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Wie lässt sich
aggressives Verhalten erklären? - In der Psychologie werden zwei klassische Erklärungsansätze unterschieden:
Triebtheorie und Frustrationstheorie. Einen allgemeineren Ansatz, der
sich auch für die Erklärung von Aggression nutzen lässt, bildet die Lerntheorie,
die auf einer gesonderten Seite in ihren Grundzügen skizziert wird.
Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse (1856-1939) |
"Die
Grundannahme der Triebtheorie lautet: Im Organismus gibt es eine
angeborene Quelle, die fortwährend aggressive Impulse produziert. Diese
Impulse müssen sich auf die eine oder andere Weise, wenn auch nicht
unbedingt zerstörerisch, im Verhalten ausdrücken können (...); andernfalls
führen sie zu seelischen Störungen. Die bekanntesten Vertreter einer solchen
Auffassung sind Sigmund Freud und Konrad Lorenz, wobei
allerdings der Freudsche Trieb letztlich auf Selbstvernichtung gerichtet ist
('Todestrieb') und nur durch Mischung mit dem Sexualtrieb nach außen gelenkt
wird, während Lorenz einen spezifischen, gegen die Artgenossen gerichteten
Kampftrieb meint. In der modernen Psychologie gibt es kaum noch Anhänger der
Triebtheorie (...).
Die Frustrationstheorie besagt: Aggressives Verhalten beruht auf
aggressiven Impulsen, die durch sogenannte Frustrationen entstehen. Darunter
wurde ursprünglich nur die Störung einer zielgerichteten Aktivität
verstanden; später erweiterte sich der Begriff auf alle aversiven,
unangenehmen Ereignisse (Angriffe, Belästigungen, Entbehrungen usw.). In
jedem Fall entsteht das Aggressionsbedürfnis, anders als bei der
Triebtheorie, nicht von selbst, sondern reaktiv. Allerdings: Einmal
entstanden, muss es dann in irgendeiner Form zum Ausdruck kommen (...). Dass
aggressive Impulse durch Frustrationen entstehen, wie Energien wirken und
irgendwo ihr Ventil brauchen, sind übrigens auch in der Öffentlichkeit
außerordentlich populäre Vorstellungen. |
Die
Frustrationstheorie wurde vielfach modifiziert, und dabei wurde die Rolle
von Frustrationen als Aggressionsauslöser erheblich relativiert. Unumstritten
ist heute, dass ein frustrierendes Ereignis außer Aggression auch konstruktives
Bemühen, Resignation, Ausweichen, Tagträumerei, Humor, Selbstbetäubung (Alkohol
usw.) und andere Verhaltensweisen hervorrufen kann und eine aggressive Reaktion
nur unter bestimmten Bedingungen zu erwarten ist. So muss das Ereignis von der
Person ernsthaft als 'ärgerlich' bewertet werden (z.B. als 'ungehöriges'
Verhalten), denn nur dann entstehen tatsächlich Ärgergefühle, und auch die
setzen sich noch nicht automatisch in aggressives Verhalten um, sondern wiederum
nur, wenn die Person dies als Verhaltensgewohnheit gelernt hat, wenn sie keine
Aggressionshemmungen empfindet, wenn bestimmte Personen an- oder abwesend sind
usw.
Frustrationen führen also keineswegs immer zu aggressivem Verhalten. Doch auch
in anderer Hinsicht ist die Frustrationstheorie einzuschränken: Wenn
aggressives Verhalten auftritt, so ist dies nicht immer eine Reaktion auf eine
Frustration; es kann auch andere Gründe haben. Es gibt z.B. Gewalthandlungen auf
Befehl, die gedankenlose Nachahmung in einer Gruppe oder Gewalttaten zur
Bereicherung (Raubmorde, Erpressung usw.).
Als eine mögliche und häufig vorkommende Bedingung für aggressives Verhalten
bleiben Frustrationen aber durchaus bedeutsam. Sie zu vermindern - im
persönlichen Bereich etwa durch einfühlsameren Umgang mit anderen Menschen, auf
gesellschaftlicher Ebene durch gerechtere Lebensbedingungen -, bleibt daher ein
wichtiger Ansatzpunkt zur Aggressionsverminderung. Da Frustrationen in
gewissem Grade aber unvermeidlich sind, ist es zugleich wichtig, mit ihnen
anders 'umzugehen' (...). Bekanntlich unterscheiden sich Menschen in der Art des
Umgangs mit Frustrationen erheblich, und dabei dürfte das Lernen eine
entscheidende Rolle spielen."
[... zum Abschnitt "Lerntheorie"]
[aus: Hans-Peter Nolting, Aggression
ist nicht gleich Aggression. Ein Überblick aus psychologischer Sicht; in: Der
Bürger im Staat 43, 2/1993, S. 92-93]
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