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Friedenspädagogik



Formen direkter Gewalt sind sofort als solche erkennbar. Es gibt aber auch verstecktere Formen von Gewalt, meint der Friedensforscher Johan Galtung: "Deshalb benötigt die Friedensforschung eine Gewalttypologie in ähnlicher Weise wie die Gesundheit eine Pathologie zur Vorbedingung hat." Galtung geht von folgendem Gewaltbegriff aus:

"Ich begreife Gewalt als vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist. Die Androhung von Gewalt ist ebenfalls Gewalt."

[Johan Galtung, Kulturelle Gewalt; in: Der Bürger im Staat 43, 2/1993, S. 106]

Dieses Gewaltverständnis geht weit über direkte Gewalt hinaus, die eine oder mehrere Personen anderen Personen zufügen. Neben direkter Gewalt betont Galtung eine weitere Form von Gewalt, nämlich strukturelle Gewalt, die eben nicht von Personen ausgeübt wird, sondern gewissermaßen in den Strukturen versteckt ist. Zu denken wäre hier beispielsweise an Ungerechtigkeiten im weltweiten Warenaustausch, die dazu führen, dass Jahr für Jahr Menschen verhungern.

Ein Lexikonartikel führt zum vieldiskutierten Begriff "strukturelle Gewalt" aus: "Die Gewalt ist in das gesellschaftliche System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich ungleichen Lebenschancen (z.B. Ungleichheit der Einkommensverteilung, der Bildungschancen etc.). Galtung gebraucht den Begriff der strukturellen Gewalt synonym mit dem Begriff „soziale Ungerechtigkeit“. Hier trifft sich Galtungs Analyse mit der Kritik am Kapitalismus in den Entwicklungsländern. Sie legitimiert den Kampf gegen sozial ungerechte Systeme (Guerilla etc.), auch wenn diese weitgehend auf direkte Unterdrückungsmaßnahmen verzichten."

[aus: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon Dritte Welt, Länder, Organisationen, Theorien, Begriffe, Personen, Reinbek 1991, S. 621-622]

Nimmt man entsprechend der Galtungschen Gewaltdefinition ("Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse") zu den beiden Gewaltformen vier Bedürfnisgruppen hinzu, ergibt sich folgende Typologie:


Gewalttypologie nach Galtung

Bedürfnisgruppen

Überleben
(Negation: Tod)

Wohlbefinden
(Negation: Not und Elend, Krankheit)

Identität / Sinn
(Negation: Entfremdung)

Freiheit
(Negation: Unterdrückung)

Direkte Gewalt

Töten

Verletzung, Belagerung, Sanktionen, Elend

Entsozialisation, Resozialisation, Bürger zweiter Klasse

Repression, Haft, Vertreibung, Ausweisung

Strukturelle Gewalt

Ausbeutung A

Ausbeutung B

Penetration, Segmentierung

Marginalisierung, Fragmentierung

In den 1990er Jahren hat Galtung seine Gewalttypologie um eine weitere Kategorie ergänzt und den Begriff der kulturellen Gewalt eingeführt: "Unter kultureller Gewalt verstehen wir jene Aspekte von Kultur, die dazu benutzt werden können, direkte oder strukturelle Gewalt zu rechtfertigen oder zu legitimieren. Sternenbanner, Kreuze und Sicheln, Flaggen, Hymnen und Militärparaden sowie das allgegenwärtige Porträt des Führers und Hetzreden und Plakate - all dies fällt einem dazu ein."

[Johan Galtung, Kulturelle Gewalt; in: Der Bürger im Staat 43, 2/1993, S. 106]

Besonders erklärungsbedürftig an der Gewalttypologie von Galtung, wie sie die Tabelle darstellt, ist die untere Zeile: Was bedeuten die Begriffe Ausbeutung (A und B), Penetration und Segmentierung, Marginalisierung und Fragmentierung in diesem Zusammenhang? Galtung führt hierzu aus:

"Um die Kategorien struktureller Gewalt diskutieren zu können, benötigen wir eine Vorstellung von einer Gewaltstruktur und ein Vokabular, um ihre einzelnen Aspekte identifizieren und feststellen zu können, wie sie zu den Bedürfniskategorien in Beziehung stehen. Meines Erachtens ist die Ausbeutung das Kernstück einer archetypischen Gewaltstruktur. Dies bedeutet nichts anderes, als dass manche, nämlich die sogenannten topdogs, aus der innerhalb dieser Struktur stattfindenden Interaktion einen wesentlich höheren Gewinn ziehen (...) als andere, die sogenannten underdogs (...).

Es besteht ein 'ungleicher Austausch', was allerdings einen Euphemismus darstellt. Die underdogs mögen in der Tat derart benachteiligt sein, dass sie davon sterben (verhungern oder aufgrund von Krankheiten und Seuchen dahinsiechen): Dies wird hier als Ausbeutung A bezeichnet. Die zweite Art der Ausbeutung (B) bedeutet, die underdogs einem permanenten ungewollten Elendszustands zu überlassen, der normalerweise Unterernährung und Krankheit mit einschließt. All dies geschieht innerhalb komplexer Strukturen und am Ende von langen, verzweigten Kausalketten und Zyklen.

Eine Gewaltstruktur hinterlässt ihre Spuren nicht nur auf dem menschlichen Körper, sondern auch in seinem Gedächtnis und in seinem Geist. Die nächsten vier Begriffe können als Bestandteile der Ausbeutung oder als in der Struktur enthaltene verstärkende Komponenten verstanden werden. Ihre Funktion ist es, die Bewusstseinsbildung und die Bewusstseinsmobilisierung, zwei Bedingungen für einen erfolgreichen Kampf gegen die Ausbeutung, zu verhindern.

Erstes wird erreicht mit Hilfe der Penetration des Bewusstseins des underdogs mit Elementen der topdog-Ideologie und der Verbindung dieser Penetration mit der Segmentierung, die dem underdog nur einen beschränkten Blick auf die Wirklichkeit erlaubt. Letztes ist das Ergebnis zweier Prozesse, der Marginalisierung und der Fragmentierung. Dabei werden die underdogs zum einen immer mehr an den Rand gedrängt und zur Bedeutungslosigkeit verurteilt sowie zum anderen gespalten und voneinander ferngehalten.

Diese vier Begriffe beschreiben an sich bereits Formen struktureller Gewalt. Sie alle kommen auch im Zusammenhang mit der Geschlechterfrage zur Anwendung - auch dann, wenn Frauen nicht immer höhere Sterbe- und Krankheitsraten aufweisen, sondern in der Tat höhere Lebenserwartungen haben mögen als Männer. Kurz gesagt, als Formen von Gewalt gehen Ausbeutung und Unterdrückung Hand in Hand: Sie sind jedoch nicht identisch."

[Johan Galtung, Kulturelle Gewalt; in: Der Bürger im Staat 43, 2/1993, S. 107]

„Durch die grundlegende Unterscheidung zwischen personaler und struktureller Gewalt bekommt Gewalt einen Doppelaspekt, und genauso ist es mit dem Frieden, der als Abwesenheit von Gewalt begriffen wird. Ein erweiterter Begriff von Gewalt führt zu einem erweiterten Begriff von Frieden: Frieden definiert als Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit von struktureller Gewalt. Wir bezeichnen diese beiden Formen als negativen Frieden bzw. positiven Frieden.“ [Johan Galtung]

[Autor: Ragnar Müller]

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