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Historische Grundlagen und Entwicklung des britischen Parteiensystems

Politische Parteien sind in Großbritannien, anders als in den meisten kontinentaleuropäischen Staaten, nicht erst ein Produkt des beginnenden demokratischen Zeitalters. Bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts bildete sich mit den Whigs und den Tories ein rudimentäres Zweiparteiensystem heraus. Es hatte seine Wurzeln in den Verfassungskonflikten des 17. Jahrhunderts zwischen der Stuart-Dynastie und dem Parlament. Diese Machtkämpfe wurden in der sogenannten Glorreichen Revolution von 1688/89 zugunsten des Parlamentes entschieden. Die Whigs, die ihre Unterstützung vornehmlich bei einer Gruppe großer Landbesitzer, beim Handel und in freikirchlichen Kreisen fanden, standen, verkürzt formuliert, für die Rechte und Machtansprüche des Parlaments, die Tories für die Rechte der Krone, in der sie das eigentliche Zentrum des politischen Lebens im Lande sahen. Es geschah deshalb nicht zufällig, dass die Whigs nach dem Verfassungswandel von 1688/89 für längere Zeit so etwas wie die natürliche Regierungspartei des Landes darstellten, während die Tories zunächst für Jahrzehnte in das politische Abseits gerieten.

Die Gegensätze zwischen den Whigs und den Tories verloren nach der endgültigen Lösung der dynastischen Thronfolgefrage zugunsten der Hannoveraner allmählich einen großen Teil ihrer früheren Bedeutung. Die Parteinamen blieben jedoch erhalten. Sie bezeichneten jetzt freilich oft mehr Unterschiede der politischen Mentalität als gravierende politische und gesellschaftliche Interessengegensätze. Bei beiden Parteien handelte es sich um lockere parlamentarische Gruppierungen. Nach wie vor war die Krone bzw. die Regierung bestrebt, nicht in einseitige Abhängigkeit von einer Partei zu geraten. Um die notwendige parlamentarische Unterstützung zu finden, versuchte sie deshalb, Abgeordnete durch Einfluss und Patronage interessenmäßig an die Regierung zu binden und in den von ihr kontrollierten Wahlkreisen die Wahl regierungstreuer Kandidaten sicherzustellen. Dieses System, in einer berühmten Formulierung als government by corruption charakterisiert, geriet seit dem Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker in eine Krise, da die traditionellen Mittel der Beeinflussung nicht mehr im gleichen Maß wie bisher zur Verfügung standen. Das zentrale Problem bestand deshalb darin, neue Formen parlamentarischer Unterstützung zu finden. So gesehen lässt sich mit einiger Berechtigung formulieren, dass »Parteienregierung« nicht zuletzt deshalb »erfunden« wurde, weil das alte System des 18. Jahrhunderts auf immer größere Schwierigkeiten gestoßen war.

Die Parteien, die zum Träger eines parlamentarischen Regierungssystems wurden, besaßen freilich erst eine entfernte Ähnlichkeit mit modernen politischen Parteien. Sie traten weder mit einem klaren Wahlprogramm vor ihre Wähler noch verfügten sie über eine nennenswerte gesellschaftliche und organisatorische Verankerung im Lande. Hinter landesweiten Parteien und Wahlen verbargen sich in Wirklichkeit oft lokale Einflüsse und Interessen von Adelsfamilien, die vielfach mehrere Wahlkreise kontrollierten und durch wechselseitige Arrangements dafür sorgten, dass auf Gegenkandidaturen verzichtet wurde. Das war in dem Jahrhundert vor der Wahlrechtsreform des Jahres 1832 eher die Regel als die Ausnahme.

Auch nach der Wahlrechtsreform des Jahres 1832, die vor allem die sogenannten rotten boroughs — also Wahlkreise, in denen eine Handvoll Wähler einen Abgeordneten ins Parlament wählen konnte — abschaffte und neue Wahlkreise in bevölkerungs- und industriereichen Gegenden einrichtete, änderte sich die Situation nicht grundlegend. Nach wie vor hatte man es mit einem kleinen und überschaubaren Wahlkörper zu tun, der etwa ein Achtel der erwachsenen männlichen Bevölkerung in Großbritannien umfasste und deshalb vielerlei Einflüssen zugänglich war, zumal der Wahlvorgang bis 1872 nicht geheim war.

Ein einschneidender Wandel erfolgte erst mit den Wahlrechtsreformen der Jahre 1867 und 1884/85, die im Ergebnis dazu führten, dass nunmehr in England etwa zwei Drittel, in Schottland etwa drei Fünftel und in Irland etwa die Hälfte der männlichen Erwachsenen das Wahlrecht erhielten. 

Historisches Zweiparteiensystem

Traditionellerweise wird die Politik in Großbritannien durch ein Zweiparteiensystem geprägt, auch wenn es zwischen 1915 und 1922 sowie 1931 bis 1945 im allgemeinen gut funktionierende Koalitionsregierungen gab. Auch heute ist die Möglichkeit einer Koalitionsregierung nicht auszuschließen, falls sich die Erfolge der neu ins Leben gerufenen Allianz fortsetzen lassen.

Die ersten Ansätze zu einer Parteienbildung sind unmittelbar vor und nach dem englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert auszumachen, als sich das Parlament in Königstreue ("Cavaliers") und Republikaner ("Roundheads") aufteilte. Von der Entwicklung eines Systems kann erst nach der Wiederherstellung der Monarchie die Rede sein, als sich lose Gruppierungen mit der Bezeichnung "Tories" und "Whigs", beides ursprünglich Schimpfnamen, bildeten.

Die Tories fanden ihren Rückhalt im kleineren Landadel und identifizierten sich stark mit der anglikanischen Staatskirche und der Krone. Die Whigs dagegen vertraten die Interessen des Großgrundbesitzes und der reichen Kaufleute, setzen sich für religiöse und politische Toleranz ein und hielten an dem Grundsatz fest, dass die Minister des Königs das Vertrauen des Parlaments haben müssen. Partei- und Interessengrenzen waren bis spät ins 19. Jahrhundert hinein fließend.

Das erste Kabinett, das aus der parlamentarischen Mehrheit einer Gruppe gebildet wurde, rief Wilhelm III. bereits 1693 ins Leben. Der erste Premierminister wurde 1721 ernannt und übernahm bei Abwesenheit des Monarchen den Vorsitz im Kabinett. Diese Entwicklung gab allmählich den Parteien und deren Führern ihre herausragende Bedeutung im britischen Verfassungssystem.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten sich aus diesen Gruppierungen zwei der heutigen Parteien des Landes. Im wesentlichen gingen die reformistischen Liberalen aus den Whigs und die Konservativen aus den Tories hervor. Die Konservativen werden heute noch Tories genannt.

Gegen Ende des Jahrhunderts formierten sich die ersten Elemente einer dritten Partei, die als Labour Partei nach dem Ersten Weltkrieg Schritt für Schritt die Liberale Partei als Hauptoppositionspartei ersetzte. Sie schaffte diesen Durchbruch durch eine direkte Ansprache der Arbeiterschichten des Landes, die bis dahin vornehmlich für die Liberalen gestimmt hatten. Die Liberalen galten als Partei der politischen und sozialen Reform, auch wenn dieser Reformeifer teilweise eher wirtschaftlich motiviert war. Die Arbeiterschaft konnte sich eher mit den Labour Kandidaten identifizieren als mit den Mitgliedern der Oberschicht und Repräsentanten von Wirtschaftsinteressen, die vornehmlich für die Liberalen ins Parlament gewählt wurden. (...) Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wird die politische Auseinandersetzung durch die Konservativen auf der einen und Labour auf der anderen Seite dominiert.

[aus: Stefan Melnik: Das Parteiensystem; in: Informationen zur politischen Bildung 214, "Großbitannien", Bonn BpB 1987]

Im europäischen Vergleich handelte es sich jedoch nach wie vor um ein höchst eingeschränktes Wahlrecht. Das Prinzip der Parteienregierung hatte sich also in Großbritannien bereits zu einem Zeitpunkt fest etabliert, zu dem das Partizipationsprinzip noch vielerlei Beschränkungen aufwies und Teilnahme an Wahlen noch nicht als Recht, sondern als ein an bestimmte Voraussetzungen geknüpftes Privileg begriffen wurde. Politische Parteien in Großbritannien besaßen deshalb einen jahrzehntelangen »Parlaments- und Regierungsvorlauf«, bevor sie vor die Aufgabe gestellt wurden, ein Massenelektorat durch Programme, Organisationen und Ideologien politisch zu mobilisieren und zu integrieren.

Das hat für das Verständnis von politischen Parteien und Wahlen Folgen gehabt, die bis tief in die Gegenwart hineinreichen. Nicht dass es in Großbritannien deshalb keinen Anti-Parteien-Affekt und keinen Parteienverdruss gegeben hätte und geben würde. »Kein Ausspruch«, so notierte beispielsweise Sidney Low 1906 in seinem Klassiker über das britische Regierungssystem, »dürfte wohl größeren Beifall in einer öffentlichen Versammlung hervorrufen, als die Erklärung: Dies, Herr Präsident, ist keine Parteifrage, und ich beabsichtige nicht, es vom Parteistandpunkte aus zu behandeln.« Die Besonderheit Großbritanniens besteht vielmehr darin, dass politische Parteien, auch wenn sie nicht geliebt, sondern eher unsentimental und zynisch betrachtet wurden, doch von einem sehr frühen Zeitpunkt an als unverzichtbare Funktionsvoraussetzungen eines parlamentarischen Regierungssystems anerkannt wurden. »I believe«, so Disraeli 1872, »that without party Parliamentary government is impossible.« Er brachte damit eine Einsicht auf den Punkt, die sich spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte, nachdem es bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts Versuche gegeben hatte, den Begriff party von dem negativ besetzten Begriff faction zu unterscheiden.

Anders als lange Zeit in Deutschland wurden politische Parteien in Großbritannien also nicht in erster Linie als Bestandteil und politischer Ausdruck der Gesellschaft, die es in ihren Schattierungen und Färbungen möglichst getreu abzubilden gelte, sondern primär als Regierungs- und Herrschaftsinstrumente begriffen, die eine stabile Regierung ermöglichen und geeignete politische Führer hervorbringen sollten. Diese öffentliche Funktion der Parteien, die fast auf eine "omnipotente Stellung innerhalb der Verfassung hinausläuft«, ist allerdings nur politisch-kulturell, nicht rechtlich abgesichert. Politische Parteien in Großbritannien besitzen, damals wie heute, den Rechtsstatus einer privaten freiwilligen Vereinigung. Eben deshalb ist es ihnen auch anheimgestellt, welche innere Struktur sie sich geben wollen. Dazu passt, dass es erst seit jüngster Zeit überhaupt erlaubt ist, auf dem Wahlformular zusammen mit dem Namen des Kandidaten die Parteizugehörigkeit aufzuführen. Tatsächlich besteht jedoch seit langem kein vernünftiger Zweifel daran, dass letztlich eine Partei und keine Person gewählt wird, wenngleich generell trotz aller Amerikanisierung der Wahlkämpfe gilt, dass die Wahlkreisebene, auf der nach wie vor ein mit traditionellen Mitteln geführter Wettbewerb um jede Stimme stattfindet, auch heute noch eine größere Rolle spielt als in den meisten europäischen Nachbarstaaten (...).

Zu dem bis in die Gegenwart wirkmächtigen historischen Erbe aus vordemokratischen Zeiten gehört des weiteren die Grundannahme, dass party government im Westminster-Modell, wie der einflussreiche Verfassungstheoretiker James Bryce es einmal formuliert hat, "die Existenz von zwei großen Parteien, jedoch nicht mehr« voraussetzt, einer Mehrheitspartei, die die Regierung stellt, und einer Minderheitspartei, die sich — His Majesty's Loyal Opposition — als Regierung im Wartestand begreift.

Traditionell gekoppelt mit dieser Grundüberzeugung ist eine Präferenz für das Mehrheitswahlrecht, das als notwendige Voraussetzung für ein Zweiparteiensystem und damit für ein Parteiensystem gilt, das keinen Zwang zu Parteienkoalitionen kennt. In Wirklichkeit war, bei Licht betrachtet, der Zusammenhang von Zweiparteiensystem und relativem Mehrheitswahlrecht historisch gesehen eher zufällig. Von einem Mehrheitswahlsystem in seiner heutigen Form — relative Mehrheit in Ein-Mann-Wahlkreisen — kann erst seit 1885 gesprochen werden. Eine relative Mehrheitswahl in Zwei-Mann- oder Drei-Mann-Wahlkreisen, wie es vor 1885 eher die Regel als die Ausnahme war, hat ähnliche Auswirkungen wie ein Verhältniswahlrecht.

[aus: Karl Rohe: Parteien und Parteiensystem; in: Hans Kastendiek u.a. (Hg.), Länderbericht Großbritannien, Bonn BpB 1994]

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