Hintergrund

 

Demokratie
Buchauszug

Das antike "Staatsverständnis"

Nach heutigem Sprachgebrauch lässt sich der Begriff "politische Ideen" wohl auch mit "Staatsdenken" oder "Gedanken über den Staat" wiedergeben. Eine solche Erklärung, die "politisch" mit "staatlich" gleichsetzt, wäre für die Antike zu eng. Sie hat weder den abstrakten Begriff "Staat" noch seinen uns geläufigen Inhalt gekannt — und nur der Einfachheit halber wenden wir das aus dem lateinischen status = Stand, Zustand kommende Wort auf antike Verhältnisse an. An den Eigenbezeichnungen, mit denen die antiken Staaten nach außen auftraten, ist abzulesen, dass der antike "Staat" in viel stärkerem Maße als personale Gemeinschaft empfunden wurde: Der athenische Staat waren "die Athener", der spartanische (ladedaimonische) Staat "die Lakedaimonier", und der römische Staat war "das römische Volk" (populus Romanus). Der athenische Historiker Thukydides ließ 413 v. Chr. seinen Landsmann Nikias als Feldherrn zu athenischen Truppen sprechen: "Ein Staat, das sind seine Männer" (7,77,7). Für Cicero waren der Staat (res publica = die öffentliche Sache) und "die Sache des Volkes" identisch (De re publica 1,39). Und noch Augustin tröstete 410 n. Chr. die Christen, nachdem die Ewige Stadt von den Goten erobert worden war: Rom (d.h. der römische Staat, nicht nur die Stadt), was ist das anderes als die Römer? (Sermo 81,9).

[Seitenanfang]

Der personale Charakter des Staates war von der Machtverteilung und den Entscheidungskompetenzen im Innern unabhängig. Er galt für die athenische Demokratie wie für die spartanische Aristokratie, und er änderte sich auch in Rom mit dem Übergang von der Republik zur Kaiserzeit offiziell nicht. In den traditionellen Monarchien der griechischen Welt erschienen aus dem gleichen Grund die Könige nie mit dem Königstitel; König Philipp von Makedonien war einfach "Philipp, Sohn des Amyntas". Nur nichtgriechische Herrscher wiesen sich durch den Königstitel aus und verrieten dadurch in den Augen der Griechen, dass es bei ihnen neben der Alleinherrschaft keine eigentliche staatliche Gemeinschaft gab; erst unter persischem Einfluss nahmen später auch die hellenistischen Könige den Königstitel an.

Das Staatliche einer solchen Personengemeinschaft bestand darin, dass sie ihren Mitgliedern eine Rechtsordnung im Innern und Schutz nach außen bot; zugleich stellte sie eine religiöse Einheit dar. Die (fiktive) gemeinsame Abstammung, die Institutionen oder das Territorium waren keine konstituierenden Bestandteile der Staatlichkeit. Die staatliche Gemeinschaft war für sich als Ganzes wie für den einzelnen Bürger ein Zweckverband. Die antiken Theorien zur Staatenbildung hoben daher stets den Nutzen als eine der Ursachen oder die einzige Ursache staatlicher Zusammenschlüsse hervor, und Aristoteles eröffnete seine Politik mit der Feststellung: "Da wir sehen, dass jeder Staat eine Gemeinschaft ist und jede Gemeinschaft um eines Gutes willen entstanden ist..." (...).

[Seitenanfang]

Das politische Denken der Antike befasste sich in erster Linie mit den Regeln des Zusammenlebens innerhalb der staatlichen Gemeinschaft, und es hatte daher im Gegensatz zu heute mehr mit Recht, Moral und Religion zu tun als mit "Politik", Regierung und Ämtern. Die Regeln bildeten die ungeschriebene Verfassung, und das Nachdenken über sie war nie bloße Analyse politischer und gesellschaftlicher Zustände; selbst speziellere Untersuchungen boten keine "reine Wissenschaft". Ausgesprochen oder unausgesprochen ging es um Kritik an bestehenden Verhältnissen, was innerhalb des personalen Staatsverbandes Kritik am Verhalten seiner Mitglieder bedeutete. Ziel war es, die Verhältnisse zu reformieren, und das konnte nach antiker Auffassung nur heißen, die Moral der Mitglieder zu bessern (...).

Kritik und Reform als Wesenszüge der politischen Ideenwelt besagen, dass deren einzelne Äußerungen in engem Zusammenhang mit ihrer jeweiligen historischen Situation standen und ohne sie im Grunde nicht zu verstehen sind.

[Klaus Rosen; entnommen aus: Hans Fenske u.a., Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 1987]

[Seitenanfang]

 

horizontal rule

News    II    Produkte    II    Unterrichtsmaterial

Themen: Web 2.0  I  Menschenrechte  I  Vorbilder  I  Update: Demokratie  I  Parteien  I  Europa  I  Globalisierung  I  Vereinte Nationen  I  Nachhaltigkeit

Methoden:    Politikdidaktik    II    Friedenspädagogik    II    Methoden
 

     


Dieses Onlineangebot zur politischen Bildung wurde von agora-wissen entwickelt, der Stuttgarter Gesellschaft für Wissensvermittlung über neue Medien und politische Bildung (GbR). Bei Fragen oder Anmerkungen wenden Sie sich bitte an uns. Trägerorganisation des Bildungsprogramms D@dalos ist der Verein Pharos Stuttgart/Sarajevo.