| |
 |
Identitäts- und Konkurrenztheorie (I)
|
Eine gewichtige Bedeutung für westliche Demokratielehren kommt der
Unterscheidung zwischen der ldentitätstheorie und der Konkurrenztheorie der
Demokratie zu. Sie hat die wissenschaftliche Diskussion lange Zeit befruchtet
und ist heute noch wegweisend, wenngleich sich die Zahl der Kritiker vermehrt
hat, weil die Gegenüberstellung ideologiebehaftet und simplifizierend sei.
 |
Die von Rousseau geprägte Homogenitätstheorie orientiert sich an einem
einheitlichen (homogenen) Volkswillen und einem vorgegebenen Gemeinwohl
("identitäre" Demokratietheorie). Sie leugnet die Legitimität
von lnteressenkonflikten. In diesem Verständnis bedeutet Demokratie
Identität von Regierenden und Regierten. Das Repräsentationsprinzip wird
grundsätzlich missbilligt: Der "Volkswille" könne nicht
vertreten werden. Der demokratische Anspruch des Modells, das den politisch
aktiven Bürger voraussetzt, sei nicht bestritten — die Gefahren, die ihm
innewohnen, liegen jedoch offen zutage. Der Versuch nämlich, die Einheit
des Staatsvolkes herzustellen, sie aufrechtzuerhalten und die
unterschiedlichen Interessen zu unterdrücken, schlägt im Extremfall in
totale Herrschaft um. Daher ist hierfür auch der Begriff "totalitäre
Demokratie" geprägt worden. Der "Führer" oder "die
Partei" setzt den einmal als richtig erkannten Gemeinwillen in die Tat
um. Abweichungen und oppositionelle Strömungen gelten als Ketzerei. Die
Menschen sollen zu ihrem Glück gezwungen werden. |
 |
Die Konkurrenztheorie der Demokratie, die sich am angelsächsischen Modell
ausrichtet, geht von der Existenz und Berechtigung unterschiedlicher
Interessen aus. Die politische Willensbildung soll in der pluralistischen
Gesellschaft durch einen offenen Prozess der Auseinandersetzung zwischen den
heterogenen Gruppeninteressen vonstatten gehen, wobei ein Minimum
gemeinsamer Überzeugung erforderlich ist. Aufgrund der Vielfalt der
Meinungen und der sozialen Konflikte kann es eine absolut richtige Lösung
nicht geben. Das Mehrheitsprinzip gilt daher als Grundlage für
Entscheidungen. Freilich darf keine "Tyrannei der Mehrheit", die
demokratische Spielregeln antastet und unveräußerliche Menschenrechte
verletzt, ausgeübt werden, weil auch die Mehrheit vor Unzulänglichkeiten
nicht gefeit ist. Ein ausgeprägter Minderheitenschutz bildet für dieses
Demokratieverständnis (...) einen konstitutiven Bestandteil. Die gewählten
Vertreter, während ihrer Amtszeit nicht an Aufträge gebunden, stellen sich
nach Ablauf der Legislaturperiode dem Votum der Wählerschaft. Damit
bedeutet Demokratie in diesem Verständnis nicht Herrschaft des Volkes,
sondern Herrschaft mit Zustimmung des Volkes. Insofern ist die
Konkurrenztheorie am Repräsentationsgedenken ausgerichtet. |
[Eckhard Jesse, aus: Bundeszentrale für politische Bildung:
Parlamentarische Demokratie 1, Informationen zur politischen Bildung Nr. 227,
1993]
[Seitenanfang]

Neben dem folgenden Text stehen drei Schaubilder zur Verfügung, die die
unterschiedlichen Ansätze der beiden Demokratietheorien veranschaulichen:
[Seitenanfang]

 |
Die Identitäts- und die
Konkurrenztheorie (II)
|
Die Identitätstheorie geht von der Vorstellung einer Identität von
Regierenden und Regierten aus. Sie stützt sich auf das Postulat Jean-Jacques
Rousseaus, dass nicht der Mehrheitswille (volonté de tous), sondern der
allgemeine Wille (volonté générale) sich im Gesetz niederschlagen solle.
Dieser allgemeine Wille ist nach Rousseau objektiv erkennbar und einheitlich.
Das für die Praxis entscheidende Moment der Identitätstheorie besteht darin,
dass die Einheit von Regierten und Regierenden keine Sonderinteressen und damit
keine Sondergruppen zulässt. Vertreter einer antipluralistischen
Staatsauffassung erkennen als demokratische Legitimierung nur Plebiszite
(Volksabstimmungen) an und lehnen folglich alle "intermediären
Gewalten" wie Parteien und Verbände ab. Sie gelten als Träger
(eigensüchtiger) Sonderinteressen, deren Wirken die Einheit von Regierten und
Regierenden zerstört. Sie wollen ihre Vorstellungen in einem an das imperative
Mandat gebundenen Rätesystem verwirklichen. Durch das imperative Mandat sind
die Delegierten (Räte) direkt von den Aufträgen und Weisungen der Wähler
abhängig und somit auch jederzeit abwählbar ("Recall"). Die jüngste
Geschichte hat gezeigt, dass in der Realität unter dem Hinweis auf die
Identität von Regierten und Regierenden der "einheitliche Volkswille"
gewaltsam durchgesetzt wurde, was zu den beiden totalitären Systemen des
Nationalsozialismus und des Kommunismus führte.
Im Vergleich zur Identitätstheorie geht die in den angelsächsischen Ländern
entwickelte Konkurrenztheorie nicht von einem einheitlichen Volkswillen, sondern
von unterschiedlichen Interessen und Interessengruppen aus. Joseph A. Schumpeter
(1883 bis 1950) beschreibt diese Theorie:
"Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur
Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die
Entscheidungsbefugnis mittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des Volkes
erwerben."
Es handelt sich um eine pragmatische Methode, die auf der Erkenntnis beruht,
dass die Bevölkerung eines Flächenstaates aufgrund ihrer Größe und
Verschiedenheit nicht in der Lage ist, sich selbst direkt zu regieren, sondern
auf Repräsentation durch ein über Parteien in Form von freien Wahlen
hervorgegangenes Parlament angewiesen ist. Der inhaltliche Kern der
Konkurrenztheorie deckt sich weitgehend mit der neueren Pluralismustheorie,
deren wesentliche Aussagen man wie folgt zusammenfassen kann:
 | Die in einer Gesellschaft existierenden Interessengegensätze werden
akzeptiert. |
 | Ein Gemeinwohl lässt sich nicht von vornherein (a priori) feststellen. |
 | Das Gemeinwohl ist das Resultat eines nachträglich (a posteriori)
zustande gekommenen Kompromisses im politischen Konkurrenzkampf. |
 | Der Ausgleich der verschiedenen Interessen ist nur möglich bei einem
Minimalkonsens über bestimmte Spielregeln (Wertordnung). Das heißt, die
politisch handelnden Gruppen müssen fähig und bereit zum Kompromiss sein.
Wenn sie Politik als Weltanschauungskampf betreiben und den politischen
Gegner als Feind betrachten und bekämpfen, ist einer pluralistischen
politischen Ordnung die Grundlage entzogen. |
 | Die Rolle des Staates in einer pluralistischen Gesellschaft besteht im
wesentlichen darin, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass dieser
Ausgleich stattfinden kann und die Spielregeln eingehalten werden. |
[Hans-Helmuth Knütter, aus: Bundeszentrale für politische
Bildung: Demokratie, Informationen zur politischen Bildung Nr. 165, Neudruck
1992]
[Seitenanfang]
|