Nobelpreis

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Vorbilder

Rede Rabins bei der Verleihung des Friedensnobelpreises

[Oslo, 10. Dezember 1994]

[Die Rede im englischen Original finden Sie auf der Seite Nobel Prize]

Ihre Majestäten, hochgeschätzter Vorsitzender und Mitglieder des Norwegischen Nobelkomitees, ehrenwerter Herr Premierminister Norwegens, liebe Mit-Preisträger, Herr Vorsitzender Arafat und Herr Außenminister von Israel, Shimon Peres, verehrte Gäste,

Da ich nicht glaube, dass eine Person den Nobelpreis zweimal bekommt, erlauben Sie mir bei dieser Gelegenheit, der geschätzten Auszeichnung eine persönliche Note hinzuzufügen. In einem Alter, in dem die meisten Jugendliche darum kämpfen, die Geheimnisse der Mathematik und der Bibel zu lüften; in einem Alter, in dem die erste Liebe blüht; im zarten Alter von Sechzehn gab man mir ein Gewehr, damit ich mich verteidigen konnte. Das war nicht mein Traum. Ich wollte Ingenieur für Wasserwirtschaft werden. Ich studierte an einer Landwirtschaftsschule und ich dachte, dass ein Ingenieur für Wasserwirtschaft zu sein ein wichtiger Beruf im dürren Mittleren Osten sei. Das denke ich heute immer noch. Ich war jedoch gezwungen, bei der Waffe Zuflucht zu nehmen. Ich habe jahrzehntelang beim Militär gedient. Unter meiner Verantwortung kamen junge Männer und Frauen, die leben wollten, lieben wollten, stattdessen zu Tode. Sie fielen bei der Verteidigung unserer Leben.

Meine Damen und Herren, in meiner gegenwärtigen Position habe ich häufig die Gelegenheit, über den Staat Israel zu fliegen, und seit kurzem auch über andere Teile des Mittleren Ostens. Die Aussicht vom Flugzeug ist atemberaubend; tiefblaue Meere und Seen, dunkelgrüne Felder, sandfarbene Wüsten, steingraue Berge und die ganze Landschaft gespickt mit weißen Häusern und ihren roten Dächern. Und auch Friedhöfe. Gräber so weit das Auge blicken kann. Hunderte Friedhöfe in unserem Teil der Welt, im Mittleren Osten - in unserer Heimat Israel, aber auch in Ägypten, Syrien, Jordanien, Libanon. Vom Fenster des Flugzeugs aus, aus einer Entfernung von Tausenden von Fuß, sind die zahllosen Gräber still. Aber ihr Aufschrei schallte vom Mittleren Osten überall hin auf die Welt seit Jahrzehnten.

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Wie ich heute hier stehe, möchte ich unsere Lieben grüßen - und vergangene Gegner. Ich möchte sie alle grüßen - die Gefallenen aller Länder und aller Kriege, ihre Angehörigen, die die andauernde Last des schmerzlichen Verlustes tragen, die Behinderten, deren Wunden niemals heilen werden. Heute Abend möchte ich jedem einzelnen von ihnen Tribut zollen, denn dieser wichtiger Preis gehört ihnen.

Meine Damen und Herren, ich war ein junger Mann, der nun sein volles Alter erreicht hat. (...) Und von allen Erinnerungen, die ich in meinen zweiundsiebzig Jahren gesammelt habe, werde ich mich bis zum letzten Tag am besten an die Ruhe erinnern: an die drückende Ruhe des Augenblicks danach und an die schreckliche Ruhe des Augenblicks davor. Als Soldat, als Kommandeur, als Verteidigungsminister habe ich viele Militäroperationen angeordnet. Und zusammen mit der Freude über den Sieg und der Trauer über die Verluste werde ich mich immer an den Augenblick direkt nach einer solchen Entscheidung erinnern: das Schweigen, wenn sich die hohen Offiziere oder die Minister des Kabinetts langsam von ihren Sitzen erheben, den Anblick ihrer Rücken beim Gehen, das Geräusch der Tür und dann die Ruhe, in der ich allein zurückblieb. Das ist der Augenblick, in dem man erkennt, dass als Resultat der soeben getroffenen Entscheidung, vielleicht Menschen zu Tode kommen. Menschen meiner Nation, Menschen anderer Nationen. Und sie wissen es noch nicht. Zu dieser Stunde lachen und weinen sie noch, schmieden Pläne und träumen von der Liebe, sinnen darüber nach, einen Garten zu bepflanzen oder ein Haus zu bauen - und sie haben keine Ahnung, dass dies ihre letzten Stunden auf Erden sind. Wer von ihnen wird sterben müssen? Wessen Bild wird schwarzgerahmt in der morgigen Zeitung zu sehen sein? Wessen Mutter wird bald trauern? Wessen Welt wird zerbersten unter dem Gewicht des Verlustes?

Als früherer Soldat, werde ich mich ebenfalls immer an die Ruhe des Augenblicks davor erinnern: das Schweigen, wenn die Uhrzeiger schneller zu werden scheinen, wenn die Zeit ausgeht und in der nächsten Stunde, der nächsten Minute das Inferno losbrechen wird. In diesem Augenblick höchster Anspannung, unmittelbar bevor der Finger den Abzug drückt, unmittelbar bevor die Zündschnur zu brennen beginnt, in der schrecklichen Stille dieses Augenblicks, bleibt immer noch Zeit, sich zu fragen, sich alleine zu fragen: Ist es wirklich zwingend zu handeln? Gibt es keine andere Wahl? Keinen anderen Weg? (...)

Meine Damen und Herren, Ich war ein junger Mann, der nun sein volles Alter erreicht hat. Und von allen Erinnerungen, die ich in meinen zweiundsiebzig Jahren gesammelt habe, rufe ich nun die Hoffnungen ins Gedächtnis zurück. Unsere Bürger haben uns gewählt, um ihnen Leben zu geben. So schlimm sich das anhören mag, ihre Leben sind in unserer Hand. Heute Abend sind ihre Augen auf uns gerichtet und ihre Herzen fragen: Wie gehen diese Männer und Frauen mit der ihnen verliehenen Macht um? Was werden sie entscheiden? In was für einem Tag werden wir morgen aufwachen? Einem Tag des Friedens? Des Krieges? Des Lachens? Der Tränen? Ein Kind wird auf völlig undemokratische Weise geboren. Es kann sich Vater und Mutter nicht aussuchen. Es kann sein Geschlecht oder seine Hautfarbe, seine Religion, Nationalität oder Heimat nicht wählen. Ob es in einem Schloss oder einer Krippe geboren wird, ob es unter einer despotischen oder demokratischen Regierung lebt, unterliegt nicht seiner Wahl. Vom Augenblick der Geburt an wird sein Schicksal - in hohem Maße - von den Führern seiner Nation bestimmt. Sie sind es, die entscheiden, ob es angenehm oder in Verzweiflung lebt, in Sicherheit oder in Angst. Sein Schicksal wird uns in die Hände gegeben - den Regierungen der Länder, seien sie demokratisch oder nicht.

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Meine Damen und Herren, wie keine zwei Fingerabdrücke identisch sind, so sind auch keine zwei Menschen gleich, und jedes Land hat seine eigenen Gesetze und seine eigene Kultur, Tradition und Führung. Aber es gibt eine universelle Botschaft, die die gesamte Welt umfasst, eine Regel, die unterschiedlichen Regimen gemeinsam sein kann, unterschiedlichen Rassen, die sich nicht ähneln, und Kulturen, die sich fremd sind. Es ist die Botschaft, die das jüdische Volk jahrtausendelang begleitet hat, die Botschaft, die sich im Buch der Bücher findet: 'Ve'nishmartem me'od l'nafshoteichem' - 'Deshalb achtet euch' - oder in heutiger Sprache: die Botschaft der Heiligkeit des Lebens. Die Führer der Nationen müssen ihre Völker mit den Voraussetzungen - der Infrastruktur, wenn sie wollen - versorgen, die ihnen ermöglichen, das Leben zu genießen: Redefreiheit und Freizügigkeit, Nahrung und Wohnung; und das Wichtigste: das Leben selbst. Ein Mensch kann seine Rechte nicht wahrnehmen, wenn er nicht am Leben ist. Und so muss jedes Land das Kernelement seines nationalen Ethos schützen und wahren: das Leben seiner Bürger.

Nur um dieses Leben zu schützen, können wir unsere Bürger aufrufen, zur Armee zu gehen. Und um das Leben unserer Bürger, die in der Armee dienen, zu verteidigen, geben wir große Summen für Flugzeuge und Panzer und anderes aus. Und trotzdem verfehlen wir das Ziel, das Leben der Bürger und Soldaten zu schützen. Soldatenfriedhöfe in allen Teilen der Welt sind stille Zeugen dieses Unvermögens nationaler Führer, das menschliche Leben heilig zu halten. Es gibt nur eine radikale Maßnahme, das menschliche Leben heilig zu halten. Diese eine radikale Lösung ist ein wirklicher Frieden.

Meine Damen und Herren, der Beruf des Soldaten beinhaltet ein bestimmtes Paradox. Wir nehmen die besten und tapfersten unserer jungen Männer für die Armee. Wir geben ihnen eine Ausrüstung, die ein Vermögen kostet. Wir bilden sie aus für den Tag, an dem sie ihre Pflicht tun müssen - und wir erwarten von ihnen, dass sie sie gut tun. Gleichzeitig beten wir inständig, dass dieser Tag niemals kommen möge - dass die Flugzeuge nicht starten werden, die Panzer nie vorrücken werden, die Soldaten nie die Attacken ausführen werden, für die sie so gut ausgebildet wurden. Wir beten, dass das nie passieren wird wegen der Heiligkeit des Lebens. Die Geschichte im ganzen, und die moderne Geschichte im besonderen, kennt qualvolle Zeiten, in denen nationale Führer ihre Bürger zum Kanonenfutter machten im Namen einer schlechten Doktrin: teuflischer Faschismus, schrecklicher Nationalsozialismus. Bilder von Kindern, die in die Schlacht marschieren, Fotos von entsetzten Frauen an den Toren der Krematorien müssen jedem Führer unserer und kommender Generationen vor Augen sein. Sie müssen als Warnung dienen für alle, die Macht ausüben.

Fast alle Regierungen, die die Heiligkeit des Lebens nicht in den Mittelpunkt ihrer Weltsicht gerückt haben, all diese Regierungen zerfielen und sind nicht mehr da. Man kann es selbst sehen in unserer Zeit. Aber das ist nicht das ganze Bild. Um die Heiligkeit des Lebens zu bewahren, müssen wir es manchmal riskieren. Manchmal gibt es keinen anderen Weg, unsere Bürger zu verteidigen, als um ihre Leben zu kämpfen, um ihre Sicherheit und Freiheit. Das ist das Glaubensbekenntnis jedes demokratischen Staates. Im Staat Israel, aus dem ich heute komme, in den israelischen Streitkräften, in denen ich das Privileg hatte zu dienen, haben wir die Heiligkeit des Lebens immer als übergeordneten Wert betrachtet. Wir sind nie in den Krieg gezogen, außer ein Krieg wurde uns aufgezwungen. Die Geschichte des Staates Israel, die Annalen der israelischen Streitkräfte sind gefüllt mit Tausenden von Geschichten über Soldaten, die sich opferten - die starben, als sie versuchten, verwundete Kameraden zu bergen, die ihr Leben gaben, um zu verhindern, dass unschuldigen Menschen auf der Seite ihrer Feinde Leid zustößt.

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In den nächsten Tagen wird eine besondere Kommission der israelischen Streitkräfte den Entwurf einer Verhaltensanweisung für unsere Soldaten fertig stellen. Die Formulierung hinsichtlich des menschlichen Lebens wird folgendermaßen aussehen, und ich zitiere: "In Anbetracht der übergeordneten Bedeutung des menschlichen Lebens, wird der Soldat es auf jede mögliche Art schützen und sich selbst und andere nur in dem Maße in Gefahr bringen, die als notwendig erachtet wird, um den Auftrag auszuführen. Die Heiligkeit des Lebens aus Sicht der Soldaten der israelischen Streitkräfte wird in allen Handlungen Berücksichtigung finden." Für viele Jahre - auch wenn die Kriege aufhören, nachdem der Friede in unserem Land eingekehrt ist - werden diese Worte eine Leuchtsäule vor unserem Lager bleiben, ein leitendes Licht für unser Volk. Und darauf sind wir stolz.

Meine Damen und Herren, wir sind mittendrin im Friedensprozess. Die Architekten und Ingenieure dieses Unternehmens arbeiten selbst heute, wo wir uns hier versammelt haben, und bauen einen Frieden, Schicht für Schicht, Stein für Stein. Die Arbeit ist schwierig, komplex, herausfordernd. Fehler könnten die ganze Struktur zum Wanken bringen und zur Katastrophe führen. Und so sind wir entschlossen, die Arbeit gut zu erledigen - trotz mörderischem Terrorismus, trotz den fanatischen und grausamen Feinden des Friedens. Wir werden dem Friedenskurs folgen mit Entschlossenheit und Kraft. Wir werden nicht nachlassen. Wir werden nicht aufgeben. Der Frieden wird über alle seine Feinde triumphieren, denn die Alternative ist für uns alle schlimmer. Und wir werden gewinnen. Wir werden gewinnen, weil wir den Friedensprozess als einen großen Segen betrachten, für uns und für unsere Kinder nach uns. Wir betrachten ihn als einen Segen für unsere Nachbarn auf allen Seiten und für unsere Partner in diesem Unternehmen - die Vereinigten Staaten, Russland, Norwegen - die so viel taten auf dem Weg zu dem Abkommen, das hier unterzeichnet wurde, später in Washington, später in Kairo, das einen Anfang machte bei der Lösung des längsten und schwierigsten Teils des israelisch-arabischen Konflikts: des Konflikts zwischen Palästinensern und Israeli. Wir danken auch den anderen, die dazu beigetragen haben.

Wir wachen nun jeden Morgen als andere Menschen auf. Frieden ist möglich. Wir sehen die Hoffnung in den Augen unserer Kinder. Wir sehen das Licht in den Augen unserer Soldaten, in den Straßen, in den Busen, in den Feldern. Wir dürfen sie nicht enttäuschen. Wir werden sie nicht enttäuschen. Ich stehe heute hier nicht allein an diesem kleinen Rednerpult in Oslo. Ich bin hier, um im Namen von Generationen von Israelis und Juden zu sprechen, von Hirten Israels - und sie wissen, dass König David ein Hirte war. Er begann vor etwa 3000 Jahren damit, Jerusalem zu bauen. (...) Ich bin hier, um im Namen der Dichter und derer zu sprechen, die von einem Ende des Krieges geträumt haben, wie der Prophet Jesaja. Ich bin auch hier, um im Namen der Söhne des jüdischen Volks zu sprechen wie Albert Einstein und Baruch Spinoza, wie Maimonides, Sigmund Freud und Franz Kafka.

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Und ich bin der Gesandte von Millionen, die im Holocaust gestorben sind, unter denen sicher viele Einsteins und Freuds waren, die uns und der Menschheit in den Flammen der Krematorien verloren gingen. Ich bin hier als der Abgesandte Jerusalems, an dessen Toren ich in der Zeit der Belagerung gekämpft habe. Jerusalem, das immer gewesen ist und heute ist: die Menschen, die drei Mal am Tag nach Jerusalem beten. Und ich bin auch der Abgesandte der Kinder, die ihre Visionen des Friedens malten, und von den Immigranten aus St. Petersburg und Addis Abeba. Ich stehe hier vorwiegend für die kommenden Generationen, auf dass wir alle die Medaille verdienen, die Sie mir und meinen Kollegen heute verliehen haben. Ich stehe heute hier als Gesandter - wenn sie es mir erlauben - unserer Nachbarn, die unsere Feinde waren. Ich stehe hier als Gesandter der brennenden Hoffnung eines Volkes, das das Schlimmste erdulden musste, was die Geschichte zu bieten hat und trotzdem - nicht nur der Chronik des jüdischen Volkes, sondern der ganzen Menschheit seinen Stempel aufgedrückt hat.

Mit mir sind fünf Millionen israelischer Bürger hier - Juden, Araber, Druze und Circassians - fünf Millionen Herzen, die für den Frieden schlagen, und fünf Millionen Augenpaare, die uns mit solch großen Erwartungen hinsichtlich des Friedens anschauen. Meine Damen und Herren, ich möchte mich bedanken, zuerst und vor allem bei all den Bürgern des Staates Israel aller Generationen und politischer Überzeugungen, deren Opfer und unaufhörlicher Kampf für Frieden uns unserem Ziel beständig näher bringen. Ich möchte unseren Partnern danken - den Ägyptern, den Jordaniern und den Palästinensern, die vom Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation geführt werden, Herrn Jassir Arafat, mit dem wir uns diesen Nobelpreis teilen - die den Weg des Friedens gewählt haben und ein neues Kapitel in der Geschichte des Mittleren Ostens schreiben. (...)

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, die Rede zu schließen, indem ich einen traditionellen jüdischen Segen mit Ihnen teile, der von meinem Volk in guten wie schlechten Zeiten rezitiert wird als ein Zeichen für sein tiefstes Sehnen: "Gott wird seinem Volk Kraft geben, Gott wird sein Volk segnen - und uns alle - in Frieden."

Vielen Dank.

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