Rechtsstaat

 

Demokratie

Kernelemente des demokratischen Staates (VI): Rechtsstaat

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In Grundkurs 1 haben wir einleitend festgehalten, dass der Regent nur dann das Regierungsprogramm "einschalten" kann, wenn er von den Regierten Batterien für seine Fernbedienung bekommt.

Damit aber der Regent nicht machen kann, was er will, wenn und solange er die Batterien hat, trifft der demokratische Staat verschiedene Vorkehrungen. Dazu zählt die Gewaltenteilung und insbesondere die Bindung aller staatlichen Gewalt an Recht und Gesetz, also der Rechtsstaat, um den es im folgenden Text geht:

1 Was heißt "Rechtsstaat"? 7 Rechtssicherheit
2 Bindung an Recht und Gesetz 8 Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
3 Grundprinzipien 9 Verwaltungsgerichtsbarkeit
4 Unabhängigkeit der Justiz 10 Probleme des Rechtsstaats
5 Rechtsprechungsmonopol 11 Verfassungsgerichtsbarkeit
6 Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit 12 Volkssouveränität und Rechtsstaat

Ein weiterer Text befasst sich mit dem Thema "Grundrechte und Demokratie":

Justitia Die Grundrechte stehen insofern in einem Spannungsverhältnis zur Demokratie, als sie die Volkssouveränität begrenzen. Sie markieren die Grenze staatlicher Macht, auch wenn diese vom Volk ausgeht. Ursprünglich als Schutzrechte des Bürgers gegen den Regenten (König, Fürst) erkämpft, umfassen sie heute auch Teilhaberechte und soziale Rechte. Ohne Grundrechte ist Demokratie nicht vorstellbar. 

[Umfangreiche Informationen und Materialien zum Thema Grund- und Menschenrechte finden sich im Themenkomplex Menschenrechte auf diesem Bildungsserver]

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Buchauszug

Rechtsstaat: Die Bindung aller staatlichen Gewalt an Recht und Gesetz

Was heißt "Rechtsstaat"?

Eine freiheitliche Demokratie, die die Mitbestimmung der gesellschaftlichen Glieder an der politischen Willensbildung bejaht, bedarf rechtsstaatlicher Ausgestaltung. Demokratie und Rechtsstaat bilden eine untrennbare Einheit. Unter Rechtsstaatlichkeit sind dabei alle jene Grundsätze und Verfahrensweisen zu verstehen, die die Freiheit des einzelnen verbürgen und seine Anteilnahme am politischen Leben gewährleisten. Der Rechtsstaat stellt den radikalen Gegensatz zum Polizei- und Willkürstaat dar. Dort lebt der einzelne, ständig von "oben" überwacht, unter der steten Drohung des plötzlichen Zugriffs durch den allgegenwärtigen Apparat der Staatssicherheit. In allem fühlt er sich kontrolliert und misstrauisch beobachtet, wodurch das gesamte menschliche Zusammenleben vergiftet wird. Trotz aller Tarnung und Vorsicht können sich die Bürgerinnen und Bürger niemals dem Arm des Staates entziehen. Wer das Missfallen der Machthaber erregt, dem droht Verhaftung oder Schikane, Verlust des Arbeitsplatzes oder Verbringung in Lager, ohne dass er seinen Anspruch auf ein ordentliches Gerichtsverfahren durchsetzen könnte. Wird er aber vor einen Richter gestellt, dann tritt ihm auch dieser als Funktionär der politischen Führung gegenüber, da es eine prinzipielle Unabhängigkeit der Justiz nicht gibt. Die Rechtsprechung ist in solchen Systemen nur eine unter vielen Organisationstechniken, um das "Menschenmaterial" verfügbar zu machen. So weiß der einfache Bürger nie, ob er nicht schon längst in den Augen der Herrschenden auffällig geworden ist, und allein diese Unsicherheit stürzt ihn in Abhängigkeit und Unfreiheit. Daneben mag durchaus im privaten Bereich das Recht noch normal funktionieren — auch in Diktaturen werden Verkehrssünder und Diebe bestraft. Aber selbst darauf kann man sich nicht verlassen. Denn alle Rechtssätze gelten doch gleichsam nur auf Abruf. Letztlich bestimmt allein der Diktator oder die Staatspartei, was rechtens ist.

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Bindung an Recht und Gesetz

Im demokratischen Rechtsstaat dagegen sind auch die Inhaber öffentlicher Ämter an Recht und Gesetz gebunden. Vor diesen sind alle gleich. Jeder kann auch gegenüber den politisch Mächtigen sein Recht durchsetzen, selbst wenn ihm politische Instanzen dies versagen wollen. Das gilt insbesondere für das Recht auf freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Dass dieses gewahrt und gesichert bleibe, ist der vornehmliche Sinn des Rechtsstaates. Darum begrenzt er alle staatliche Tätigkeit zugunsten der Freiheit der Bürger. Die Behörden dürfen nur handeln, wenn ihnen dafür eine Zuständigkeit verliehen ist. Diese können sie sich nicht einfach aus eigener Kraft zusprechen. Verfassung oder Gesetz müssen sie ihnen übertragen. Insofern ist der Rechtsstaat immer auch Gesetz- und Verfassungsstaat. Die Bindung der staatlichen Autorität an das Recht sichert den Freiheitsraum des Bürgers, in den nur aufgrund gesetzlicher Ermächtigung eingegriffen werden darf. Eine solche aber kann nur die Volksvertretung in einem verfassungsmäßig festgelegten, förmlichen Verfahren erlassen. Über ihre Einhaltung wacht eine unabhängige Justiz. So gehören Gewaltenteilung und Rechtsstaat untrennbar zusammen.

Aber was schon von der Gewaltenteilung galt, das gilt nicht minder für den Rechtsstaat. Er ist keineswegs nur als Institution zur Begrenzung und Kontrolle des Staates zu verstehen. Wie die Gewaltenteilung den Staat für den politisch tätigen Bürger überschaubarer und zugänglicher macht, so verleiht die Rechtsstaatlichkeit dem Staat Maß und Form, wodurch es dem Bürger möglich wird, das staatliche Handeln im voraus zu berechnen und sich darauf einzurichten. Erst in einer durch Verfassung und Gesetz geregelten staatlichen Ordnung kann der einzelne in eigener Entscheidung und ungezwungen an der Gestaltung des politischen Lebens mitwirken.

Beide Ziele, die Ermöglichung demokratischer Aktivität und die Sicherung der Grundrechte liegen gleichermaßen in der Intention des Rechtsstaates. Man muss immer beide Aspekte im Auge behalten, will man den Sinn der rechtsstaatlichen Verfahrensweisen ergründen, die sich unter vier Grundprinzipien zusammenfassen lassen.

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Grundprinzipien

Unabhängigkeit der Justiz

Die rechtsstaatliche Verfassung eines Gemeinwesens beruht zunächst vor allem auf der institutionellen Unabhängigkeit der Rechtsprechung. In ihrem Verhältnis zu den anderen Gewalten muss die strikteste Gewaltenteilung herrschen. Exekutive wie Legislative muss es versagt sein, in die Tätigkeit der Richter einzugreifen oder sie gar unter Druck zu setzen. Persönliche Unabhängigkeit bedeutet für den Richter, dass er nicht gegen seinen Willen aus seinem Amt entfernt oder versetzt werden kann. Nur bei offensichtlicher Rechtsbeugung oder persönlicher Korruption kann er durch ein spezielles gerichtliches Verfahren seines Amtes enthoben werden. Die sachliche Unabhängigkeit garantiert dem Richter, dass er in seinem Wirken keinerlei Weisungen unterworfen ist. Er hat einzig Gesetz und Recht zu dienen, diese hat er auszulegen, ohne dass ihm der Staatsanwalt oder die Regierung oder ein höheres Gericht seine Entscheidungen vorschreiben darf.

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Rechtsprechungsmonopol

Erst dann freilich führt die Unabhängigkeit der Richter auch zur Unabhängigkeit der Rechtsprechung, wenn sichergestellt ist, dass die Richter ein Rechtsprechungsmonopol besitzen. Denn ein freisprechendes Gerichtsurteil hilft wenig, wenn der Freigesprochene dann trotzdem von der Polizei verhaftet und eingesperrt werden kann, wie es vielmals in Hitlers Herrschaftsbereich geschah, aber auch andernorts geschieht. Praktisch maßt sich damit die Regierung eine eigene Strafgewalt neben der Justiz an. Im Rechtsstaat dagegen setzt jeder Freiheitsentzug und jedes Eindringen der Polizei in die Privatsphäre eine richterliche Ermächtigung voraus. Deswegen kennt ein funktionierender Rechtsstaat nur richterliche Anordnungen für Verhaftungen und Hausdurchsuchungen, und deshalb gewährt er ein klar geregeltes Recht für jeden Angeklagten auf richterliche Vernehmung und rechtliches Gehör.

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Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit

Dem modernen Rechtsstaat liegt die allgemeine Lebenserfahrung zugrunde, dass niemand in eigener Sache richten soll. Seit alters versuchten deshalb die streitenden Parteien, ihren Streit vor neutralen Richtern auszutragen. Das galt vor allem für Gegensätze zwischen Regierung und Untertanen. Historisch war deshalb die Unabhängigkeit der Richter und ihr Rechtsprechungsmonopol eine der ersten und dringlichsten Forderungen, mit denen sich die Untertanen im Streben nach persönlicher Freiheit gegen die Versuche der Fürsten wandten, einen von ihnen abhängigen Gerichtshof zu schaffen. In diesen Auseinandersetzungen wurden die Fundamente des heutigen Rechtsstaates gelegt. Die frühesten Dokumente der englischen Verfassungsgeschichte handeln darum nicht zufällig von der immer wieder erneuerten Bestätigung der Freiheitsrechte der Stände und ihrer Sicherung durch die "rule of law". Die durch unabhängige Richter ausgeübte Herrschaft des Rechtes sollte gegenüber den absolutistischen Machtansprüchen des Königs gewährleistet werden. Diesem Ziel diente schon die Magna Charta Libertatum von 1215 und dann vor allem die Habeas Corpus Act von 1679, die die Vorführung Verhafteter vor den Richter innerhalb einer festgelegten Frist zwingend vorschrieb.

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Rechtssicherheit

Doch mit der Unabhängigkeit der Richter ist nur eine der Voraussetzungen des Rechtsstaates beschrieben. Er beruht nicht minder auf dem allgemeinen Prinzip, dass alle Tätigkeit des Staates messbar und vorausberechenbar sei. Nur dort kann Rechtssicherheit existieren, wo die Bürger genau wissen, was der Staat tun darf und was ihnen selbst zu tun oder zu lassen vorgeschrieben ist. Hierzu gehört der fundamentale rechtsstaatliche Grundsatz, dass niemand ohne gesetzliche Grundlage bestraft werden darf — nulla poena sine lege — und das damit zusammenhängende nicht weniger fundamentale Verbot rückwirkender Gesetze. Neben das Verbot rückwirkender Geltung tritt aus dem gleichen Grund das Gebot der Klarheit der Gesetze. "Gummiparagraphen" sind im Rechtsstaat unstatthaft, denn sie untergraben die Rechtssicherheit.

Die Bedürfnisse des Rechtsstaats verlangen deshalb eine gewisse Vorsicht gegenüber allen sogenannten unbestimmten Rechtsbegriffen. Zwar wird keine Gesetzgebung ohne einen Bezug auf generelle Begriffe wie "Treu und Glauben" oder "die guten Sitten" auskommen können, aber die traurige Berühmtheit des hierher gehörenden "gesunden Volksempfindens" in der nationalsozialistischen Rechtsprechung zeigt, welch unheilvolle Rolle solche unklar gefassten Begriffe als Einlasstore für eine Willkürjustiz spielen können. Eine dem Rechtsstaat verpflichtete Gesetzgebung wird sich deshalb immer um äußerste Präzision und Klarheit bemühen. Ihr zuliebe wird man nicht selten auf griffige und kurze Formeln verzichten müssen, wenn dadurch die Eindeutigkeit gefährdet wäre. Denn nur so lässt sich die Rechtssicherheit erhalten. Gerade auf sie aber kann kein demokratischer Staat, der seinen Bürgern ein Maximum freier Betätigung gewähren will, verzichten.

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Gesetzmäßigkeit der Verwaltung

Die Messbarkeit und Vorausberechenbarkeit alles staatlichen Handelns als elementare Voraussetzung des Rechtsstaats fordert die Bindung von Regierung und Verwaltung an das Gesetz. Jeder Staatsakt muss auf ein Gesetz zurückführbar sein, das seinerseits demokratisch legitimiert sein muss. Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung besagt, dass die Verwaltung nur in dem Rahmen tätig werden darf, den ihr die parlamentarische Mehrheit eröffnet hat. Das bedeutet natürlich nicht, dass jedem einzelnen Akt der Verwaltung ein ausdrücklicher Gesetzesbefehl zugrunde liegen muss. Was etwa ein tüchtiger Bürgermeister oder Gemeindedirektor in seiner Stadt aufbaut, oder was ein phantasievoller Vorsteher eines Jugendamtes für seine Schützlinge tut, befiehlt ihm kein Gesetz. Aber der Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung und Zuständigkeit muss bei allen Aktionen gegeben sein. Der Rechtsstaat schließt die schöpferische Selbstverantwortung der Verwaltung nicht aus. Doch im Falle einer Kollision haben die Gesetze und nicht die individuelle Dynamik den Vorrang.

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Verwaltungsgerichtsbarkeit

Das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung erfordert den ständigen Nachweis, dass die Verwaltung sich auch an die Gesetze hält. Diese Kontrollaufgabe hatte Montesquieu ursprünglich dem Parlament zugeschrieben. Doch als sehr viel wirkungsvoller erwies sich bald die Kontrolle durch die Justiz. Die gewaltige Ausdehnung der Verwaltung im modernen Sozialstaat zwang zu immer stärkerem Ausbau und zu stärkerer Verselbständigung der Verwaltungsgerichtsbarkeit. An sie kann sich jeder Bürger, der einen Verwaltungsakt als unrechtmäßig ansieht, mit seinem Widerspruch wenden und so eine Nachprüfung des betreffenden Verwaltungsaktes erzwingen (...). Der Sinn dieser Bestimmung ist, dass die Sorge vor der gerichtlichen Nachprüfung leichtfertige Entscheidungen der Verwaltungsbeamten verhindert. Erfolgen sie doch, so kommt es dann vielfach zu Prozessen, die sich allerdings oftmals lang hinziehen, weil der Streit wie in der ordentlichen Gerichtsbarkeit durch drei Instanzen gezogen werden kann.

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Probleme des Rechtsstaats

Man hat diese Entwicklung des modernen Rechtsstaates oft mit dem Schlagwort vom "Rechtswegestaat" kritisiert und damit die Schwerfälligkeit der rechtsstaatlichen Verfahrensweisen hervorheben wollen, die angeblich dem Querulantentum Tür und Tor öffnen und die Entscheidungsfreudigkeit der Beamten hemme. Man muss diese Einwände ernstnehmen, denn sie machen Grenzen und Kosten des Rechtsstaates deutlich: Richterliche Kontrolle des Verwaltungshandelns bezieht sich in der Regel vor allem auf die Kontrolle der vorgeschriebenen Verfahrensregeln und Zuständigkeiten. Die Einhaltung von Fristen, die Beteiligung aller Betroffenen oder die Berücksichtigung anderer formaler Regeln steht im Vordergrund der gerichtlichen Verfahren, während die eigentlichen Inhalte des anstehenden Falles nur hinsichtlich eines krassen Ermessensmissbrauches überprüfbar sind. In vielen Prozessen gegen schulische Entscheidungen über Noten und Versetzungen ist zum Beispiel von Richtern die pädagogische Freiheit des Lehrers bei der Beurteilung von Schülerleistungen immer beachtet worden, kontrolliert wurde die formale Handhabung, die Besetzung der Notenkonferenz, die rechtzeitige Ansage der schriftlichen Schulaufgabe oder der Nachweis, wie der Lehrer zu seiner Notengebung gekommen sei. Angesichts der zunehmenden Neigung vieler Eltern, gegen Schulentscheidungen gerichtlich vorzugehen, hat das zu einer Formalisierung und Verrechtlichung der schulischen Bewertungen geführt, die pädagogisch oft kontraproduktiv ist, die jedoch der notwendige Preis dafür ist, dass alle staatlichen Entscheidungen — und Schulnoten entscheiden ja oft über Lebenschancen — gerichtlicher Kontrolle unterliegen.

Rechtswegestaat und Verrechtlichung beherrschen auch die streitigen Verfahren über den Bau von Flughäfen, Kernkraftwerken oder Autobahnen, Müllplätzen oder Industrieansiedlungen. Sie bedeuten häufig erhebliche Verzögerungen und haben schon manches Projekt gravierend verteuert oder auch zum Scheitern gebracht. Dabei ist nicht zu übersehen, dass solche Prozesse oft mit großen Unkosten für die Beteiligten verbunden sind, so dass der "kleine Mann", der sich gute Anwälte oder teure Gutachter nicht leisten kann, oftmals am kürzeren Hebel sitzt, wenn sein Rechtsanspruch nicht absolut eindeutig ist. Sicherlich kann ein diktatorischer Staat zuweilen schneller und zweckmäßiger handeln. Wenn er Straßen bauen will, braucht er nicht in mühsamen Verhandlungen und förmlichen Verfahren die Grundeigentümer zu entschädigen. Aber gerade diese größere Effektivität enthält massive Gefahren für die Freiheit des Bürgers. Wer dagegen den Schutz des Rechtsstaates erhalten und dadurch Freiheit und Gleichheit sichern will, muss mit der Schwerfälligkeit und auch den Missbrauchsmöglichkeiten des Rechtswegestaates leben und den Preis für die Verrechtlichung unserer alltäglichen Beziehungen bezahlen. Es kann darum nicht heißen, den Rechtsstaat abzuschaffen, sondern allenfalls seine Kosten zu senken.

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Verfassungsgerichtsbarkeit

Der Rechtsstaat schreibt um der Demokratie willen eine Fülle von Verfahrensweisen und Kontrollmöglichkeiten vor, die den öffentlichen Instanzen Maß und Form geben. Er bindet die Politik an Gesetz und Recht, unterstellt alle staatliche Machtäußerung gerichtlicher Kontrolle und sichert dadurch die Freiheit der Bürger. Er zwingt diese nicht zur Unterordnung, sondern baut auf ihre freiwillige Mitarbeit. Das mag für Regierung und Verwaltung oft unbequem sein, aber die komplizierten Verfahren des modernen Rechtsstaats sollten nicht als etwas bloß Formales abgelehnt und diskreditiert werden, auch wenn — wie schon Tocqueville schrieb — "die Menschen, die in demokratischen Zeiten leben, ... den Nutzen der Formen nicht leicht einsehen; sie begegnen ihnen mit einer instinktiven Geringschätzung ... Die Formen erregen ihre Verachtung, oft sogar ihren Hass. Da sie in der Regel nur auf leichten und sofortigen Genuss aus sind, stürzen sie sich leidenschaftlich auf jeden Gegenstand ihrer Wünsche; die geringste Verzögerung bringt sie auf. Diese Haltung, die sie auf das politische Leben übertragen, nimmt sie gegen die Formen ein, die sie täglich in irgendeinem ihrer Pläne aufhalten oder hemmen. Genau dies aber, was die Menschen der Demokratie für den Nachteil der Formen halten, macht sie so nützlich für die Freiheit, denn ihr Hauptverdienst ist, dass sie als Schranke zwischen den Starken und den Schwachen, zwischen den Regierenden und den Regierten treten, um die einen aufzuhalten und den anderen Zeit zur Besinnung zu geben. Die Formen sind um so notwendiger, je tätiger und mächtiger der Souverän ist und je gleichgültiger und schwächer die einzelnen werden. So bedürfen demokratische Völker von Natur aus der Formen im stärkeren Maße als die anderen Völker."

Doch wäre es ein Irrtum, wollte man den demokratischen Rechtsstaat nur von seinen formalen Regeln und Prinzipien her definieren. Denn die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bleibt in der Tat bloß ein formales Prinzip, solange der Gesetzgeber seinerseits unbeschränkt schalten und walten kann. Wäre es doch denkbar, dass durch ein formal richtig zustande gekommenes Gesetz Grundrechte und rechtsstaatliche Grundprinzipien aufgehoben und beseitigt würden, wie das zum Beispiel im Ermächtigungsgesetz 1933 geschah. Damit wären alle rechtsstaatlichen Sicherungen im Grunde erledigt. Deswegen muss dem möglichen Missbrauch der Gesetzgebungsbefugnisse des Parlaments durch den Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz gewehrt werden. Auch die Legislative ist an die Grundwerte der verfassungsmäßigen Ordnung gebunden. Über ihre Einhaltung wacht in einem rechtsstaatlichen Gemeinwesen die Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie stellt deshalb den innersten Kern jedes Rechtsstaates dar. Ihre Existenz bezeugt, dass der Spielraum der politischen Entscheidung sich in das Recht des Gemeinwesens einfügen lassen muss. Aber auch die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung unter der Kontrolle eines Verfassungsgerichtes bliebe solange formal, wie der verfassungsändernde Gesetzgeber — in aller Regel die Zweidrittelmehrheit des Parlaments — aufgrund seiner Zuständigkeit zur Verfassungsänderung auch die rechtsstaatlichen Prinzipien und Verfahrensweisen und mit ihnen die Grundrechte der Bürger zu beseitigen in der Lage wäre.

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Volkssouveränität und Rechtsstaat

Wer jedoch im Rechtsstaat mehr sieht als den Inbegriff formaler Verfahren, ihn auch als inhaltliche Größe, als Staat der Gerechtigkeit und Freiheit auffasst, der wird auch den verfassungsändernden Gesetzgeber und damit den Volkssouverän selbst an die Grundwerte jeder freiheitlichen Verfassungsordnung binden müssen, die sich insoweit seiner Verfügungsgewalt entziehen. Auch eine noch so große Mehrheit muss ihre Schranke finden. Dem dynamischen Prinzip, dass der Wille des Volkes gelten soll, dem demokratischen Grundsatz des Mehrheitsentscheids, wird im Rechtsstaatsgedanken gleichsam ein statisches Prinzip beigestellt, durch das erst Freiheit des einzelnen und Schutz der Minderheit ermöglicht und damit Demokratie erfüllt wird. Im Rechtsstaat dokumentiert sich, dass Demokratie auf die gemeinsamen Überzeugungen und die innere Zustimmung aller Bürgerinnen und Bürger zur Achtung und Wahrung der Grundrechte gegründet ist. Nur so kann sie auf die Dauer gesichert bleiben.

[entnommen aus: Waldemar Besson/Gotthard Jasper, Das Leitbild der modernen Demokratie. Bauelemente einer freiheitlichen Staatsordnung, Bonn 1990]

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