Streitgespräch

 

Demokratie
Unterrichtsidee

Das folgende fingierte Gespräch zwischen drei der bedeutendsten Staatsphilosophen eignet sich hervorragend zur Umsetzung dieser schwierigen und theoretischen Materie im Unterricht. Es wurde von Bernd Rolf entwickelt und erstmals in der Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik (Heft 4/1998) veröffentlicht.

Wozu braucht man eigentlich einen Staat?

Eine Fernsehdiskussion zwischen Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau

Moderator: Meine sehr verehrten Damen und Herren, willkommen zur heutigen Ausgabe unserer Sendereihe "Forum Philosophie". Diesmal geht es um die Frage: Wozu braucht man eigentlich einen Staat? Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, drei der bedeutendsten Staatsphilosophen in unser Studio zu holen. Ich begrüße den Franzosen Jean-Jacques Rousseau, den Engländer John Locke und seinen Landsmann Thomas Hobbes.
Herr Hobbes, zunächst zu Ihnen. Sie gelten als Begründer der modernen Staatsphilosophie. Ihr politisches Hauptwerk, das 1651 veröffentlicht wurde, haben Sie "Leviathan" genannt. Was soll dieser rätselhafte Titel eigentlich bedeuten?

Hobbes: Nun, zu meiner Zeit kannten sich die Menschen noch im Alten Testament aus. Dort wird in den Büchern Hiob und Jesaja, auch in den Psalmen, ein Meeresungeheuer namens Leviathan - eine Art Schlange oder Drache - erwähnt, das den Menschen Furcht und Schrecken einjagt. Ich habe dieses Ungeheuer als Sinnbild für die Staatsgewalt benutzt. Der Staat verbreitet als höchste irdische Macht Furcht und Schrecken und unterwirft sich dadurch alle anderen Mächte.

Moderator: Das ist ja eine ganz andere Auffassung vom Staat als die des antiken Philosophen Aristoteles, die bis ins Mittelalter hinein gültig war. Für Aristoteles, der den Menschen als soziales Wesen ansieht, ist der Staat nichts Furchterregendes, sondern gewissermaßen die Erfüllung des Menschseins.

Hobbes: Ja, sie haben vollkommen recht. Aber ich betrachte den Menschen nicht mehr als soziales Wesen, sondern gehe vom einzelnen Menschen und seiner individuellen Freiheit aus. Niemand ist von Natur aus einem anderen untertan, so dass jegliche Einschränkung dieser Freiheit, eben auch durch den Staat, nur gerechtfertigt ist, wenn ihr jeder einzelne Bürger zustimmen kann. Ich wollte im "Leviathan" zeigen, dass der Staat, der Furcht und Schrecken verbreitet, letztlich auf der Zustimmung aller Menschen beruht.

Moderator: Können Sie Ihre Argumente hier noch einmal wiederholen?

Hobbes: Sehen sie: Um die Existenz des Staates zu rechtfertigen, gehe ich vom Naturzustand aus, also vom Gegenteil dessen, was ich beweisen will.

Moderator: Aber einen solchen Zustand gibt es doch nirgendwo mehr auf der Erde. Wo leben Menschen denn noch unter natürlichen Verhältnissen?

Hobbes: Sie haben mich nicht richtig verstanden. Mit Naturzustand meine ich nicht einen primitiven Entwicklungszustand, in der die Menschen noch ohne technische Hilfsmittel auskommen müssen. Darunter verstehe ich vielmehr den Zustand, in dem die Menschheit sich befindet, wenn es keinen Staat gibt, also einen Zustand ohne Herrschaft, ohne Gesetze usw. Außerdem handelt sich dabei ja um ein Gedankenexperiment. Ich nehme einen solchen Zustand ohne Staat an, um zu untersuchen, welche Mängel dann auftreten würden. Daraus ließe sich dann ableiten, wozu ein Staat notwendig ist. Ich gehe davon aus, dass alle Menschen einer staatlichen Autorität zustimmen würden, wenn sie diese Mängel abstellen könnte.

Moderator: Mmh, ich verstehe. Und um welche Mängel handelt es sich denn?

Hobbes: Der Naturzustand ist für mich gekennzeichnet durch einen "Krieg eines jeden gegen jeden". Damit will ich nicht sagen, dass Menschen ohne Staat immer in einem Kriegszustand leben würden, aber sie ständen sich misstrauisch und feindselig gegenüber und wären jederzeit bereit, mit Waffengewalt aufeinander loszugehen. Um es bildlich auszudrücken: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf ...

Rousseau: ...aber das ist doch Unsinn, der Mensch ist von Natur aus gar nicht egoistisch und bösartig, wie ich in meinem "Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit der Menschen" gezeigt habe.

Moderator: Herr Rousseau, bitte lassen Sie Herrn Hobbes ausreden. Sie werden gleich Gelegenheit haben, Ihre Position darzulegen.

Hobbes: Doch, Herr Rousseau, wenn man es realistisch betrachtet, sind die Menschen vor allen Dingen an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert, sie sind Egoisten. Dieses - wenn Sie so wollen, pessimistische - Menschenbild habe ich während der langen Zeit des Bürgerkrieges in meinem Land gewonnen, der meine Existenz bedrohte und mich 1640 dazu bewog, für 10 Jahre ins Exil nach Frankreich zu gehen. - Eine zweite Voraussetzung, die ich mache, besteht darin, dass die Natur die Menschen annähernd gleich geschaffen hat. Auch der Schwächste ist noch stark genug, den Stärksten zu töten, wenn er sich einer List bedient oder sich mit anderen verbündet. Daraus folgt, dass im Naturzustand niemand einen Vorteil für sich beanspruchen kann, den nicht ein anderer ebenso gut für sich verlangen könnte. Wenn es keinen Staat gibt, dann hat eben jeder ein Recht auf alles. Und so kommt es zu Konkurrenz und Streit, eben zu dem, was ich "Krieg eines jeden gegen jeden" genannt habe.

Moderator: Wie ließe sich ein solcher Krieg denn vermeiden ?

Hobbes: Der alleinige Weg dazu besteht in der Errichtung einer allgemeinen Gewalt, d.h. in der Errichtung eines Staates. Ich habe diesen Geburtsakt des Staates als Gesellschaftsvertrag bezeichnet. Er darf nicht mit dem Herrschaftsvertrag verwechselt werden, der zwischen dem Fürsten und dem Volk abgeschlossen wird. Den Gesellschaftsvertrag gehen die Bürger untereinander, nicht mit dem Herrscher ein. Wenn die Ursache des Krieges das Recht auf alles ist, dann müssen die Menschen, um Frieden zu halten, untereinander einen Vertrag schließen, in dem sie erklären, dass sie auf dieses Recht auf alles verzichten, und ihre Macht auf einen Menschen, den Souverän, übertragen. Der Souverän ist durch seine Macht in der Lage, sie vor gegenseitigen Übergriffen und auch vor den Angriffen Fremder zu schützen. Diese Aufgabe kann übrigens auch von einer Versammlung von Menschen übernommen werden.

Moderator: Gehen Sie wirklich davon aus, dass Menschen freiwillig auf Ihre Rechte verzichten?

Hobbes: Ja, denn selbst ein Egoist sieht ein, dass es für ihn auf lange Sicht vorteilhafter ist, in Frieden und Sicherheit zu leben als in ständiger Todesfurcht, die er im Kriegszustand ja haben muss. Und ein Egoist möchte ja möglichst angenehm leben, wozu der Friede eine Voraussetzung ist.

Moderator: Aber was geschieht, wenn sich einige Menschen ausschließen und nun den Vertrag nicht unterzeichnen?

Hobbes: Das wäre in der Tat ein Problem. Ein Mensch wird ja nur dann bereit sein, auf etwas zu verzichten, wenn alle anderen dies auch tun und keinen Vorteil daraus ziehen, dass er sein Recht aufgibt. Aber eben deshalb kann sich auch jeder ausrechnen, dass der Vertrag erst gar nicht zustande käme, wenn nicht alle – mit Ausnahme des Souveräns – auf ihre Rechte verzichten würden. - Ich muss Sie jedoch noch einmal daran erinnern, dass wir uns hier in einem Gedankenexperiment befinden. Der Vertrag wird ja nicht wirklich abgeschlossen. Ich glaube aber nun gezeigt zu haben, dass alle Menschen, wenn sie darüber nachdenken würden, einem solchen Vertrag zustimmen würden. Und daraus leite ich ab, dass man unterstellen kann, dass ein Staat gerechtfertigt ist.

Moderator: Ich verstehe. Und wie groß ist Ihrer Ansicht nach die Macht des Staates?

Hobbes: Das ergibt sich aus dem, was bisher gesagt wurde. Solange der Staat den Bürgern Frieden und Sicherheit garantiert, schulden sie ihm totalen Gehorsam. Kein Mensch hat das Recht, dem Willen des Souveräns Widerstand zu leisten, auch dann nicht, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Der Souverän kann nicht einmal zur Rechenschaft gezogen werden, wenn er einen Menschen unschuldig hinrichten lässt, wenn er glaubt, dass dies im Interesse des Friedens nötig ist. Die Gehorsamspflicht der Untertanen endet erst dann, wenn der Staat seiner Aufgabe der Friedenssicherung nicht mehr nachkommen kann.

Rousseau: Skandalös! Damit könnte man ja sogar eine absolute Monarchie rechtfertigen. Das ist für mich als Demokrat überhaupt nicht akzeptabel. Und damit, dass die Bürger keine Freiheiten und Rechte haben, kann doch niemand einverstanden sein.

Hobbes: Aber bedenken Sie doch: nur ein starker Staat kann wirklich Frieden stiften. Das ist jedenfalls mein Fazit aus den Wirren des Bürgerkrieges in meinem Land, der 1649 erst durch die Diktatur Cromwells beendet werden konnte. Gegenüber dem Terror der Anarchie erscheint mir die Gefahr der Despotie als das weitaus geringere Übel.

Moderator: Ich bin mir nicht sicher, ob diese Alternative richtig ist. - Aber nun zu Ihnen, Herr Locke. Sie gelten mit ihren "Zwei Abhandlungen über die Regierung" von 1689/90 als Begründer des Liberalismus und als einer der Wegbereiter der amerikanischen Verfassung. Was halten Sie von den staatsphilosophischen Überlegungen Ihres Kollegen Hobbes?

Locke: Ich beurteile sie sehr zwiespältig. Die Rechtfertigung des Staates durch den Gesellschaftsvertrag ist für mich eine der genialsten Ideen der politischen Philosophie, darin bin ich Hobbes gefolgt. Aber ich habe eine ganz andere Auffassung vom Naturzustand - und daraus ergibt sich für mich auch eine ganz andere Sicht des Staates. Selbst ein Zustand ohne staatliche Autorität ist für mich noch kein zügelloser Zustand, denn es gibt natürliche Rechte und Pflichten. Die Vernunft, wenn sie denn nur zu Rate gezogen wird, lehrt die Menschen, dass niemand den anderen töten, verletzen, bestehlen oder seiner Freiheit berauben darf. Denn wenn alle Menschen gleich sind, muss ich das, was ich für mich in Anspruch nehme, auch den anderen zubilligen: also das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Eigentum.

Moderator: Die Menschenrechte?

Locke: Ja, ich habe sie "natürliche Rechte" genannt. Das sind unveräußerliche Rechte, die jedem Menschen als Menschen zukommen, also nicht erst durch den Staat verliehen werden, sondern schon im Naturzustand existieren.

Moderator: Aber wo gibt es dann noch Probleme im Zusammenleben der Menschen, wenn es schon im Naturzustand diese Rechte und ihnen entsprechende Pflichten gibt?

Locke: Sehen Sie: Die natürlichen Rechte, so wie die Vernunft sie uns eingibt, sind allgemein und abstrakt. Da die Rechte nicht eindeutig formuliert sind, kann es bei der Anwendung Probleme geben. Es kann Streit darüber entstehen, wie diese Rechte im konkreten Einzelfall zu interpretieren sind, besonders, wenn die Kontrahenten parteiisch sind. Ferner ist es möglich, dass es Probleme gibt, diese Rechte gegen Widerstände durchzusetzen, so dass jemand zwar im Recht ist, aber nicht Recht bekommt.

Moderator: Und welche Aufgaben des Staates ergeben sich daraus?

Locke: Das liegt doch nun auf der Hand: Der Staat hat die Aufgabe, die natürlichen Rechte durch eindeutig formulierte Gesetze zu konkretisieren. Er hat ferner darüber zu wachen, dass diese Gesetze auch eingehalten werden. Und im Streitfall braucht er Richter, die Gesetze unparteiisch auslegen. Wenn man dies zusammenfasst, könnte man sagen: Der Staat hat die Aufgabe der Sicherung der natürlichen Rechte.

Moderator: Darf der Staat eigentlich selber gegen diese Rechte verstoßen?

Locke: Nein, auf keinen Fall. Auch der Staat muss die natürlichen Rechte beachten, die dem Menschen ja schon im Naturzustand zukommen. Das Gewaltmonopol des Staates stellt aber aus meiner Sicht - darin unterscheide ich mich von Herrn Hobbes - eine große Gefahr für die Freiheit der Bürger dar. Deshalb muss man den Staat so einrichten, dass die Bürger vor Machtmissbrauch geschützt werden. Das ist einer der Grundforderungen des Liberalismus.

Moderator: Wie wollen Sie das erreichen?

Locke: Durch Gewaltenteilung. Die Legislative, d.h. die gesetzgebende Gewalt, und die Exekutive, das ist die Gewalt, die den Gesetzen Anerkennung verschafft, müssen getrennt sein, und die Legislative muss einer Kontrolle unterzogen werden können. Ich denke da an eine gesetzgebende Versammlung, die vom Volk abberufen oder geändert werden kann, wenn sie dem in sie gesetzten Vertrauen zuwiderhandelt. Mein französischer Kollege Montesquieu hat den Gedanken der Gewaltenteilung übrigens weiterentwickelt und auf die richterliche Gewalt, die Judikative, ausgedehnt. So kann die Freiheit der Bürger wirksam geschützt werden.

Rousseau: Unglaublich! Dieser sogenannte Liberalismus hat doch nicht wirklich etwas mit Freiheit zu tun, sondern ist nichts anderes als eine Rechtfertigung der bürgerlichen Klasse. Freiheit bedeutet für Sie, Herr Locke, doch nur die Freiheit der Reichen und Besitzenden. Ihr Staat ist nichts anderes als ein "Nachtwächterstaat", der darüber wacht, dass den wohlhabenden Bürgern nichts gestohlen wird. Für mich hat ein Mensch nicht nur das Recht, dass ihm nichts weggenommen wird, sondern einen positiven Anspruch auf Eigentum. Das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Güter an alle Menschen gleich verteilt werden müssen, dass der Staat die Aufgabe hat, den Unterschied zwischen Arm und Reich aufzuheben.

Moderator: Nachdem Sie sich nun schon wieder einmal dazwischengedrängt haben, nun also zu Ihnen, Herr Rousseau. Wenn ich Sie auch kurz vorstellen darf: Sie gelten als einer der geistigen Väter der Französischen Revolution, jedenfalls haben die Revolutionäre sich auf Ihre Ideen berufen. Wie wir ja schon alle gehört haben, lehnen Sie die Gedanken von Hobbes und auch Locke radikal ab. Da verwundert es mich sehr, dass Ihr politisches Hauptwerk den Titel "Vom Gesellschaftsvertrag" trägt.

Rousseau: Das ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit mit diesen beiden Herren, ansonsten möchte ich mit ihnen nichts zu tun haben. Und ich behaupte, dass ich der einzige bin, der die Idee des Gesellschaftsvertrages richtig verstanden hat. Wie ich schon gesagt habe, geht es mir um die Freiheit des Menschen. Und da ist mir damals - im Jahr 1762 - folgendes aufgegangen: Im Naturzustand ist der Mensch vollkommen frei. Wo ich aber auch hinsah: überall war der Mensch in Ketten. Das Grundproblem der politischen Philosophie lautet daher: Wie kann man eine Staatsform finden, die den einzelnen schützt, in der er aber seine Freiheit nicht aufgeben muss?

Hobbes: Das ist doch unmöglich!

Rousseau: Nein, es ist möglich, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind, von denen ich hier aus Zeitgründen nur zwei erläutern kann. Die erste Voraussetzung ist die, dass bei Vertragsschluss alle Menschen wirklich gleich behandelt werden, ohne eine einzige Ausnahme. Daher darf es nicht - wie bei Hobbes - einen Souverän geben, der außerhalb des Gesellschaftsvertrages steht, der nicht auf seine Rechte verzichtet, sondern auf den alle Rechte übertragen werden. Nicht die Willkür eines Souveräns soll das staatliche Handeln lenken, sondern der "allgemeine Wille". In politischen Fragen muss der Wille des Volkes maßgeblich sein; die Idee des Gesellschaftsvertrages führt also notwendig zur Demokratie. Darunter verstehe ich direkte Befragung aller Bürger bei allen politischen Beschlüssen. Nur so kann die natürliche Freiheit der Bürger im Staat erhalten bleiben: Wenn der staatliche Wille und der Wille des einzelnen übereinstimmen, ist jeder frei, weil er, indem er dem Staat gehorsam ist, letztlich nur seinem eigenen Willen folgt.

Locke: Aber wenn man die Bürger in Abstimmungen befragt, dann ergeben sich doch sehr viele unterschiedliche Meinungen, dabei kommt doch kein einheitlicher Wille heraus. Und das ist ja auch ganz verständlich, weil die Interessen der Menschen ganz verschieden sind. Ein Fabrikant beispielsweise hat doch ganz andere Interessen als ein Arbeiter.

Rousseau: In diesem Punkt gebe ich Ihnen recht. Der allgemeine Wille ist nicht identisch mit der Summe der Einzelwillen. Und damit komme ich auch zu meiner zweiten Voraussetzung. Wenn die unterschiedlichen Willen wirklich auf unterschiedlichen Interessen beruhen, dann müssen wir eben dafür sorgen, dass Interessenunterschiede erst gar nicht entstehen. Und wenn diese Interessenunterschiede von unterschiedlichen Besitzverhältnissen herrühren, dann müssen wir dafür sorgen, dass alle das gleiche besitzen. Deshalb ist es beim Gesellschaftsvertrag notwendig, dass die Menschen sich nicht nur ihrer Rechte entäußern, sondern auch ihres Besitzes. Für den Staat ergibt sich daraus die Aufgabe, die gesellschaftlichen Güter gleich zu verteilen. Unter dieser Voraussetzung, dass alle das gleiche besitzen, gäbe es keine unterschiedlichen Interessen, sondern nur noch ein gemeinsames Interesse an der gemeinschaftlichen Sicherung des Lebens. Und so wären dann Herrschaft des allgemeinen Willens und damit Erhaltung der natürlichen Freiheit im Staat möglich.

Hobbes: Diese Ideen sind doch völlig unrealistisch! Der Verlauf der Geschichte hat ja auch gezeigt, dass sie sich nicht durchsetzen konnten. Direkte Demokratie - das geht vielleicht in einem kleinen Staat wie in Ihrem Geburtsort Genf. Aber in Flächenstaaten, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert überall in der Welt entstanden sind, ist das ja wohl nicht durchführbar. Und Gleichverteilung von Gütern - das erinnert mich sehr an das Experiment des Kommunismus, das in den europäischen Ostblockstaaten kläglich gescheitert ist.

Rousseau: Vergessen Sie bitte nicht, dass in den Flächenstaaten die Demokratie immerhin in der Form der repräsentativen Demokratie eingeführt worden ist. Und ohne meine Forderung nach Gleichverteilung der Güter hätte es im 19. Jahrhundert wahrscheinlich nicht den Kampf um soziale Gerechtigkeit gegeben, der zur Einrichtung des Sozialstaates führte. Dem Staat darf das Wohlergehen seiner Bürger nicht völlig gleichgültig sein. Wenn er sich nicht um die sozial Schwachen, Kranken, Arbeitslosen oder sonst zu kurz Gekommenen kümmert, wer dann?

Locke: Aber der Staat geht bankrott, wenn er sich um alle Sozialfälle kümmern soll (...).

Moderator: Meine Herren, das können wir jetzt leider nicht mehr ausdiskutieren, denn unsere Sendezeit ist abgelaufen und wir müssen zum Schluss kommen. Sie sind sich im Hinblick auf die Frage, wozu wir den Staat eigentlich brauchen, zwar nicht einig geworden. Mir scheint allerdings, dass Ihre Staatsentwürfe sich nicht völlig ausschließen. Zweifellos ist der Staat notwendig, um durch sein Gewaltmonopol den inneren und äußeren Frieden zu sichern, wie Sie, Herr Hobbes, betont haben. Wenn wir auf den modernen (...) Staat sehen, erkennen wir, dass er als liberaler Verfassungsstaat auch die natürlichen Rechte der Menschen schützt, wie Sie, Herr Locke, gefordert haben. Und er versteht sich nicht zuletzt als demokratischer Wohlfahrtsstaat, der sich ganz in Ihrem Sinne, Herr Rousseau, auch um das Wohlergehen der Bürger kümmert und für sozialen Ausgleich sorgt. Meine Herren, vielen Dank für dieses Gespräch!

[© Bernd Rolf, Erstveröffentlichung: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 4/1998]

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