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Politikdidaktik

Herausforderungen für die politische Bildung

Die politische Bildung am Beginn des 21. Jahrhunderts [ist] mit einer gesellschaftlichen Umbruchs- und Übergangssituation konfrontiert, die sie zu neuen Perspektiven bei der Definition ihres Selbstverständnisses und ihrer Aufgaben zwingt. Diese Umbruchs- und Übergangssituation hat viele Facetten, und sie führt zu neuen Anforderungen nicht nur an die politische Bildung, sondern an das ganze Bildungswesen moderner Gesellschaften. Der Hinweis auf einige der Stichworte, unter denen der gesellschaftliche Wandel in der sozialwissenschaftlichen und politischen Publizistik diskutiert wird, muss hier zur Erläuterung genügen:

'Informations-, Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft': Das Industriezeitalter geht zu Ende; der Anteil der Arbeitsplätze in der Industrie sinkt in den modernen Gesellschaften kontinuierlich, Dienstleistungen und vor allem Arbeitstätigkeiten, die mit dem Umgang mit Wissen zu tun haben, gewinnen weiter an Bedeutung. Damit verblasst auch das industrielle Modell der Arbeit - ein Modell, welches das schulische Lernen vielfach beeinflusst hat. Die moderne Schule und die Schulpflicht haben sich historisch parallel zur Industrialisierung durchgesetzt, und die Ähnlichkeiten zwischen schulischer Lernorganisation und industrieller Arbeit sind recht offensichtlich: Taylorismus der Arbeit und die Arbeitsteiligkeit des Fachunterrichts; Massenproduktion und die Gleichschrittigkeit des Unterrichts (sowohl über die Jahre, von Klassenstufe zu Klassenstufe, als auch innerhalb des Klassenunterrichts mit der scheinbaren Selbstverständlichkeit, dass immer alle Schüler zur gleichen Zeit das Gleiche tun sollen); die strenge, zeitliche Rhythmisierung der Arbeitsvorgänge und des Schultages; die Gleichgültigkeit gegenüber dem Arbeitsgegenstand und das Bild des 'Stoffs', der 'durchgenommen' werden muss; das fehlerfreie Produkt und die eindeutig 'richtige Lösung'; das Arbeiten in erster Linie für den Gegenwert Geld und das Lernen in erster Linie für den Gegenwert Noten; die hierarchische und zentrale Steuerung der Arbeitsvorgänge und die bürokratische Steuerung der Schule.

Die Vorstellungen, die sich im Sinne eines kulturellen 'Scripts’ mit dem Begriff des 'Unterrichts' im schulischen Alltag und in den Erwartungen der Öffentlichkeit an die Schule (durchaus anders als in Erziehungswissenschaft und Fachdidaktiken) häufig noch verbinden, sind von diesem Arbeitsmodell nachhaltig beeinflusst worden: Unterricht als 'Stoffvermittlung' in einem plan-, steuer- und kontrollierbaren Prozess. (...)

'Mediengesellschaft': Vergleichsweise spät hat die politische Bildung damit begonnen, sich mit der 'digitalen Revolution' in der Medienlandschaft und der öffentlichen Kommunikation auseinander zu setzen, die Aufgaben des Faches in dieser Situation zu definieren und die Chancen auszuloten, die das Lernen mit digitalen Medien im Fach mit sich bringen kann. Trotz der akuten Krise in der IT-Branche (die in manchem an die Spekulations- und Überhitzungskrise während des ersten Eisenbahnbooms in den 1870er Jahren erinnert) dürfte die digitale Revolution eher noch am Anfang stehen. Noch sind ihre längerfristigen ökonomischen, politischen und kulturellen Auswirkungen nicht wirklich absehbar, und noch gibt es weitaus mehr offene Fragen als gesicherte Antworten, wenn es darum geht, die Lernpotenziale digitaler Medien für die (politische) Bildung zu erschließen.

'Pluralisierung und posttraditionale Gesellschaft': Mit dem Ende des Industriezeitalters erodieren auch die sozialen Schichten- und Milieustrukturen, welche die kulturelle Situation sowie die sozialen und politischen Konfliktlinien seit dem 19. Jahrhundert geprägt haben. Ein Pluralisierungs- und Individualisierungsschub lässt die nachindustrielle Gesellschaft noch weit mehr als die industrielle zu einer posttraditionalen Gesellschaft werden, in der die Menschen ihre persönliche Identität weitaus weniger als noch vor wenigen Jahrzehnten über die Zugehörigkeit zu politisch-kulturellen Milieus, in denen sie aufgewachsen sind, definieren. (...)

Zur Pluralisierung gehören ferner die kulturellen Wirkungen von Migration. Dies ist zwar für die politische Bildung kein wirklich neues Thema, es gibt eine beachtliche Tradition der Thematisierung von Migrationsproblemen in der politischen Bildung. Dennoch mangelt es erkennbar an Konzepten und Materialien, mit denen Migranten als Zielgruppe politischer Bildung besser als bisher angesprochen werden können. Dies ist ein Desiderat, dem das Fach nicht zuletzt als Konsequenz aus dem 11. September 2001 mehr Aufmerksamkeit widmen muss.

'Europäisierung und Globalisierung': Globalisierung steht als Stichwort der aktuellen politischen und sozialwissenschaftlichen Debatte für komplexe Prozesse der Internationalisierung von Kultur, Ökonomie und Politik. Unterhalb von Globalisierungsprozessen hat sich in Westeuropa in den letzten Jahrzehnten ein Prozess der Europäisierung entwickelt, der die Europäische Union (...) zu einer vierten politischen Entscheidungsebene gemacht hat. Politische Bildung ist dagegen nach wie vor zwar nicht thematisch, aber institutionell und wohl auch kulturell im Wesentlichen an das Bezugssystem des Nationalstaats gebunden, in dessen Kontext sie in ihrer modernen Form entstanden ist und für den sie Integrationsleistungen erbringen sollte. Es dürfte eher die Ausnahme als die Regel sein, dass Multiperspektivität und Kontroversität bei der Analyse aktueller Politik in der politischen Bildung so verstanden werden, dass dort, wo es vom Internationalisierungsgrad der Politik her geboten wäre, politische Positionen aus anderen Gesellschaften systematisch in die Debatte einbezogen werden. Die Fachkultur der politischen Bildung ist bisher wenig internationalisiert; das gilt auch für die Politikdidaktik im Vergleich zu anderen Wissenschaftsdisziplinen.

[Wolfgang Sander, Politische Bildung nach der Jahrtausendwende. Perspektiven und Modernisierungsaufgaben, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45/2002, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung, S. 37-38]

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