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Rigoberta
Menchú Tum
Rede
bei der Verleihung des Friedensnobelpreises (Auszüge)
[Oslo,
10. Dezember 1992]
[Die
gesamte Rede auf englisch finden Sie auf der Seite Nobel
Prize] |
Ich bin tief berührt und stolz darauf, mit dem
Friedensnobelpreis 1992 ausgezeichnet worden zu sein. Tief berührt persönlich
und stolz auf mein Land und seine sehr alte Kultur. Auf die Werte der
Gemeinschaft und das Volk, dem ich angehöre, auf die Liebe zu meinem Land, zur
Mutter Natur. Wer immer dies versteht, respektiert das Leben und ermutigt den
Kampf, der danach strebt.
Ich betrachte diesen Preis nicht als eine persönliche Auszeichnung, sondern als
einen großen Sieg im Kampf um Frieden, um Menschenrechte und um die Rechte der
eingeborenen Völker, die die ganzen 500 Jahre lang vertrieben und zu Opfern von
Genozid, Unterdrückung und Diskriminierung wurden...
Der Nobelpreis... ermutigt uns, damit fortzufahren, auf die
Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen, die gegen das Volk in Guatemala verübt
werden, in Amerika und in der Welt, und eine positive Rolle zu spielen
hinsichtlich der dringendsten Aufgaben in meinem Land, nämlich Frieden und
soziale Gerechtigkeit zu schaffen.
Der Nobelpreis ist ein Symbol für den Friedens und für die Anstrengungen, eine
echte Demokratie aufzubauen. Er wird die zivilen Kräfte stimulieren, so dass
diese - durch eine solide nationale Einheit - zum Verhandlungsprozess beitragen
können, der in seiner Suche nach Frieden den allgemeinen Wunsch der
Gesellschaft Guatemalas widerspiegelt, auch wenn man ihn zur Zeit aus Angst
nicht offen aussprechen kann: Den Wunsch, ein politisches und rechtliches
Fundament zu errichten, das der Lösung dessen, was den inneren bewaffneten
Konflikt hervorgerufen hat, einen unumkehrbaren Impuls gibt.
Es gibt keinen Zweifel, dass er ein Zeichen der Hoffnung setzt im Kampf der
eingeborenen Völker auf dem gesamten Kontinent...
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Die Bedeutung dieses Nobelpreises hat sich an
all den Gratulationen gezeigt, die ich von überall her erhalten habe, von
Staatsoberhäuptern - von praktisch allen amerikanischen Präsidenten -, von den
Organisationen der eingeborenen Völkern und Menschenrechtsorganisationen aus
aller Welt... Im Gegensatz dazu und paradoxerweise war es mein eigenes Land, wo
ich - von seiten einiger Menschen - auf die größten Widerstände gestoßen
bin, auf Reserviertheit und Gleichgültigkeit gegenüber der Auszeichnung mit
dem Nobelpreis für eine Quiché-Indianerin. Vielleicht weil es von ganz
Lateinamerika genau Guatemala ist, wo die Diskriminierung der Eingeborenen, der
Frauen und die Unterdrückung des Wunsches nach Frieden und Gerechtigkeit in
bestimmten sozialen und politischen Bereichen tiefer verwurzelt sind...
Mit tiefem Schmerz auf der einen, aber mit Befriedigung auf der anderen Seite
muss ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass der Friedensnobelpreis 1992
vorläufig in Mexiko-City bleiben und - in einer Art Totenwache - auf Frieden in
Guatemala warten muss...
Ich möchte ein paar Worte im Namen all derer sagen, deren Stimme man nicht
hören kann oder die unterdrückt wurden, weil sie ihre Meinung geäußert
haben, im Namen all derer, die an den Rand gedrängt, diskriminiert wurden, die
in Armut leben, im Namen all derer, die Opfer von Unterdrückung und
Menschenrechtsverletzungen sind. Die trotzdem jahrhundertelang durchgehalten
haben, die ihr Gewissen nicht verloren haben, die Art der Bestimmung und die
Hoffnung.
Bitte erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, ein paar Worte über mein Land
und die Kultur der Mayas zu sagen. Das Volk der Maya breitete sich über etwa
300.000 Quadratkilometer aus; es besiedelte Teile des Südens Mexikos, Belize,
Guatemala sowie Honduras und El Salvador; es entwickelte eine sehr reiche Kultur
auf dem Gebiet der politischen Organisation wie in den Bereichen des Sozialen
und Ökonomischen; die Mayas waren große Wissenschaftler auf den Gebieten der
Mathematik, Astronomie, Landwirtschaft, Architektur und Ingenieurwesen; sie
waren große Künstler auf den Gebieten der Bildhauerei, Malerei, Weben und
Schnitzen...
Ihre astronomischen Vorhersagen auf der Basis mathematischer Berechnungen und
wissenschaftlicher Beobachtungen waren erstaunlich und sind es immer noch. Sie
hatten einen genaueren Kalender als den Gregorianischen... Heute ist es wichtig,
den tiefen Respekt hervorzuheben, den die Maya-Kultur dem Leben und der Natur im
allgemeinen entgegenbrachte.
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Wer könnte sagen, welch weitere große
wissenschaftliche Entdeckungen und Entwicklungen diese Menschen erzielt haben
könnten, wenn sie nicht mit Blut und Feuer überzogen und einem Ethnozid
unterworfen worden wären, der im Lauf von 500 Jahren fast 50 Millionen Menschen
betroffen hatte.
Ich möchte die Bedeutung dieses Nobelpreis in erster Linie beschreiben als ein
Tribut an die Indianervölker, die geopfert wurden und verschwunden sind, weil
sie nach einem würdevolleren und gerechteren Leben mit Brüderlichkeit und
Verständigung zwischen den Menschen strebten...
Er ist auch ein Zeichen für das wachsende internationale Interesse und
Verständnis für die ursprünglichen Rechte der Völker, für die Zukunft von
mehr als 60 Millionen Indianer, die in unserem Amerika leben, und ihrem Aufstand
nach 500 Jahren der Unterdrückung, die sie erdulden mussten; für die
beispiellosen Genozide, die sie diese ganze Zeit lang erleiden mussten, und von
denen andere Länder und die amerikanischen Eliten profitiert haben...
Er ist die Anerkennung der europäischen Schuld an den eingeborenen Völkern
Amerikas; er ist ein Appell an das Gewissen der Menschheit, damit jene Voraussetzungen
für die Marginalisierung, die sie verdammt haben zu Kolonialismus und
Ausbeutung, ausgelöscht werden können; er ist ein Schrei nach Leben, Frieden,
Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit zwischen den Menschen...
Die Erde ist die Wurzel und die Quelle unserer Kultur. Sie bewahrt unsere
Erinnerungen auf, sie nimmt unsere Vorfahren auf und deshalb fordert sie, dass
wir sie ehren und ihr mit Liebe und Respekt das Gute zurückgeben, das sie uns
gibt. Wir müssen auf sie aufpassen und nach der Mutter Erde schauen, damit
unsere Kinder und Enkel weiter von ihr profitieren können. Wenn die Welt jetzt
nicht lernt, die Natur zu respektieren, was für eine Zukunft werden dann
kommende Generationen haben?...
Wenn die Indianer-Kultur und die europäische Kultur zum friedlichen und
harmonischen Austausch in der Lage gewesen wären, ohne Zerstörung, Ausbeutung,
Diskriminierung und Armut, hätten sie zweifellos größere und wertvollere
Errungenschaften für die Menschheit erzielen können.
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Wir dürfen nicht vergessen, dass es - als die
Europäer nach Amerika kamen - dort blühende und starke Kulturen gab. Man kann
nicht von einer Entdeckung Amerikas sprechen, denn man entdeckt etwas, von dem
man nicht wusste oder was versteckt war. Aber Amerika und seine eingeborenen
Kulturen hatten sich selbst entdeckt lange vor dem Ende des Römischen Reiches
und dem mittelalterlichen Europa. Seine Kulturen bilden einen Teil des
menschlichen Erbes und erstaunen nach wie vor die Gebildeten.
Ich denke, es ist notwendig, dass das Volk der Indianer, dem ich angehöre, mit
unserer Wissenschaft und unserem Wissen einen Beitrag leisten sollte zur
Entwicklung der Menschheit, denn wir haben ein riesiges Potential und wir
könnten unser sehr altes Erbe integrieren in die Errungenschaften der Kultur in
Europa wie auch in anderen Teilen der Welt...
Wir die Indianer sind dazu bereit, Tradition mit Modernisierung zu verbinden,
aber nicht zu jedem Preis. Wir werden weder tolerieren noch zulassen, dass
unsere Zukunft verplant wird als mögliche Wächter von ethno-touristischen
Projekten auf kontinentaler Ebene...
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, ein paar aufrichtige Worte über mein
Land zu sagen. Die Aufmerksamkeit, die dieser Friedensnobelpreis auf Guatemala
gelenkt hat, sollte es mit sich bringen, dass die Menschenrechtsverletzungen
international nicht länger ignoriert werden. Er wird auch all jene ehren, die
gestorben sind im Kampf für soziale Gleichheit und Gerechtigkeit in meinem
Land.
Überall auf der Welt weiß man, dass es dem Volk Guatemalas als Folge seines
Kampfes im Oktober 1944 gelungen ist, eine Phase der Demokratie zu erreichen, in
der Institutionalität und Menschenrechte die vorherrschende Philosophie war.
Damals war Guatemala auf dem amerikanischen Kontinent eine Ausnahme wegen des
Kampfes für vollständige nationale Souveränität. 1954 jedoch stürzte eine
Verschwörung aus traditionellen nationalen Machtzentren, Erben des
Kolonialismus und mächtigen ausländischen Interessen das demokratische Regime
und errichtete das alte Unterdrückungssystem, das die Geschichte meines Landes
begleitet hat.
Die ökonomische, soziale und politische Unterordnung im Zuge des Kalten Krieges
war es, die zum bewaffneten inneren Konflikt geführt hat. Die Unterdrückung
der Organisationen des Volkes, der demokratischen Parteien und der
Intellektuellen begann in Guatemala lange bevor der Krieg begann. Das dürfen
wir nicht vergessen.
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In dem Versuch, den Widerstand zu brechen,
haben sich Diktaturen der schlimmsten Abscheulichkeiten schuldig gemacht. Sie
haben Dörfer dem Erdboden gleichgemacht, Tausende Bauern ermordet, besonders
Indianer, Hunderte von Gewerkschaftern und Studenten, herausragende
Intellektuelle und Politiker, Priester und Nonnen. Während der gesamten
systematischen Verfolgung im Namen der nationalen Sicherheit wurden eine Million
Bauern mit Gewalt von ihrem Land vertrieben, 100.000 mussten in Nachbarländer
flüchten. In Guatemala gibt es heute fast 100.000 Waisen und mehr als 40.000
Witwen... Wie Sie wissen, bin ich selbst eine Überlebende einer massakrierten
Familie.
Das Land stürzte in eine Krise ungekannten Ausmaßes und die weltweiten
Veränderungen zwangen und ermutigten das Militär, eine politische Öffnung
zuzulassen, die aus der Vorbereitung einer neuen Verfassung bestand... Wir haben
dieses neue Regime seit acht Jahren und in bestimmten Bereichen gab es
bedeutsame Öffnungen.
Trotz dieser Öffnungen gibt es jedoch nach wie vor Unterdrückung und
Menschenrechtsverletzungen mitten in einer ökonomischen Krise, die zunehmend
akut wird bis zu dem Grad, dass heute 84% der Bevölkerung in Armut lebt und
etwa 60% in äußerster Armut. Bestrafung und Terror halten die Menschen nach
wie vor davon ab, ihre Nöte und Forderungen frei auszusprechen. Der innere
bewaffnete Konflikt dauert immer noch an...
Es ist notwendig, gerade hier in Oslo, herauszustellen, dass das Thema
Menschenrechte in Guatemala jetzt das drängendste Problem darstellt, das einer
Lösung harrt... Wie von internationalen Institutionen wie der United Nations
Commission on Human Rights, der Interamerican Commission of Human Rights und
vielen anderen humanitären Organisationen festgestellt wurde, zählt Guatemala
zu den amerikanischen Ländern mit der größten Zahl an Verletzungen dieser
Rechte...
Die Demokratie in Guatemala muss so schnell wie möglich aufgebaut werden. Und
das in völliger Übereinstimmung mit den Menschenrechten. Wir müssen dem
Rassismus ein Ende setzen, die Vereinigungsfreiheit und Freizügigkeit überall
im Land garantieren. Kurz, es ist zwingend, alle Bereiche hin zu einer
multi-ethnischen Zivilgesellschaft zu öffnen mit allen ihren Rechten, das Land
zu demilitarisieren und eine Basis für Entwicklung zu schaffen, damit es sich
aus der heutigen Unterentwicklung und Armut befreien kann...
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In der neuen Gesellschaft Guatemalas muss es
eine tiefgreifende Umorganisation geben hinsichtlich des Landbesitzes, um das
landwirtschaftliche Potential ausschöpfen zu können und um den rechtmäßigen
Besitzern das Land zurückzugeben, das ihnen weggenommen wurde...
Nicht weniger wichtig für eine Demokratie ist soziale Gerechtigkeit. das
erfordert eine Lösung für Probleme wie Kindersterblichkeit, Unterernährung,
mangelnde Bildung und Löhne, die zum Leben nicht ausreichen...
Ich rufe alle sozialen und ethnischen Kräfte, die das Volk Guatemalas bilden,
dazu auf, aktiv mitzuwirken, eine friedliche Lösung zu finden für den
bewaffneten Konflikt, eine tragfähige Einheit aufzubauen aus Ladinos, Schwarzen
und Indianern...
Genauso lade ich die internationale Gemeinschaft ein, mit bestimmten Aktionen
mitzuwirken, damit die betroffenen Parteien ihre Differenzen überwinden, die im
gegenwärtigen Stadium die Verhandlungen blockieren, damit dann zuallererst ein
Übereinkommen hinsichtlich der Menschenrechte unterzeichnet werden kann...
Heute müssen wir für eine bessere Welt kämpfen, ohne Armut, ohne Rassismus,
mit Frieden im Mittleren Osten und in Südostasien, wohin ich meine Bitte
richte, Aung San Suu Kyi zu befreien, Friedensnobelpreisträger 1991; für eine
gerechte und friedliche Lösung auf dem Balkan; für das Ende der Apartheid in
Südafrika; für Stabilität in Nicaragua, dass das Friedensabkommen in El
Salvador eingehalten wird; für die Wiederherstellung der Demokratie in Haiti;
für die vollständige Souveränität Panamas...
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