Grundlagen

 

Demokratie
Buchauszug

Grundlagen der neuzeitlichen politischen Philosophie

Der folgende Text arbeitet die zentralen Grundlagen und Elemente der politischen Philosophie der Neuzeit heraus. Was hat sich geändert mit dem Beginn der Neuzeit? Welche Denkfiguren sind hinzugekommen? Welches Weltbild liegt der Neuzeit zugrunde?

Übersicht:

Vom Kosmos zur Baustelle

Das Gedankenexperiment vom Naturzustand

Cogito ergo sum: Philosophie der Subjektivität

Gesellschaftsvertrag

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Vom Kosmos zur Baustelle

Aristoteles hat die politische Philosophie als eigenständige Disziplin begründet. Seine Grundlegung hat schulbildende Kraft entfaltet, deren Fortwirken bis in die Gegenwart zu beobachten ist. Viele der aristotelischen Begriffe kehren auch in der Neuzeit wieder. Dennoch darf man nicht übersehen, dass die politische Philosophie der Neuzeit einen entscheidenden Wandel in der Grundlegung vollzogen hat. Dabei verändert sich auch die Bedeutung des Politischen.

Der Mensch ist für Aristoteles von Natur aus ein politisches Lebewesen; denn das beste Werk menschlichen Handels ist die polis, der Staat. Das Wesen des Menschen liest Aristoteles am vollkommenen Werk des menschlichen Wirkens ab. Dieses Werk ist der Endzweck menschlichen Strebens, dasjenige, worumwillen der Mensch existiert. Aristoteles bestimmt das menschliche Handeln von seinem Ende her. Er fragt nicht: Was vermag der Mensch zu leisten? Wo liegen die Grenzen seines Leistungsvermögens? Seine Frage ist vielmehr: Welches Werk ist dem Menschen kraft seiner Natur vorgegeben? Welche Bedingungen fördern oder behindern das Erreichen dieses Endzwecks? Aristoteles geht also vom vorgegebenen Werk als Ziel des Handelns aus. Hieraus leitet er die menschlichen Vermögen her, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlich sind.

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Das entgegengesetzte Verfahren geht von einer Analyse der menschlichen Vermögen aus, um dann hieraus das Ziel, das erstrebenswert und erreichbar erscheint, abzuleiten. Im ersten Fall werden vom vorausgesetzten Werk her die gebotenen Leistungen erschlossen; im zweiten Fall werden die menschlichen Vermögen in ihren Möglichkeiten ausgemessen, nicht um sie auf ein spezifisches Werk festzulegen, sondern um den Umkreis, die Grenzen des Machbaren abzustecken. Das Wesen des Menschen bestimmt sich dann nicht mehr aus dem Werk, das er kraft seiner Natur vollbringt, denn auf ein spezifisches Werk lässt er sich gar nicht festlegen. Es bestimmt sich vielmehr aus den Möglichkeiten, die realisierbar sind; sie sind abzugrenzen gegen das Unmögliche, das unerreichbar bleibt.

Die erste Frage unterstellt, dass die Welt ein wohlgeordnetes Haus ist, in dem alles in der Welt Vorfindliche seinen natürlichen Platz findet. Dieser natürliche Ort ist ihm vorgegeben durch sein Werk, das es kraft seines Wesens vollbringt. Dies ist in der Tat die aristotelische Konzeption vom Kosmos.

Die zweite Frage dagegen geht davon aus, dass menschliches Vermögen sich an kein spezifisches Werk binden lässt; dieses ist immer endlich und kann deshalb überschritten, verbessert, erweitert werden. Die Welt ist dann kein fertiges, in sich vollendetes Haus, sondern eine Baustelle, auf der beständig gearbeitet wird, und zwar nicht allein an der Vollendung, sondern vor allem an der beständigen Verbesserung des Projekts. Die Grenzen dieses Arbeitens sind in der Endlichkeit der menschlichen Fähigkeiten und in der Gesetzmäßigkeit des Baumaterials zu suchen. Innerhalb dieser Grenzen sind ein beständiger Fortschritt und ständige Verbesserungen möglich. Dem Bauherrn geht es wie dem Eroberer, der sich im Feindesland bewegt: Jede neue Grenze, die er siegend erreicht, ist für ihn nur Schranke seines Tuns, Aufforderung, sie kämpfend zu überschreiten — die Grundeinstellung der neuzeitlichen Philosophie. Für Aristoteles ist der Grundaffekt, der zum Philosophieren Anlass gibt, das Staunen, die Verwunderung über die gute und schöne Ordnung der Welt. In der Neuzeit aber ist es der Zweifel an den eigenen Fähigkeiten des Menschen, um deren Möglichkeiten und Grenzen auszuloten, damit sie zu immer größerer Entfaltung gebracht werden können.

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Cogito ergo sum: Philosophie der Subjektivität

René Descartes (1596-1650) hat als erster die neuzeitliche Begründungsweise der Philosophie dargestellt, und zwar in seinen "Meditationen über die Erste Philosophie" (1641).

(...) Alles vorhandene menschliche Wissen muss daher einer kritischen Prüfung unterworfen werden. Die Methode dieses Prüfens ist der Zweifel, das Infragestellen des Anspruchs gegebenen Wissens, gewiss und wahr zu sein. Was aber ist das Fundament der Gewissheit und Wahrheit menschlichen Wissens? Auf diese Frage sucht Descartes eine Antwort.

(...) Nur ein Fall sei vorgeführt. Wenn ich etwa behaupte, der Kreis sei viereckig, so kann ich mit gutem Grund den Wahrheitsgehalt dieser Aussage bezweifeln. Was aber in dieser Aussage selbst nicht unsinnig sein kann, ist die Tatsache, dass ich selbst es bin, der diese Behauptung aufgestellt hat. Das Ich, das Aussagen macht, gleichviel ob diese wahr oder falsch sein mögen, ist der Ursprung und Grund allen Aussagens und damit auch von Gewissheit und Ungewissheit, Wahr und Falsch. Damit ist der Grund, das unerschütterliche Fundament alles Wissens entdeckt: die Selbstgewissheit des denkenden Ichs. Diese Selbstgewissheit des sich als denkendes Wesen wissenden Ichs ist — so Descartes — schlechterdings unbezweifelbar; denn sie ist der Boden, die Bedingung der Möglichkeit allen Zweifels. Das "Ich denke, also bin ich" (cogito, ergo sum) ist das Prinzip allen menschlichen Wissens und damit auch der Philosophie.

Die Methode der neuen Grundlegung der Philosophie ist die Rückwendung des Menschen auf sich selbst, die Ausmessung der eigenen Leistungsfähigkeit, um hieraus die Grenzen zwischen dem Erreichbaren und dem Unerreichbaren zu ziehen, ein Vorgehen, das Reflexion, Zurückwendung auf sich selbst heißt.

Das Ich, das sich als denkendes Wesen weiß, liegt allem Wissen zugrunde. Ein solches erstes Zugrundeliegendes heißt lateinisch sub-iectum. Die neuzeitliche Philosophie, welche von dem Ich als dem Zugrundeliegenden ausgeht, nennt man daher zu Recht: Philosophie der Subjektivität.

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Das Gedankenexperiment vom Naturzustand

(...) Bei Descartes steht die theoretische Philosophie, die Metaphysik, im Mittelpunkt. Die neue Begründungsform im Geist der Philosophie der Subjektivität betrifft auch die praktische Philosophie. Aus dem Menschen als Ich, das sich selbst reflektiert im Hinblick auf sein Leistungsvermögen, muss auch die praktische und die politische Philosophie begründet werden.

(...) Die politische Philosophie der Subjektivität geht auf den Menschen zurück und fragt, was ihn nötigt, sein Zusammenleben mit anderen Menschen staatlich zu regeln. Sie beantwortet diese Frage in einem Gedankenexperiment. Von allem, was der Mensch dem staatlichen Zusammenleben verdankt, sieht sie ab und versetzt ihn in einen Zustand ohne Staat, in einen Naturzustand. In ihm verhält sich der Mensch frei von allen staatlichen Beschränkungen und Zwängen; er zeigt hier sein eigentliches Wesen, das Streben nach Selbsterhaltung. Als sich selbst erhaltende Wesen sind alle Menschen einander gleich. Im Unterschied zu Aristoteles, der eine natürliche Ungleichheit der Menschen annimmt und Gleichheit nur unter Bürgern desselben Staats bestehen lässt, unterstellt die Neuzeit, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind; die Tatsache, dass die Individuen mit körperlichen und geistigen Kräften nicht in demselben Maß ausgestattet sind, ändert nichts an der prinzipiellen Gleichheit der Lebenssituation, am Streben nach Selbsterhaltung. Wenn aber alle Menschen ohne jegliche Beschränkung nach der Sicherung und Optimierung ihrer Selbsterhaltung streben, so treibt diese fessellose Konkurrenz in einen Zustand völliger Unsicherheit und Gefahr. Sie sehen sich genötigt, dieses Streben in wechselseitige Grenzen zu bannen, um einen Zustand der Sicherheit und des Friedens herzustellen: den staatlichen Zustand.

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Ausgangspunkt der Ableitung des Staats bildet also eine Wesensbestimmung des Menschen, wobei die Selbsterhaltung im Mittelpunkt steht. Je nachdem, ob der Mensch pessimistisch als ein aggressives oder optimistisch als ein eher geselliges Wesen eingeschätzt wird, fällt die Konzeption des Staats aus. In jedem Fall aber muss der Staat die Einhaltung der einmal eingegangenen Übereinkünfte durchsetzen, und sei es mit physischer Gewalt. Eine pessimistische Anthropologie baut auf einen Staat, der mit allumfassender Gewalt ausgestattet ist. Eine optimistische Anthropologie hingegen setzt auf das Vertrauen der Bürger zum Staat, der sie gerecht regiert, so dass nur ein Minimum an Staat für geboten erachtet wird.

Die politische Philosophie der Subjektivität geht aus von einer Wesensbestimmung des Menschen, von einer politischen Anthropologie. Aus ihr wird die Notwendigkeit des Staats als Garant der Sicherheit der Selbsterhaltung, als Garant der Friedlichkeit des Zusammenlebens der Menschen begründet, wobei der Grad der Ausstattung des Staats mit Macht direkt von den anthropologischen Grundannahmen abhängt.

Hatte Aristoteles das gute Leben der Menschen als Zweck des Staats bestimmt, so ist in der Neuzeit das Ziel des Zusammenlebens der Menschen in staatlich organisierter Form die Sicherung der individuellen Selbsterhaltung, die Sicherung des Friedens. Diese Friedenssicherung ist der fundamentale Legitimationsgrund des Staats in der Neuzeit: zunächst die Sicherung des Friedens im Inneren, während die Sicherung des Friedens nach außen nur bedingt in die Kompetenz des einzelnen Staats fällt.

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Gesellschaftsvertrag

Wie aber wird der Übergang vom Naturzustand in den Staatszustand bewerkstelligt? Die einhellige Antwort der neuzeitlichen politischen Philosophie lautet: durch Abschluss eines Vertrages. In diesem Vertrag wird die unumschränkte Freiheit der Selbsterhaltung des einzelnen eingeschränkt, und zwar so, dass die individuelle Freiheit aller friedlich zusammen bestehen kann. Jeder verzichtet auf sein schrankenloses Recht, akzeptiert Einschränkungen und erhält dadurch Sicherheit sowie Friedlichkeit des Zusammenlebens. Jeder Mensch hat ein Naturrecht auf Selbsterhaltung. Dieses Recht kann nicht aufgehoben werden; denn das würde die Vernichtung der Existenz bedeuten. Es kann aber eingeschränkt werden, so dass die unveräußerlichen Rechte aller Menschen nebeneinander bestehen können. Diese Einschränkungen werden kodifiziert in Gesetzen. Es gibt von Natur aus ein unveräußerliches Recht der Menschen, es gibt aber kein Naturgesetz; denn das Gesetz, die Einschränkung der Freiheit, geht auf freie und gleiche Übereinkunft zurück, kurz — auf einen Vertrag.

Im Naturzustand strebt jeder nach optimaler Sicherung seiner Selbsterhaltung, was zu Konflikten zwischen den Beteiligten führt, weil jeder nur seine eigene Sache vertritt. Die Beteiligten können unmittelbar ihre Interessenkonflikte nicht schlichten. Deshalb sehen sie sich genötigt, sich auf folgendes zu einigen:

erstens auf die allgemeinen Regeln der Schlichtung, auf Gesetze;

zweitens auf eine interessenneutrale Instanz, die in der Lage ist, einen interessenneutralen Schiedsspruch zu fällen, der den streitenden Seiten Rechnung trägt.

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In der Neuzeit wird der Ursprung des Staats nach diesem Richtermodell gedacht: Der Staat wird als eine neutrale Gewalt eingerichtet, die Konflikte schlichtet und so den Frieden im Zusammenleben garantiert. Zwei Bedingungen sind also vonnöten: Es bedarf zum einen der Herrschaft des Gesetzes; zum andern muss die Herrschaft des Gesetzes Institution werden in Gestalt der Monopolisierung des Rechts auf Anwendung physischer Gewalt. Dieser Institution fällt die Aufgabe zu, die Durchsetzung des Richterspruchs nach Gesetzen zu garantieren; dazu bedarf es der Gewaltmittel. Die neuzeitliche Konstruktion des Staats muss daher eine Rechtskonstruktion sein: Politische Philosophie wird Rechtslehre, der legitime, mit Vernunftgründen gerechtfertigte Staat ist Rechtsstaat.

Die Gründung des Staats durch Vertrag fußt auf zwei rechtlichen Akten. Im Naturzustand herrscht ein soziales Chaos, das keinerlei ordnender Regel unterworfen ist. Die Menschen müssen sich deshalb einigen, dass sie in einer Gemeinschaft leben wollen, die durch Gesetze geregelt ist. Es muss also ein Vereinigungsvertrag (pactum unionis) zustande kommen, wodurch die Menschen sich zu einem politischen Körper vereinigen. Dies reicht jedoch noch nicht aus. Es muss noch eine staatliche Gewalt eingerichtet werden, die über die Einhaltung der beschlossenen Regeln oder Gesetze wacht und dies auch durchzusetzen vermag. Dem Vereinigungsvertrag muss noch ein Unterwerfungsvertrag (pactum subiectionis) folgen und diesen ergänzen. Es ist nun schwer, das Verhältnis beider Verträge zu fassen, und in der Geschichte der politischen Philosophie der Neuzeit sind sehr heterogene Lösungsmodelle entworfen worden, wobei die Konstruktionen zwischen der Betonung der Unterwerfung und der Einigung schwanken, zwischen einem eher autoritären und einem eher demokratischen Staatsmodell.

[entnommen aus: Eberhard Braun/Felix Heine/Uwe Opolka, Politische Philosophie. Ein Lesebuch. Texte, Analysen, Kommentare, Reinbek 1984]

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