Wahlrecht

 

Demokratie

Mehrheits- und Verhältniswahlrecht

Der folgende Text beleuchtet die beiden grundsätzlichen Varianten des Wahlrechts, nennt die jeweiligen Vor- und Nachteile und beschäftigt sich mit den Folgen, die das Wahlrecht für das politische System mit sich bringt.

Einleitung

Verhältniswahl: Vor- und Nachteile

Mehrheitswahl: Vor- und Nachteile

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Buchauszug

Wahlrecht und Demokratie

Einleitung

(...) Bei der praktischen Durchführung von Wahlen haben sich zwei grundlegend verschiedene Systeme, Mehrheitswahl und Verhältniswahl, herausgebildet. Selten werden diese jedoch rein angewandt, häufig (...) mischt man sie. Die politische Struktur eines Landes und der Prozess der politischen Willensbildung können entscheidend durch die Ausgestaltung des Wahlrechtes beeinflusst werden, da sowohl die innerparteiliche Ordnung wie auch das Verhältnis der Parteien zueinander und die Beziehungen von Regierung und Parlament vom Wahlrecht abhängig sind. Andererseits gilt auch, dass bestimmte politische Traditionen, historische Situationen und gesellschaftliche Bedingungen nur bestimmte Wahlsysteme zulassen. Man kann nicht jedes Wahlsystem in einem Land beliebig einführen. Wer am Wahlrecht manipuliert, ohne die konkret gegebene politische und soziale Struktur zu berücksichtigen, riskiert, dass die Wahlen ihre Hauptfunktion verlieren; wenn das Wahlrecht nicht von der Bevölkerung akzeptiert und als gerecht anerkannt wird, wird auch die Herrschaft derjenigen, die von der Mehrheit gewählt sind, von der Minderheit nicht mehr als rechtmäßig anerkannt und hingenommen.

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Verhältniswahl: Vor- und Nachteile

Wie sehr politischer Stil und politische Struktur eines Gemeinwesens von der Ausgestaltung des Wahlrechts beeinflusst werden, zeigt eine kurze Betrachtung der hauptsächlichen Unterschiede. Die Verhältniswahl beruht auf dem Prinzip, dass die Sitze im Parlament genau in dem gleichen Verhältnis verteilt werden, wie die Stimmen der Wähler sich auf die Parteien im ganzen Wahlgebiet verteilt haben. Erringt eine Partei zehn Prozent der Stimmen, erhält sie auch zehn Prozent der Mandate. Das Parlament wird so zu einer politischen Fotografie der Meinungsströmungen in der Wählerschaft. Jede Minderheit und jede politisch-programmatische Richtung ist vertreten und kann im Parlament ihre Stimme zu Gehör bringen. Auch erlaubt das Verhältniswahlrecht relativ leicht, neue Parteien erfolgreich zu gründen, weil es für ihre Vertretung schon genügt, wenn sie in allen Wahlkreisen nur einige Stimmen gewinnen, da diese dann, im Gesamtgebiet zusammengerechnet, doch vielleicht ein Prozent ausmachen und so der neuen Partei einige Abgeordnetensitze im Parlament verschaffen. Der Anreiz, neue Parteien zu bilden, bringt ohne Zweifel ein belebendes Element mit sich, begünstigt freilich auch das Entstehen von Splitterparteien und eng begrenzten Interessengruppen. Dem Verhältniswahlrecht entspricht deshalb oft ein in viele Fraktionen zergliedertes Parlament, aus dem labile Koalitionsregierungen hervorgehen mit all ihren bekannten Führungsschwächen und Krisen.

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Der Wähler kann mit seiner Stimme die Regierungsbildung kaum beeinflussen, weil sich die Parteien in der Regel im Wahlkampf nicht auf eine bestimmte Koalition festlegen. Da zudem Erfolge der Regierung jeder Koalitionspartner bei sich verbucht, Misserfolge jedoch dem Partner zuschiebt, wird es dem Wähler schwer gemacht, im Positiven wie im Negativen die Verantwortlichen zu erkennen. Die Parlamentskandidaten werden beim Verhältniswahlrecht von den Landes- oder Bezirksparteitagen und nicht von den lokalen Parteigremien aufgestellt, was im Zweifelsfall den Parteivorständen stärkere Einwirkungsmöglichkeiten gibt. Der Wähler hat dann nicht einen einzelnen Kandidaten zu wählen, sondern seine Stimme der Liste der einzelnen Parteien, auf der deren Kandidaten in bestimmter Reihenfolge aufgezeichnet sind, zu geben. Das bedeutet, dass der einzelne Wähler nicht einen bestimmten Wahlkreisabgeordneten hat, erlaubt aber den Parteien, bei der Aufstellung der Liste alle wesentlichen Gruppen der Partei und der angesprochenen Wählerschichten zu berücksichtigen. Das wiederum ermöglicht den Interessenverbänden über die Zusage, die Partei zu unterstützen, ihre Leute auf die Kandidatenliste zu bringen.

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Mehrheitswahl: Vor- und Nachteile

Im Gegensatz zur Verhältniswahl wird bei Mehrheitswahl das gesamte Wahlgebiet in so viele Wahlkreise aufgeteilt, wie Sitze im Parlament zu vergeben sind. Als gewählt gilt, wer in den einzelnen Wahlkreisen entweder die absolute oder die relative Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt hat. Das gelingt in der Regel nur den Bewerbern, die sich auf große oder regional verankerte Parteien stützen können. Diese wiederum müssen es vermeiden, bloß einzelne Interessen zu vertreten. Sie müssen für möglichst große und viele Gruppen der Bevölkerung attraktiv erscheinen, damit überhaupt eine Mehrheit entstehen kann. Das Mehrheitswahlrecht zwingt darum in der Regel die Parteien, in ihrem Programm und praktischen Verhalten sich zu mäßigen und die Extreme zu meiden.

Historisch gesehen hängen Mehrheitswahl und Zweiparteiensystem aufs engste zusammen. Das Mehrheitswahlrecht kann zwar ein Zweiparteiensystem nicht erzeugen, vermag es aber zu erhalten und zu sichern. Der Wähler entscheidet unter solchen Bedingungen in der Wahl zwischen zwei verschiedenen Regierungsprogrammen und Regierungsmannschaften. Die Parlamentswahl bekommt die Tendenz, zur Regierungswahl zu werden. Die siegreiche Regierungsmannschaft kann sich dann in der Regel auf eine stabile parlamentarische Mehrheit ihrer Partei stützen. Dem Wähler wiederum wird es dadurch leicht gemacht, bei der nächsten Wahl die Regierung zur Verantwortung zu ziehen, weil bei klaren Mehrheitsverhältnissen der politische Erfolg oder Misserfolg eindeutig festgelegt werden kann und etwaige Rückschläge sich nicht auf die Koalitionspartner abschieben lassen. Der Einfluss des Wählers auf die Regierungsbildung und die mögliche Führungskraft einer auf die absolute Mehrheit gestützten Regierung sind die Vorzüge eines durch das Mehrheitswahlrecht stabilisierten Zweiparteiensystems. Außerdem schafft das Mehrheitswahlrecht eine relativ enge Verzahnung zwischen Parlament und Wahlkreis, verankert die Abgeordneten gewissermaßen in einem bestimmten Gebiet und verhindert so eine allzu weite Distanz zwischen Wähler und Gewähltem. Zugleich gewinnt bei der Kandidatenaufstellung die untere lokale Parteiorganisation einen größeren Einfluss, was im Sinne der inneren Demokratisierung der Parteien durchaus erwünscht ist.

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Dennoch dürfen die Nachteile der Mehrheitswahl nicht übersehen werden. Aufstellung der Kandidaten nur aus dem Blickwinkel lokaler Interessen bedeutet häufig, dass bestimmte Minderheiten oder Gruppen der Bevölkerung praktisch nicht vertreten werden. So ist es zum Beispiel für Frauen angesichts der bestehenden Umstände auch heute noch leichter, über die Liste einer Partei in das Parlament einzuziehen als einen Wahlkreis direkt zu erobern.

Da außerdem in einem Wahlkreis jeweils nur die Stimmen für den erfolgreichen Kandidaten zum Zuge kommen, bleiben erhebliche Wählergruppen im Parlament unvertreten. Oft verschafft das Mehrheitswahlrecht einer knappen Mehrheit der Wählerschaft eine überstarke Repräsentanz im Parlament. Es hat in England Zeiten gegeben, in denen die Konservativen bei einem Stimmenanteil von 38,2 Prozent im Parlament über 56 Prozent der Sitze verfügten. Zum Teil liegt das an der Einteilung der Wahlkreise, die kaum gleich groß zu halten sind und außerdem so geschnitten werden können, dass dadurch eine Partei begünstigt oder benachteiligt wird. Solche "Wahlkreisgeometrie" eröffnet ein weites Feld für Manipulationen. Überdies lässt das Mehrheitswahlrecht Minderheiten, wenn sie nicht lokal sehr massiert, d.h. in einigen Wahlkreisen in der Mehrheit sind, keine parlamentarische Vertretung zukommen. Die Entstehung neuer Parteien ist praktisch unmöglich. Und auch die Stabilität der Regierung mit absoluter Mehrheit ist dann in Frage gestellt, wenn das Rennen der Parteien "Kopf an Kopf" beendet wurde.

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Funktionierendes Mehrheitswahlrecht setzt darum voraus, dass die beiden Parteien sich nach allen Seiten offen halten und nicht in prinzipieller Opposition gegeneinander stehen. Sonst würde ein Wechsel zwischen den Parteien zugleich eine Totalumwälzung des Gemeinwesens bedeuten. Ferner verlangt das durch ein Mehrheitswahlrecht stabilisierte Zweiparteiensystem einen starken Konsensus in der Bevölkerung. Das Gefühl, gemeinsam in einem Boot zu sitzen, und die Bereitschaft, den Vertreter der gegnerischen Partei nicht als Feind zu betrachten, sondern zu tolerieren, muss weit verbreitet sein. In einem Volk, das sozial zerstritten und in den Grundfragen des politischen Zusammenlebens uneinig ist, würde das Mehrheitswahlrecht deshalb nicht selten zu negativen Effekten führen, weil ein Machtwechsel wegen der Starrheit der Fronten nicht möglich wäre und große Minderheiten unvertreten blieben, Nicht Mäßigung, sondern Radikalisierung und Polarisierung wäre die Folge. In einem solchen Fall wird man eher versuchen müssen, das Verhältniswahlrecht zu modifizieren (...).

Es fällt schwer, vom Prinzip her zu entscheiden, welches Wahlsystem nun das eigentlich demokratische ist. Je nach den historischen Traditionen, dem existierenden Parteiensystem und den sozialen Verhältnissen in einer Gesellschaft wird man für dieses oder jenes System plädieren müssen. Auch für diesen Baustein der Demokratie gibt es also kein allgemein gültiges Rezept, sondern durchaus unterschiedliche Formen, in denen Demokratie verwirklicht werden kann und deren Angemessenheit sich danach bemisst, ob sie ein Maximum an politischer Beteiligung der Wähler bei gleichzeitiger Regierungsfähigkeit der Gewählten gewährleisten.

[entnommen aus: Waldemar Besson/Gotthard Jasper, Das Leitbild der modernen Demokratie. Bauelemente einer freiheitlichen Staatsordnung, Bonn 1990]

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