich
organisieren. Wir werden zwar alle alt, aber die Organisation der Alten
ist (...) wenig durchschlagskräftig.
Einer lediglich am sozialen
Ausgleich orientierten Gesellschaft wird es ferner schwer fallen,
grundlegende Reformen durchzusetzen. Die organisierten Interessen zielen
ja in der Regel nur darauf ab, den Anteil ihrer Angehörigen am
Sozialprodukt zu erhalten oder prozentual zu verbessern. Gerade die
mächtigsten Interessenorganisationen sind oft ausgesprochen defensiv, da
naturgemäß diejenigen Gruppen, die in ihrem sozialen Status bedroht
sind, weil sie durch die wirtschaftliche Entwicklung in besondere
Schwierigkeiten geraten, sich am leichtesten organisieren lassen. Solche
Verbände versuchen dann, die einmal erreichten Positionen zu zementieren
und notwendige Reformen, die meist schmerzhaft sind, zu hintertreiben.
Die großen Interessenorganisationen (...) haben so regelrechte
Veto-Positionen inne und können die Politiker nicht selten an
durchgreifenden Änderungen hindern.
So ist die pluralistische
Gesellschaft in erster Linie an der Erhaltung des sozialen Status quo
interessiert und zu ihr auch fähig. Will das Gemeinwesen freilich den
großen Herausforderungen der Zukunft etwa im Bereich der Erhaltung
unserer natürlichen Lebensgrundlagen begegnen, muss es mehr sein als
eine Gesellschaft organisierter Interessen. Es ist dann vor allem die
Aufgabe der politischen Führung, die miteinander kollidierenden
Interessen zu einem Kompromiss zu zwingen und darüber hinaus dem
Gemeinwesen Ziele zu setzen und die Interessen an diese zu binden, um so
kühn und beherzt den Weg in die Zukunft zu beschreiten. Das aber setzt
voraus, dass sich die politische Führung auch gegen mächtige Interessen
in der Gesellschaft durchzusetzen vermag, was ihr nur möglich ist, wenn
sie sich auf ein funktionierendes Parteiensystem stützen kann.
[aus: Waldemar Besson/Gotthard
Jasper, Das Leitbild der modernen Demokratie. Bauelemente einer
freiheitlichen Staatsordnung, BpB Bonn 1990] |
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stellt für praktische alle Themen rund um Politik und Gesellschaft eine
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Thema dieser Seite ausgewählt:
Lexikonartikel: "Interessengruppen"; aus: Andersen,
Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der
Bundesrepublik Deutschland. 5., aktual. Aufl. Opladen: Leske+Budrich
2003. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2003.
Interessenverbände; aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5.
überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn: Bundeszentrale für
politische Bildung 2009, S. 54-55.
Peter Lösche: Mittler zwischen Gesellschaft und Politik; aus:
Informationen zur politischen Bildung, Heft 283: Politisches System der
USA, Bonn 2008.
Lobbying und Politikberatung - Aus Politik und Zeitgeschichte
19/2010.
Verbände und Lobbyismus - Aus Politik und Zeitgeschichte 15-16/2006.
Korporatismus - Verbände - Aus Politik und Zeitgeschichte
26-27/2000.
Steffen Schmidt: Mitgliedschaft und Aktivitäten in Parteien und
Verbänden; Dossier: Lange Wege der Deutschen Einheit, 2011.
Uwe Jun: Wandel des Parteien- und Verbändesystems; aus: Aus Politik
und Zeitgeschichte 28/2009. |
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