Presse 1998

Nach oben Presse 1984 Presse 1985 Presse 1998

 

Vorbilder

Sieg der Wahrheit

Die Verbrechen des Apartheidregimes sind geklärt, doch auch die Befreiungskämpfer haben schwere Schuld auf sich geladen

[Der Spiegel, Nr. 45/1998]

In hochgeschlossener Robe, eine dunkle Schirmmütze auf dem schlohweißen Haar, trat Erzbischof Desmond Tutu mit harten Worten vor die Öffentlichkeit: Er habe nicht jahrzehntelang gegen die eine Tyrannei gekämpft, um sich einer anderen Tyrannei zu ergeben, ließ der Kirchenmann all jene wissen, die vor dem Staatstheater in Pretoria auf Südafrikas Stunde der Wahrheit warteten. Der Zorn galt alten Kameraden – den ehemaligen Befreiungskämpfern vom Afrikanischen Nationalkongress (ANC), heute die unangefochtenen Herren im Land.

In langwierigen Verhandlungen mit Vertretern des weißen Regimes hatte der ANC vor seiner Machtübernahme 1994 durchgesetzt, dass ein unabhängiger Ausschuss die in den Jahren der Apartheid verübten Menschenrechtsverletzungen untersuchen sollte. Um Siegerjustiz auszuschließen, wurde geständigen Tätern Straffreiheit zugesichert. Nun aber, vier Jahre später, wollten die Geistesväter der Kommission in seltener Übereinstimung mit ihren einstigen Unterdrückern die unter Tutus Vorsitz ermittelten Wahrheiten nicht wahrhaben. Noch wenige Stunden vor der geplanten Übergabe des Kommissionsberichts an Präsident Nelson Mandela versuchte der ANC, die Veröffentlichung gerichtlich zu verhindern.

[Seitenanfang]

In dem 3500 Seiten umfassenden Dokument, erstellt nach langen Anhörungen von 20 000 Opfern und Hinterbliebenen, werden zwar vor allem Polizisten, Soldaten und Politikern der früheren Apartheidregierung Vorwürfe gemacht – aber auch dem ANC und anderen Widerstandsorganisationen. Damit werde ein gerechter Kampf gegen ein Unrechtsregime kriminalisiert, so der ANC – dass dabei Zivilisten zu Schaden kamen, sei bedauerlich, in einer Kriegssituation aber nicht als Verstoß gegen internationales Menschenrecht zu werten.

Damit hatten Parteien aller politischen Lager, Weiße wie Schwarze, die Erkenntnisse der Kommission angefochten. Statt die Nation zu versöhnen, schufen sie neue Fronten. Und für den ANC mündete der Versuch, Tutu und seinen Mitarbeitern per Gerichtsbeschluß eine Debatte über die Legitimität eigener Gewaltakte aufzuzwingen, in eine Glaubwürdigkeitskrise. Richter Wilfred Thring immerhin bewies Unabhängigkeit und ließ den Report ohne weitere Zensur und Verzögerung freigeben. "Ein Sieg für die Wahrheit und die Menschenrechte", jubelten Tutus Mitarbeiter.

In akribischer Detailfülle haben sie, so der Bischof, die "ganze Schrecklichkeit" ans Licht gebracht, zu der Menschen fähig seien: die Folter vermeintlicher Terroristen mit nassen Säcken und Elektroschocks, die als Selbstmorde getarnten Fensterstürze von Regimegegnern nach Verhören durch die Polizei, die Willkür und Kaltblütigkeit staatlicher Killerkommandos, die neben den Scheiterhaufen, auf denen ihre Opfer brannten, Bier tranken.

Einen geringen Teil nur nimmt in diesem Katalog der Grausamkeiten die Kritik an den Widerstandsmethoden des ANC ein. Dennoch mussten hohe ANC-Funktionäre und heutige Regierungsmitglieder sich vorhalten lassen, Folter und Hinrichtung mutmaßlicher Verräter in den eigenen Reihen sowie Bombenattentate auf zivile Ziele gebilligt zu haben. Mit der weiblichen Galionsfigur des Befreiungskampfes geht der Bericht besonders hart ins Gericht: Winnie Madikizela-Mandela hat die Kommission bei ihrer wohlinszenierten Anhörung Ende vergangenen Jahres nicht von ihrer Unschuld überzeugen können. 18 Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen, darunter 8 Morde, werden der geschiedenen Ehefrau Nelson Mandelas und ihrer gefürchteten, als Fußballclub getarnten Schlägertruppe angelastet. "Jene, die gegen Madikizela-Mandela und den Club opponierten oder abtrünnig wurden, brandmarkte man als Spitzel, jagte und tötete sie", so die Berichterstatter. Da die "Mutter der Nation" keine Amnestie beantragt hat, muss sie nun mit Strafverfolgung rechnen.

[Seitenanfang]

Ebenso könnte sich der vorletzte Präsident des Apartheidregimes, Pieter Willem Botha (Foto links), erneut vor einem Richter einfinden. Der zornige Alte (Spitzname "Krokodil") war erst im August zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er die Aussage verweigerte. Ihm wirft der Ausschuss vor, in den zehn Jahren seiner Amtszeit als Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates von der Existenz staatlicher Killerkommandos gewusst und Untergebene durch zweideutige Reden zu Übergriffen ermuntert zu haben.

Mandelas Vorgänger Frederik Willem de Klerk, dem letzten weißen Präsidenten des Landes, war es dagegen gelungen, belastende Passagen über sich schwärzen zu lassen. Wie die meisten seiner politisch verantwortlichen Parteifreunde distanziert er sich von den Schergen seines Regimes und behauptet, von deren Untaten erst hinterher erfahren zu haben. Doch Tutu gibt sich nicht geschlagen: "Auch sein Name wird auftauchen am Ende."

Dennoch hat der Bericht der Kommission nur einen Teil der Wahrheit über jene Zeit ans Tageslicht bringen können, in der einzig die Hautfarbe über Freiheit und Unfreiheit entschied. Zu viele Amnestieanträge sind noch unbearbeitet, zu wenig ist über die eigentliche Kommandostruktur des Apartheidstaats bekannt, und fast alle verräterischen Dokumente konnten noch vor der Machtübergabe von Militär und Staatssicherheitsdienst vernichtet werden.

Südafrika steht deshalb erst am Anfang seiner Vergangenheitsbewältigung. Vizepräsident Thabo Mbeki gab am Freitag bereits den Ton für den zukünftigen Umgang mit kritischen Stimmen an. Die Kommission liege völlig falsch in ihrer Bewertung des Widerstands, so der einstige ANC-Exilführer und designierte Nachfolger Mandelas. Nur Mandela, der nach den Wahlen im Frühjahr abtritt, bewies wieder einmal wahre Größe: Nun seien endlich alle Südafrikaner "wirklich frei".

[Seitenanfang]

 

horizontal rule

News    II    Produkte    II    Unterrichtsmaterial

Themen: Web 2.0  I  Menschenrechte  I  Vorbilder  I  Update: Demokratie  I  Parteien  I  Europa  I  Globalisierung  I  Vereinte Nationen  I  Nachhaltigkeit

Methoden:    Politikdidaktik    II    Friedenspädagogik    II    Methoden
 

     


Dieses Onlineangebot zur politischen Bildung wurde von agora-wissen entwickelt, der Stuttgarter Gesellschaft für Wissensvermittlung über neue Medien und politische Bildung (GbR). Bei Fragen oder Anmerkungen wenden Sie sich bitte an uns. Trägerorganisation des Bildungsprogramms D@dalos ist der Verein Pharos Stuttgart/Sarajevo.