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Der
folgende Text skizziert mit dem Sicherheitsdilemma ein Grundproblem des
internationalen Staatensystems, das aus seiner anarchischen Struktur resultiert:
"Das internationale System, dies ist wohl sein zentrales Merkmal, ist ein
„anarchisches“. Anarchie meint dabei nicht die Abwesenheit von Regelmäßigkeiten
(also Unordnung oder „Chaos“) (...). Sie meint auch nicht die Abwesenheit
von international verbindlichen Regeln. Diese gibt es durchaus (...). Anarchie
im strengen Sinne meint vielmehr: formale Herrschaftslosigkeit. Es gibt
Machtunterschiede zwischen den Staaten im internationalen System, die zum Teil
sogar durch Wirkungsmechanismen des internationalen Systems verstärkt und
aufrechterhalten werden (...). Es gibt jedoch, im Unterschied zum Binnenverhältnis
innerhalb von Staaten, keine formale Hierarchie, insbesondere kein Monopol eines
Weltstaates auf Gewaltanwendung. Vielmehr sind die Staaten - anders als es für
die Bürger im Staat gelten sollte - für ihren Schutz auf sich selbst
angewiesen, weshalb man vom internationalen System als einem Selbsthilfe-System
spricht. In ihm können die Staaten allenfalls versuchen, ihr Sicherheitsstreben
mit anderen Staaten zu koordinieren und mit ihnen in einer Allianz zu
sicherheitspolitischen Zwecken zu kooperieren, eine Kooperation, die aber gegen
andere Staaten gerichtet bleibt. Die beiden großen Allianzen, die das Gros der
Sicherheitspolitik der Nachkriegszeit bestimmt haben, waren der 1949 gegründete
Nordatlantikpakt mit der Vertragsorganisation NATO auf westlicher Seite und die
Warschauer Vertragsorganisation (WVO, auch Warschauer Pakt genannt) auf östlicher
Seite, die von 1955 bis 1991 bestand.
Aus der erwähnten systemischen Eigenschaft - Anarchie und damit Angewiesenheit
der Staaten auf Selbsthilfe - folgt nun, in Kombination mit der Tatsache, dass
einzig und eindeutig defensive militärische Mittel praktisch nicht existieren,
ein zentrales Dilemma der internationalen Politik. Mit einem von dem
amerikanischen Politikwissenschaftler John H.
Herz (1950) eingeführten Begriff spricht man vom sogenannten Sicherheitsdilemma.
Es besteht darin, dass militärische Maßnahmen, selbst wenn sie von A in
defensiver Absicht ergriffen werden, für B als Bedrohung erscheinen, worauf B
sich seinerseits bewaffnet, was nun wiederum A's Gefühl der Unsicherheit verstärkt.
Es kann so nicht nur zu endlosen Spiralen des „Wettrüstens“ kommen, sondern
das Gefühl der Sicherheit wird, trotz steigender Militärausgaben, nicht vergrößert,
ja möglicherweise durch die Wahrnehmung eines „Rüstungswettlaufs“
vermindert. Oder, noch einmal anders und kürzer formuliert: Unter Bedingungen
von Anarchie kann einseitiges Streben nach Sicherheit Unsicherheit erzeugen. Das
Sicherheitsdilemma benennt somit eine systemische Erklärung für das Problem
der Sicherheit in der internationalen Politik."
[aus: Martin List u.a.: Internationale
Politik. Probleme und Grundbegriffe, Opladen 1995, S. 91-93]
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