Parteienverdrossenheit

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Parteien

Ursachen für Parteienverdrossenheit

Während die folgenden beiden Texte die eng miteinander verbundenen soziologischen Phänomene Modernisierung und Individualisierung als Ursachen für Parteienverdrossenheit anführen, listet ein weiterer Text (am Beispiel Deutschlands) ein ganzes Ursachenbündel für die Kritik an den Parteien auf.

Modernisierung

Als Politikverdrossenheit und als Kritik an den Parteien entladen sich [...] Stimmungen, die in dem Gefühl wurzeln, Politik sei ein undurchschaubarer und undurchdringlicher, gleichsam naturwüchsiger und nicht mehr kontrollierbarer Prozess, eine Stimmungslage, die in gewisser Weise die notwendige Schattenseite eines politischen Betriebs darstellt, der gekennzeichnet ist durch Spezialisierung, Arbeitsteilung, eben durch die abgehobene Professionalisierung der Politik, eine Stimmungslage außerdem, die durch andere Entwicklungen noch zusätzlich verstärkt wird, so vor allem durch die Internationalisierung der Politik. [...]

Die Zurechnung der Ursachen für das eigene soziale Befinden wird mehr und mehr adressiert an Staat und Gesellschaft, sie werden immer weniger festgemacht im eigenen sozialen Nahbereich oder gar in der persönlichen Verantwortung. Zugleich schwindet die gesellschaftliche Wirkungsmächtigkeit jener sozialen Institutionen, von der Familie über die Nachbarschaft bis hin zur Religion, die den Menschen auch in Not und bei Versagen gehalten und getragen haben. Es sind diese menschlichen und sozialen Kosten der Modernisierung, die den sozialpsychologischen Boden bereiten, auf dem Politik- und Parteienverdrossenheit allererst gedeihen. Was als "Unbehagen an den Parteien" aufscheint, enthüllt sich in Wahrheit als "Unbehagen an der Modernität" (Peter L. Berger). [...]

Dies mag Politiker und Parteien entlasten. Aber es macht auch die Größe ihrer Aufgabe deutlich. An ihr können sie scheitern oder wachsen. Doch es gibt keinen Weg zurück.

[Warnfried Dettling, "Vom Elend der Selbstthematisierung", in: Die Kontroverse, Gunter Hofmann/Werner A. Perger (Hg.), Frankfurt am Main 1992]

Individualisierung

Mit der steigenden Bedeutung individueller Freiheitsspielräume, der Selbstentfaltung und Gestaltung von immer mehr freier Zeit hat sich für den einzelnen der Bereich des Privaten und der Raum, in dem die eigenen Lebensziele und Wertorientierungen verwirklicht werden, wesentlich erweitert. Die Distanz zwischen Privatheit und der staatlich-politischen Sphäre weitet sich aus. Doch geschieht dies nicht, weil sich etwa die Parteien mutwillig und einseitig von der Gesellschaft abkoppeln, sondern weil die moderne Gesellschaft selber sich Staat und Parteien auf Distanz hält.

Die Individualisierung schlägt sich auch als verbreitete Abneigung gegen dauerhafte organisatorische Einbindung und formale Mitgliedschaft nieder, nicht nur gegenüber den Parteien, sondern auch gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Organisationen. Die schmale Schicht der citoyen ist nach allen Erfahrungen nicht wesentlich vermehrbar. Von den wenigen Aktivbürgern sind allerdings viele nach wie vor engagiert und tapfer in den Parteien tätig. Es könnten mehr sein, wenn die Parteien attraktivere Möglichkeiten der Mitwirkung böten und (...) die closed shops ihrer Mitgliederorganisation weit öffnen würden (...).

Die Motive des Wählens haben sich nachhaltig verändert. Sie sind immer weniger von tradierten weltanschaulichen und religiösen Normen oder von sozialer Herkunft geprägt, sondern mehr und mehr von der Leistungs- und Problemlösungsfähigkeit der Parteien in den vorrangigen Politikfeldern und von der Kompetenz ihres Führungspersonals. Die Volksparteien stehen inzwischen in einem Spagat, der ihnen immer schwerer wird. Sie müssen die neuen Mehrheiten mit ihren traditionellen Wählermilieus verbinden, wenn sie als Großparteien der Dreißig- bis Vierzigprozent-Kategorie überleben wollen.

[aus: Hans-Joachim Veen, Illusionen der Bürgergesellschaft, in: Die Kontroverse, Gunter Hofmann/Werner A. Perger (Hg.), Frankfurt am Main 1992]

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Ursachen für Parteienverdrossenheit - das Beispiel Deutschland

Zu fragen ist, worin Parteienverdrossenheit gründet: Hier sind ganze Ursachenbündel zu nennen: Neue Partizipationsformen haben sich im Zeitalter des Postmaterialismus eingebürgert, Individualisierungsschübe halten an, Politikinhalte sind immer komplizierter und komplexer geworden, so dass Parteien in sich geschlossene Konzeptionen dem Wähler einfach nicht zu offerieren vermögen. Vor allem aber haben Parteien selbst einige der Gründe zu verantworten, die zum Verdruss über sie geführt haben. Dazu gehören die bekannten und berüchtigten Parteifinanzierungs-, Diäten- und Korruptionsaffären. Viel schwerer wiegt aber die Tatsache, dass Parteien in der Hochzeit ihrer Blüte - und zuweilen auch noch heute - den Eindruck erweckt haben, als seien sie allzuständig, als verfügten sie über ein Monopol in der politischen Willensbildung. Parteien haben ihre Kompetenzen überdehnt und sind in Bereiche eingedrungen, in denen sie nichts zu suchen haben. Zu nennen sind hier die berühmt-berüchtigten Rundfunk- und Fernsehräte, in denen nicht nur nach parteipolitischen Gesichtspunkten abgestimmt wird, sondern in denen es fraktionsmäßige "Freundeskreise" gibt, die sich vor den offiziellen Sitzungen treffen. Ferner haben die Parteien in öffentlichen Verwaltungen Patronage überdehnt: Warum bei der Ernennung von Theater- und Opernintendanten Parteizugehörigkeit eine Rolle spielt, ist in der Öffentlichkeit ebensowenig verständlich zu machen wie die Tatsache, dass in manchen Landstrichen der Bundesrepublik eine Beförderung vom Studienrat zum Oberstudienrat ohne ein bestimmtes Parteibuch nicht gelingen will. Auf der lokalen Ebene schienen und scheinen Parteien allgegenwärtig zu sein: Sie mischen in den Vereinen mit, beim Sport- und Gesangsverein, beim Schützenverein und bei der Freiwilligen Feuerwehr. Diese Allgegenwart verstärkt den Eindruck, Parteien seien allzuständig. Genau hier liegt aber das Problem, das in den letzten Jahren auf die Parteien wie ein Bumerang zurückgekommen ist. Sie haben nämlich aufgrund ihres Allzuständigkeitsanspruches Erwartungen geweckt, die sie in der politischen und gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik nicht zu erfüllen vermochten und vermögen. Wegen ihres Monopolanspruchs werden sie heute für vieles verantwortlich gemacht, für das sie überhaupt nicht zuständig sind. Konkret: Einzelne Parteien können für die Globalisierung der Kapitalmärkte, die Internationalisierung der Arbeitsmärkte, die Defizite in den öffentlichen Haushalten oder die Notwendigkeit, den Sozialstaat umzubauen, nicht verantwortlich gemacht werden.

Zur Parteienverdrossenheit trägt auch bei, dass unsere Großparteien sich damit schwer tun, mit ihrer eigenen Fragmentierung und Segmentierung, mit ihrer eigenen Vielfalt und Widersprüchlichkeit umzugehen. Dies trifft aktuell die SPD stärker als die CDU, ist bei dieser aber strukturell auch angelegt. Entgegen dem Image, das SPD und CDU in der Öffentlichkeit, aber auch bei einigen Fachwissenschaftlern haben, sind diese keine hierarchischen oder oligarchischen Mammut-Organisationen, sie stellen vielmehr das dar, was wir als "lose verkoppelte Fragmente", als "lose verkoppelte Anarchie" bezeichnet haben.

In der Organisation dezentralisiert und fragmentiert, mit einem großen Maß an Autonomie für die einzelnen Gebietsverbände, vom Ortsverband bis zum Bundesverband, für die verschiedenen innerparteilichen Interessengruppen, die Arbeitsgemeinschaften der SPD und die Vereinigungen der CDU, und für die verschiedenen Fraktionen, vom Gemeinderat bis zum Bundestag; in der sozialen Zusammensetzung ihrer Funktionäre, Mitglieder und Wähler bunt und vielfältig, im Spagat zwischen höchst gegensätzlichen gesellschaftlichen Gruppen; programmatisch und ideologisch so farbenfreudig und auch widersprüchlich wie in ihrer Sozialstruktur; zusammengehalten durch den Willen zur Macht, durch Patronage, durch aus der Geschichte überkommene Symbole, Rituale und Programmpunkte und - falls vorhanden - durch charismatische und/oder organisationskompetente Führer. Die Parteien bieten nach außen also kein geschlossenes, harmonisches Bild - was wiederum zur Parteienverdrossenheit beiträgt.

Ferner sind jene historischen Vorbelastungen, die das Fungieren der Parteien im parlamentarischen Regierungssystem in der Vergangenheit erschwert haben, auch heute noch nicht völlig überwunden. So scheint der Antiparteienaffekt neue Urständ zu feiern, unter den Wählern wie unter einigen Sozialwissenschaftlern. Zur Parteienverdrossenheit trägt schließlich bei, dass unsere Parteien sich in einem ständigen Wandlungsprozess befinden, die Parteietiketten bleiben, die politischen Inhalte sich aber verändern. Dies führt zu Verwirrung und Verdruss.

[Parteienstaat in der Krise : Überlegungen nach 50 Jahren Bundesrepublik Deutschland ; Vortrag und Diskussion einer Veranstaltung des Gesprächskreises Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 19. August 1999 / Peter Lösche. [Hrsg.: Dieter Dowe]. - Bonn : Forschunginst. der Friedrich-Ebert- Stiftung, Historisches Forschungszentrum, 1999]

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