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Vorbilder

Trauern verboten

Seine Fähigkeit, die Massen zu fesseln, macht den Bischof Desmond Tutu zum Sprecher der Schwarzen – und zum Gegenspieler des Burenpräsidenten Botha

[Der Spiegel, Nr. 32/1985]

Wie ein purpurnes Kreuz ragt Desmond Tutu, der anglikanische Bischof von Johannesburg, aus der vieltausendköpfigen Menge. "Wir wollen frei sein, wir wollen frei sein", lässt er die schwarzen Teilnehmer einer Totenfeier im staubigen Sportstadion von Kwathema skandieren, einer Schwarzensiedlung östlich von Johannesburg.

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Der kleine grauhaarige Kirchenmann mit der eindringlichen Stimme scheut sich nicht, die weiße Regierung und ihren Chef Pieter Willem Botha herauszufordern. Tutu wurde als erster Schwarzer zum Bischof der anglikanischen Kirche bestimmt, noch dazu in ihrem wichtigsten Bezirk Johannesburg. In den vergangenen Monaten ist er immer mehr zum Sprecher der Schwarzen geworden. Längst hat er als Integrationsfigur den 1977 ermordeten Studentenführer Steve Biko in den Schatten gestellt.

Der weiße Präsident Botha fürchtet den Geistlichen offenbar schon als Gegenspieler. Deshalb lehnte er das Angebot des Bischofs ab, mit ihm Möglichkeiten einer Eingrenzung des eskalierenden Rassenkriegs zu erörtern. Grundsätzlich sei er bereit, mit jedermann zu reden, der auf Gewalt und bürgerlichen Ungehorsam verzichte, ließ der Apartheidchef ausrichten; am 19. August treffe er ohnehin eine Delegation der anglikanischen Kirche, da könne Tutu ja mitkommen.

Zwar bewundern die meisten Schwarzen den Mut des "Stellvertreters" Tutu, aber viele Anhänger des radikalen ANC kritisieren ihn, weil er mit seinen Predigten von Gewaltlosigkeit auf dem Weg zur politischen Gleichberechtigung der Schwarzen noch keinen Schritt weitergekommen sei. "Ich wundere mich, dass die jungen Leute in Südafrika auf Menschen wie mich hören", sagt der Bischof. "Dass wir keine Resultate vorweisen können, untergräbt unsere Glaubwürdigkeit."

Tutu in einem offenen Brief an den damaligen Premierminister Vorster: "Ich habe große Angst, dass wir bald den Punkt erreichen, an dem es kein Zurück gibt, wo niemand mehr verhindern kann, dass es zu einer blutigen Entscheidung kommt."

Der berühmte Brief Tutus an den Premierminister Vorster steht als Dokument zur Verfügung. Sie finden ihn auf der Seite Brief.

Dieser Moment scheint nun gekommen. Auch Vorster hatte damals die Gelegenheit nicht wahrgenommen, mit einem Führer der Schwarzen zu verhandeln, der sich auch auf die Sprache der Weißen versteht.

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Der 53-jährige Tutu ist Sohn eines Lehrers, der die Methodistenschule in Klerksdorp, Transvaal, leitete und später zur anglikanischen Kirche übertrat. Seine Familie wohnte in einem Haus ohne Elektrizität, hatte aber immerhin für fünf Personen drei Zimmer mit Toilette und fließendem Wasser. Seine Mutter musste durch Hausarbeit bei Weißen den Lebensunterhalt mitverdienen.

Nach Stationen als Superintendent in Johannesburg und Bischof in Lesotho wurde er 1978 zum Generalsekretär des 13 Millionen Mitglieder zählenden südafrikanischen Kirchenrats (SACC) ernannt – eine Position, die ihm auch politisches Gewicht gab: Im SACC sind 23 Kirchen und 11 religiöse Vereinigungen vertreten. Tutu nutzte das Amt zur Agitation gegen die Rassentrennung. "Nicht durch ein Netz von Verboten und Gesetzen wurde ich im tieferen Sinne zum Menschen, sondern indem ich in einer wirklich freien Gesellschaft lebte", sagt Tutu. Die England-Aufenthalte haben den temperamentvollen Geistlichen geprägt. Wo er auch auftritt, weiß er sich ins beste Licht zu rücken. Seine Zuhörer versteht er durch seine lebhafte, gestenreiche Sprechweise zu fesseln. Als der Nobelpreisträger im vergangenen Oktober von seinen kirchlichen Mitarbeitern bejubelt wurde, erzählte er erst einmal einen Witz: "Meine Frau ist völlig durcheinander. Unlängst hat sie gesagt, sie würde sich nicht wundern, wenn sie eines Morgens aufwache und neben ihr der Papst an meiner Stelle im Bett läge." Seine Exzellenz, der "Komödiant Gottes", wie er wegen seiner Vorliebe für Inszenierungen genannt wird, hat Humor – und Charisma.

Schon öfter hat sich Bischof Tutu in seinem Seidenornat und den eleganten italienischen Mokassins durch die Massen gedrängt und sich schützend über ein Opfer drohender Lynchjustiz geworfen. Wenn der Bischof, der den Luxus des Lebens eines "Ehrenweißen" (so seine Feinde) genießt, zu den Schwarzen spricht, hören sie auf ihn: "Ihr seid nicht die Untermenschen, zu denen die Weißen euch erklären. Glaubt derartige Ketzereien nicht!"

In seiner Nobelpreisrede klagte Tutu die Rassentrennungspolitik an: "Den Schwarzen wird ihre südafrikanische Staatsbürgerschaft systematisch genommen, sie werden zu Fremden in ihrem Geburtsland." Die Regierung zerstöre durch Zwangsumsiedlung von schwarzen Arbeitern die Familien.

Den gesamten Text der Nobelpreisrede - übersetzt oder im englischen Original - finden Sie auf der Seite Nobelpreis.

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Präsident Botha bezeichnet seinen Gegenspieler als "demagogischen Tribun im Bischofsgewand". Seine Popularität hat Tutu bisher von dem "Bann" geschützt: Schon vor Verhängung des Ausnahmezustands konnte die Regierung unliebsamen Gegnern durch diese Maßregel verbieten, an Versammlungen teilzunehmen, sich zitieren zu lassen und zu reisen. Tutu musste zweimal seinen Pass abliefern: 1980, nachdem er in Dänemark zum Boykott südafrikanischer Kohle aufgerufen und 1981, als er während einer Europa- und USA-Reise wirtschaftliche Sanktionen gegen den Apartheidstaat verlangt hatte.

Mit seinem entschiedenen Auftreten während der letzten Wochen stahl Tutu sogar dem populären Zulu-Häuptling Gatsha Buthelezi die Show. Das kompromissbereite Oberhaupt der größten südafrikanischen Bevölkerungsgruppe verficht eine "Politik des Möglichen" und lehnt Boykott als Druckmittel ab. Solche Strategien würden nur wieder auf dem Rücken der Schwarzen ausgetragen, argumentiert der Stammesfürst.

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