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Generell gilt, dass das Wahlsystem wesentlichen Einfluss auf die Ausgestaltung des Parteiensystems ausübt. Dies gilt besonders für den Zusammenhang zwischen Mehrheitswahlrecht und Zweiparteiensystem. Hier wurde Großbritannien lange als der klassische Fall betrachtet und häufig auch bewundert. Der folgende Text beschäftigt sich mit Wahlen, den politischen Folgen des Wahlsystems und dem Wählerverhalten in Großbritannien. Weitere Einflussfaktoren auf die Ausgestaltung des Parteiensystems werden in den Abschnitten zum Regierungssystem und zur Parlamentssouveränität besprochen.

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Wahlen in Großbritannien

Wahlen finden in Großbritannien für das nationale Parlament in Westminster, die Parlamente in Nordirland (Stormont), Schottland und Wales, für die Kommunalparlamente und für das Europaparlament statt. Bei Kommunalwahlen ist die Wahlbeteiligung traditionell niedrig (40 Prozent und weniger), bei Europawahlen lag sie oft noch deutlich darunter (zwischen 32 und 36 Prozent). Bei nationalen Wahlen (general elections) beteiligen sich in der Regel zwischen 72 und 78 Prozent der Wahlberechtigten.

Das traditionelle britische Wahlsystem ist das relative Mehrheitswahlsystem in Einpersonenwahlkreisen, auch first-past-the-post-System genannt. Als Abgeordneter gewählt ist derjenige Wahlkreisbewerber, der mehr Stimmen erreicht als irgendeiner der Mitkonkurrenten. Wer, symbolisch gesprochen — wie beim Pferderennen — zuerst den Kopf am "Zielpfosten" (first-past-the-post) vorbeischiebt, gewinnt. Die für die anderen Kandidaten abgegebenen Stimmen werden bei der Verteilung der Parlamentssitze nicht berücksichtigt (...).

Das Wahlsystem stellt eine enge Verbindung von Wahlkreis und Abgeordnetem her. Weil Minister einem der Häuser des Parlamentes angehören müssen, verlieren sie mit einer Niederlage in ihrem Wahlkreis auch jegliche Chance auf ein Regierungsamt. Der gewählte Abgeordnete ist für alle Bürger seines Wahlkreises der traditionelle Ansprechpartner in politischen und sozialen Fragen aller Art und ihr "Botschafter" im Londoner Parlament. Er ist im Wahlkreis in der Regel gut bekannt, muss aber nicht alteingesessen sein, um Wahlchancen zu haben. Während des Wahlkampfes gehen vielfach die Kandidaten in ihrem Wahlkreis von Tür zu Tür, um möglichst direkt mit einer großen Zahl von Bürgern in Kontakt zu kommen. Ein britischer Wahlkampf ist weit kürzer und billiger als ein deutscher und kommt mit einem geringeren Einsatz von Werbemitteln, wie Plakaten oder Popkonzerten, aus (...).

Politische Folgen des Wahlsystems

Das first-past-the-post-System ist in erster Linie ein mehrheitsbildendes Wahlsystem. Es verzerrt die Stimmenergebnisse regelmäßig zugunsten der großen Parteien und sorgt dadurch in der Regel für klare Mehrheiten, die eine Regierungsbildung ohne Koalitionspartner ermöglichen. Alleine die großen Parteien können sich in der Regel in einer ausreichenden Zahl von Wahlkreisen Siegeschancen ausrechnen. Die Stimmenanteile von kleineren Parteien reichen nur in einigen Wahlkreisen zum Sieg aus, entweder weil diese Parteien hier ihre Hochburgen haben oder weil aus taktischen Gründen die Anhänger einer der großen Parteien mit denen der kleineren Partei stimmen, um in einem bestimmten Wahlkreis die andere große Partei mit vereinten Kräften zu schlagen (taktisches Wählen). Die Folge ist eine Unterrepräsentation der kleinen Parteien im Parlament gemessen an ihrem Stimmenanteil. So erreichte beispielsweise die Allianz aus Sozialdemokraten und Liberalen 1983 einen Stimmenanteil von 25,4 Prozent, erhielt aber nur 3,5 Prozent der Sitze. Die Unterstützung für die Labour Party war bei der gleichen Wahl nur unwesentlich größer (27,6 Prozent). Sie erhielt aber 32 Prozent der Sitze. Bei der Wahl 1997 erzielte die Nachfolgepartei der Allianz, die Liberal Democrats, nur noch einen Stimmenanteil von 16,8 Prozent. Ihr Anteil an Parlamentssitzen wuchs aber dank taktischen Wählens vieler Labour-Anhänger, die für Liberale Kandidaten stimmten, auf sieben Prozent.

Kritiker des britischen Wahlsystems fordern schon seit dem 19. Jahrhundert, dieses durch ein "gerechteres" und damit meinen sie, ein den Wählerwillen besser widerspiegelndes Verhältniswahlsystem zu ersetzen. In Nordirland war die durch das Mehrheitswahlsystem zementierte Unterrepräsentation des katholisch-nationalistischen Bevölkerungsteils eine der Ursachen für den Ausbruch des Nordirlandkonfliktes Anfang der siebziger Jahre. Seither gilt dort für Kommunal-, Parlaments- und Europawahlen das auch in der Republik Irland übliche single-transferable-vote-System (STV). STV führt zu einer stärkeren Berücksichtigung auch kleinerer Parteien, weil in jedem Wahlkreis mehr als eine Person gewählt wird (meist fünf oder sechs). Der Wähler hat eine Stimme (single vote) und nummeriert die Kandidaten der Parteien nach seiner Präferenz. Im Wahlkreis gewählt ist zunächst, wer genügend erste Präferenzen der Wähler auf sich vereint, um eine bestimmte Wahlzahl zu erreichen. Diese erste Zählung reicht für die Bestimmung aller Wahlkreisvertreter nicht aus. In nächsten Zählungen werden deshalb die schwächsten Kandidaten aus der Zählung herausgenommen. Die zweiten, dritten und weitere Präferenzen ihrer Wähler werden dann berücksichtigt (transferable vote), um weiteren Kandidaten zu ermöglichen, die Wahlzahl zu erreichen. Dadurch kann der relativen Stärke der Parteien in der Wählerschaft deutlicher Rechnung getragen werden, so dass in Nordirland beide Bevölkerungsgruppen adäquat repräsentiert werden (...).

Wählerverhalten

Die Parlamentswahlen 1997 haben erneut bestätigt, dass das Wählerverhalten in Großbritannien, wie in allen anderen westlichen Demokratien, immer stärker von Themen und Präsentation der Kandidaten in den Medien und immer weniger von traditionellen Parteibindungen bestimmt wird. In den sechziger Jahren war die mit der sozialen Lage der einzelnen Wähler einhergehende Parteipräferenz relativ eindeutig bestimmbar. Die Konservativen galten als Partei der Wirtschaft und der Landbesitzer, also der Mittelschichten und der Reichen, während die Umverteilungsforderungen der Labour Party in besonderem Maße für die Arbeiterschaft und die Ärmeren in der Bevölkerung attraktiv waren. 1964 unterstützten circa drei Viertel der Mittelschichtwähler die Konservative Partei und zwei Drittel der Arbeiterwähler die Labour Party. 1997 waren zwar entsprechend unterschiedliche Profile der konservativen und der Labour-Wähler noch zu erkennen, aber die Anteile für die Labour Party in den Mittelschichten und der Arbeiterwählerschaft hatten sich deutlich angenähert und dasselbe gilt für die jeweiligen Wähleranteile der Konservativen Partei. Neben der abnehmenden Bedeutung sozialstruktureller Faktoren für die Wählerpräferenzen ist auch ein Rückgang der Parteiidentifikation zu beobachten. Mitte der sechziger Jahre identifizierten sich circa zwei Drittel der Wähler stark mit einer der Parteien, heute sind es weniger als 40 Prozent. Damit wird es insgesamt verlockender für Wähler, sich kurzfristig und nach persönlichen Interessen sowie nach programmatischen und Kandidatenpräferenzen zu entscheiden und das vor allem die eigene Geldbörse betreffende Pro und Contra einer Wahlentscheidung ins Kalkül zu ziehen. Der britische Wähler reagiert auf politische Alternativen immer weniger aufgrund bestimmter Überzeugungen, sondern immer mehr als "Konsument" des politischen Angebots. Die strategische Antwort der Labour Party auf diese Herausforderung war, die Kompetenz der Regierung des konservativen Premierministers John Major in Zweifel zu ziehen und als New Labour in den Wahlkampf zu gehen, als neues Angebot auf dem "Markt", das auch für die ungebundenen Mittelschichten, ja selbst die Wirtschaftselite, wählbar ist.

Auch wenn die Erklärungskraft sozialer Strukturen für das Wählerverhalten abgenommen hat, ist unbestritten, dass die Labour Party noch von diesen profitiert. Bestimmte Zugehörigkeiten, wie Gewerkschaftsnähe oder Bewohner einer Sozialwohnung zu sein, begünstigen die Wahlentscheidung für Labour. Allerdings haben solche Zugehörigkeiten insgesamt an Gewicht in der Gesellschaft verloren. Regional konzentriert sich die Unterstützung für die Labour Party auf Schottland und Wales sowie den englischen Norden und die englischen Großstädte. In Südengland konkurrieren häufig vor allem die Konservativen und die Liberal Democrats um die Wählerstimmen. Neben traditionelle Strukturen des Parteienwettbewerbs tritt heute der Wettbewerb um politische Schlüsselkompetenzen: Welcher Partei traut der Wähler beispielsweise eher zu, für eine florierende Wirtschaft zu sorgen oder Recht und Ordnung zu garantieren? Diese Schlüsselkompetenzen wurden nach 1945 traditionell eher der Konservativen Partei zugewiesen. 1997 war für die Konservative Partei ein Wendejahr. Der Partei war es nach dem durch die Finanzmärkte 1992 erzwungenen Austritt des Pfunds aus dem Europäischen Währungssystem nicht gelungen, die wirtschaftspolitische Meinungsführerschaft zurückzugewinnen. Die Labour Party profilierte sich zudem als Partei der "harten Hand" in der Politik der Kriminalitätsbekämpfung. Es wurde auch deutlich, dass die Konservative Partei erhebliche Defizite bei der Mobilisierung der Jungwähler, der Wähler aus ethnischen Minderheitengruppen und der weiblichen Wähler hat. Selbst das Unternehmerlager, auf das die Partei als Verbündeten immer zählen konnte, stand nicht mehr geschlossen hinter ihrem teilweise europaskeptischen Programm.

[aus: Roland Sturm: Politische Willensbildung; in: Informationen zur politischen Bildung 262, "Großbritannien", Bonn BpB 1999]

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