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Der folgende Text beschäftigt sich mit den wichtigsten Merkmalen des britischen Parteiensystem als dem klassischen Fall eines Zweiparteiensystems.

Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit der Diskussion um das britische Zweiparteiensystem: Handelt es sich dabei nur noch um einen Mythos? [...zum Abschnitt "Diskussion"]

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Das britische Zweiparteiensystem

Wie das Westminster Model parlamentarischer Regierungsweise überhaupt, so hat auch dessen Kernelement, das Zweiparteiensystem, in den vergangenen zwei Dekaden viel von seiner Ausstrahlungskraft eingebüßt. Das britische Regierungssystem galt über Jahrhunderte hinweg britischen wie ausländischen politischen Beobachtern als vorbildlich (...).

Dieses Denken prägt bis heute das Politikverständnis vieler Briten. Angesichts einer Dreiparteiensituation in der Zwischenkriegszeit, als die Labour Party nach und nach die Liberal Party als Gegenpol zu den Conservatives verdrängte, war der sozialistische Politikwissenschaftler Harold Laski tief davon überzeugt, dass allein mit der Rückkehr zum Zweiparteiensystem die grundlegenden gesellschaftlichen Konflikte widerzuspiegeln und politisch zu bündeln seien:

"Ein politisches System funktioniert um so zufriedenstellender, um so mehr es in der Lage ist, sich durch den Gegensatz zweier großer Parteien auszudrücken. (...) Obwohl das Gruppensystem wahrscheinlich die Art und Weise, in der sich der Volksgeist tatsächlich aufteilt, genauer widerspiegelt, ist dies fatal für das Regieren als praktische Kunst. Denn das wesentliche Bedürfnis der Administration ist die Abwesenheit von Unsicherheit. (...) Die Durchdringung von Parteien, und nicht so sehr die Bildung von Gruppen, ist daher der Weg, den Ideen normalerweise einschlagen sollten."

Funktionsfähige Regierungen waren den Briten immer schon ein wichtigeres Ziel als die möglichst genaue Wiedergabe des Spektrums der politischen Meinungen in Repräsentationskörperschaften. Auch wenn die funktionelle Verknüpfung von parlamentarischem Regierungssystem und Zweiparteiensystem auf der Grundlage der relativen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen in der Realität keineswegs immer so rein existierte, hat der britische Fall doch eine ungeheure normative Wirkung entfaltet. In zahlreichen Beiträgen zur Demokratie- und Parteientheorie werden dem Zweiparteiensystem beträchtliche Vorzüge gegenüber Mehrparteiensystemen auf der Grundlage des Verhältniswahlrechts zugesprochen. Das britische Modell bringe, so die Argumentation, in der Regel eine stabile Einparteienregierung hervor; Koalitionsbildungen seien daher unnötig. Die Regierungspartei trage für die Zeit ihrer Amtsperiode die alleinige politische Verantwortung; die Opposition könne sich in dieser Zeit als Regierung im Wartestand mit der Ausarbeitung eines alternativen Programms und der Kritik der jeweils Regierenden profilieren. Regierungs- und Oppositionspartei seien gezwungen, sich an den ausschlaggebenden Wählern in der politischen Mitte zu orientieren; das Parteienduopol garantiere somit moderate Politik und verhindere Radikalisierung und Fragmentierung der politischen Auseinandersetzung. Der Wähler habe bei seiner Stimmabgabe eine klare Zurechnungsgrundlage und bestimme direkt den zukünftigen Kurs des Landes.

Mit der immer offensichtlicher werdenden ökonomischen Dauerkrise Großbritanniens wurde allerdings seit den sechziger Jahren immer häufiger gefragt, ob die "britische Krankheit" nicht auch von politischen Strukturdefiziten herrühre. Die vorgeblichen Vorteile des Zweiparteiensystems wurden von britischen Politikwissenschaftlern unter dem Leitbegriff der adversary politics in ihr Gegenteil verkehrt. Nach dieser Interpretation trägt das Parteiensystem durch radikale Politikwechsel als Folge von Regierungswechseln zum British decline bei. Nur eine Wahlrechtsreform und die Etablierung eines von der politischen Mitte dominierten Mehrparteiensystems böten eine Chance zur politischen und wirtschaftlichen Gesundung.

Das Krisenbewusstsein hat sich auch in den Wahlergebnissen niedergeschlagen. Erfolge für die alte Liberal Party sowie die schottischen und walisischen Nationalisten in den siebziger Jahren, Umgruppierungen der politischen Mitte in den achtziger Jahren und der Aufschwung der Green Party bei der Europawahl 1989 haben das Duopol von Conservative Party und Labour Party unter Druck gesetzt. So wird bereits davon gesprochen, dass das Zweiparteiensystem an sein Ende gekommen sei.

Entgegen solchen Interpretationen ist der politische Prozess auch weiterhin von der "Mechanik" des Zweiparteiensystems bestimmt, die sich tief in das politische Bewusstsein eingeprägt hat. Zwar sind Erosionserscheinungen nicht zu übersehen, doch das Parteienduopol verfügt über institutionelle (Wahlrecht), sozialstrukturelle (soziale und regionale Verteilung der Wählerschaft) und habituelle (politische Kultur) Stützpfeiler, die ihm beträchtliche Anpassungsfristen für neue Herausforderungen einräumen und kaum zu überwindende Hürden für Dritt- und Kleinparteien darstellen. Ob also die Dominanz von Conservative Party und Labour Party ernsthaft bedroht ist, hängt vor allem davon ab, wie diese auf das veränderte politische Verhalten der Wähler und auf neue Konkurrenten auf dem politischen Markt reagieren.

Der klassische Fall eines Zweiparteiensystems

Das britische Parteiensystem entspricht dem "klassischen" Fall eines Zweiparteiensystems nach Giovanni Sartori ("Parties and Party Systems. A Framework for Analysis, Vol. I, Cambridge 1976), der in seiner Typologie folgende Regel aufgestellt hat: Eine Partei wird nur dann als relevanter Teil des Parteiensystems betrachtet, wenn sie über Parlamentssitze verfügt und wenn sie entweder Koalitions- bzw. Regierungspotential oder Störpotential aufweist, d.h. in positiver oder negativer Weise an der Regierungsbildung beteiligt ist.

Parteien ohne parlamentarische Basis und selbst kleinere Parlamentsfraktionen fallen aus diesem Analyserahmen heraus. Im britischen Falle bedeutet dies aufgrund des disproportional wirkenden relativen Mehrheitswahlrechts gegenwärtig, daß Sartoris Zählregel rund einem Viertel der abgegebenen Stimmen keinerlei Bedeutung für das Funktionieren des Parteiensystems beimisst. Zwar hat das Duopol von Conservative Party und Labour Party seit 1974 deutlich an Stimmen eingebüßt, bei der Sitzverteilung zeigt sich dessen Dominanz aber weiterhin fast unverändert (...).

Diese Relevanzkriterien der politikwissenschaftlichen Theorie finden ihre Entsprechung im politischen Alltagsgeschehen Großbritanniens. Allein die Regierung und die offizielle Opposition (Her Majesty's Opposition) spielen in der Medienberichterstattung eine Rolle. Den kleinen Parteien bleiben nur Wahlkampfzeiten, insbesondere die medienträchtigen Nachwahlen um verwaiste Parlamentssitze (by-elections), und bildschirmgerechte Parteiführer, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Ein Parteiensystem hat nach Sartori dann ein Zweiparteienformat, wenn zwei Parteien um die Mehrheit der Sitze streiten und eine Partei tatsächlich eine hinreichende parlamentarische Mehrheit gewinnt. Die Mechanik eines Zweiparteiensystems ist erst dann gegeben, wenn die siegreiche Partei bereit ist, allein zu regieren, und zumindest eine glaubhafte Chance besteht, dass die unterlegene Partei bei der nächsten Wahl einen Regierungswechsel herbeiführen kann. Diese Unterscheidung von Format und Mechanik des Zweiparteiensystems ist gerade im britischen Falle von Bedeutung. Selbst in Zeiten unklarer Mehrheitsverhältnisse, wie während der Labour-Regierungen von Februar bis Oktober 1974 und von April 1976 bis Mai 1979, war die stärkste Partei bisher immer bereit, die Regierungsverantwortung allein zu tragen. Koalitionen sind in höchstem Maße unbeliebt. Dies bekamen die Liberalen deutlich zu spüren, als sie die Labour-Regierung Callaghan auf der Grundlage eines informellen "Lib-Lab-Pakts" stützten und dafür innerparteilich wie in der Öffentlichkeit unter massiven Druck gerieten. Selbst wenn ein Zweiparteiensystem-Format nur bedingt vorliegt, verhalten sich die britischen Parteien nach der Zweiparteiensystem-Mechanik.

[aus: André Kaiser: Das britische Parteiensystem; in: Der Bürger im Staat 41, 4/1991]

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