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Die Allmacht des Parlaments und der Mehrheitspartei oder müsste die Königin ihr eigenes Todesurteil unterschreiben?

Dreh- und Angelpunkt aller Verfassungsdebatten in Großbritannien ist das, neben dem gleichgewichtigen Grundsatz der Beachtung der Parlamentsgesetze durch die Regierung (Rule of Law), zweite tragende Verfassungsprinzip, die Doktrin der Parlamentssouveränität. Sie beinhaltet nach der klassischen Formulierung des englischen Verfassungstheoretikers Albert Venn Dicey (The Law of the Constitution, 1885), dass das Parlament das Recht hat, jedes beliebige Gesetz zu beschließen oder abzuschaffen und dass es außerhalb des Parlaments kein Gremium und keine Person gibt, die das gesetzmäßige Recht hat, Parlamentsentscheidungen zu verändern oder zu missachten. Diese Errungenschaft der Glorious Revolution von 1688 ist heute zu einem Hemmschuh der Demokratisierung des britischen politischen Systems geworden, ja hat unter Margaret Thatcher, wie ihre Kritiker meinen, den Weg zurück zum autoritären oder Zwangsstaat geebnet. Ein solcher Vorwurf richtet sich keineswegs generell gegen die parlamentarische Demokratie des Landes. Er bezieht sich vielmehr auf die einfache Tatsache, dass in Großbritannien der Schritt von der Parlamentssouveränität zur Volkssouveränität noch aussteht. Der "republikanische Traum" der französischen Revolution von der Souveränität des Volkes, der auf dem europäischen Kontinent Wurzeln schlug und in immer wiederkehrenden Verfassungsformeln mit dem Tenor, dass alle Macht vom Volke ausgehe, seinen Ausdruck fand, ist — anders als dies die zeitgenössische britische Reaktion auf 1789 verstanden haben wollte — aus der Sicht der britischen Verfassungsreformer heute gerade kein Alptraum mehr. Sie wollen den einzelnen Briten, wenigstens was die Einklagbarkeit von Individualrechten betrifft, aus seinem Untertanenstatus befreien (subject to the Queen). Er soll zum Staatsbürger mit Rechtsbefugnissen werden, die der Willkür von zufälligen Parlamentsmehrheiten entzogen sind.

Das Problem, dass das Parlament und damit de facto das Unterhaus alleinige Quelle von Legalität und Legitimität politischen Handelns ist, wird noch dadurch verschärft, dass in diesem im 20. Jahrhundert die Parteiräson zum bestimmenden Strukturmerkmal wurde. Das Parlament wird dadurch in ein unlösbares Dilemma gedrängt. Einerseits ist es, mangels geschriebener Verfassung, alleiniger Hort der Gemeinwohlorientierung und exklusiver Hüter der britischen Demokratie und der individuellen Freiheiten. Andererseits betreibt die Mehrheitsfraktion des Unterhauses die Durchsetzung der von der Regierung vorgegebenen selektiven und partikulären Politikinitiativen, für die es als Handlungsschranke keine einklagbaren Verfassungsgarantien weder für den einzelnen Bürger noch für politische Institutionen außerhalb des Parlaments gibt. Nicht nur scherzhaft ist es gemeint, wenn einige britische Verfassungstheoretiker darauf beharren, die Königin müsste ihr eigenes Todesurteil unterschreiben, wenn das souveräne Parlament so befände.

[aus: Roland Sturm: Das britische Gemeinwesen heute; in: Der Bürger im Staat 41, 4/1991]

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