Rede Aarvik

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Vorbilder

Vorstellungsrede von Egil Aarvik, Vize-Vorsitzender des Nobelkomitees,
bei der Verleihung des Friedensnobelpreises 1976
an Betty Williams und Mairead Corrigan

[Oslo, 10. Dezember 1977]

Ihre Majestät, Ihre königlichen Hoheiten, Exzellenzen, meine Damen und Herren,

Am 10. August 1976 kam es in einer Straße in Belfast in Nordirland zu einem bemerkenswerten Vorfall. Ein Mann auf der Flucht rast in seinem Auto die Straße entlang und versucht, seine Verfolger abzuschütteln. Plötzlich fällt ein Schuss und mit dem tödlich verwundeten Fahrer über dem Steuer rast das Fahrzeug in einen Zaun und überfährt eine Mutter und ihre drei Kinder. Die Mutter überlebt trotz schwerer Verletzungen, während ihre drei Kinder auf der Stelle tot sind.

Sicherlich war dieser Vorfall nicht so bemerkenswert? Nein, unglücklicherweise war er das nicht. Wo immer Krieg ein Land heimsucht und Terror und Gewalt ausbrechen, ist das Töten unschuldiger Kinder keineswegs bemerkenswert. Vorfälle dieser Art sind lediglich eine logische Folge der geistlosen Brutalität des Krieges. Wir haben dies so oft gesehen und gehört, dass wir in Gefahr sind, die Fähigkeit zu verlieren, auf Terror zu reagieren. Was noch schlimmer ist: jede einzelne Gewalttat nährt nur den Hass und bringt immer mehr Gewalt hervor.

Das Ereignis in Belfast an jenem Augusttag 1976 führte jedoch zu etwas ganz anderem und deshalb ist es so bemerkenswert. In dem Viertel, in dem die drei Kinder getötet wurden, lebte eine Hausfrau: Sie hörte das Krachen, als das Auto den Zaun durchbrach, und als sie zu der Stelle eilte, nahm sie den ganzen Schrecken der Szene auf. In jenem Augenblick passierte etwas im Denken jener Frau: es war wie das Bersten eines Damms.

Was sie sah, schockierte sie zutiefst; aber darüber hinaus wurde sie überwältigt von einem leidenschaftlichen Verlangen, gegen die ganze Gewalt und den Terror zu protestieren. Jetzt musste um Himmels willen etwas getan werden. Es gab keine Zeit zu überlegen und planen: sie dachte nicht einmal an so etwas, sondern handelte instinktiv, wie es ihr Herz vorgab. Sie begann von Tür zu Tür zu gehen in genau der Straße, in der sich die Tragödie ereignet hatte. Das Fass des Schreckens war jetzt übergelaufen: die Zeit war gekommen, wo gewöhnliche Männer und Frauen aufstehen mussten, um gegen die sinnlose Gewalt zu protestieren. Es war keine Frage der politischen Haltung oder religiösen Überzeugung mehr. Es gab nur ein Mittel: die Menschen selbst mussten Halt schreien. Radio und Fernsehen zeigten ein gewisses Interesse an der Kampagne der Hausfrau, und ihr wurde die Möglichkeit gegeben, in einer Übertragung einen Appell an das irische Volk zu richten, nicht vor dem Terror zu kapitulieren. Der Friede dürfe nicht müßig an der Seitenlinie sitzen: jetzt sofort müsse der Frieden marschieren!

Ihr Appell fand Widerhall. Immer mehr Menschen folgten ihrem Ruf. Eine der ersten war eine Tante der drei Kinder, und diese beiden Frauen marschierten nun mutig hinaus in das Niemandsland des Krieges und verkündeten ihre einfache, zu Herzen gehende Botschaft der Versöhnung. Aus diesen bescheidenen Ursprüngen entstand, was heute weltweit bekannt ist als die Friedensbewegung Nordirlands.

Heute sind jene Hausfrau und die Tante jener drei Kinder unter uns, und heute sind diese beiden, Betty Williams und Mairead Corrigan, gekommen, um den Friedensnobelpreis 1976 entgegenzunehmen.

Zu den Hauptgründen, warum die Kampagne dieser Frauen so erfolgreich war, zählt, dass auf beiden Seiten der Frontlinie ein verzweifeltes Sehnen nach Frieden Fuß gefasst hatte. Was Betty Williams und Mairead Corrigan sagten, brachte die Gedanken von Zehntausenden zum Ausdruck, und auf diese Weise wurden sie die Sprecherinnen für das Verlangens nach einem Ansatz der Vernunft, das den Mann und die Frau auf der Straße erfüllte – trotz deren Gefühl der Hilflosigkeit angesichts der Gewalt.

Aber mehr noch: ihr mutiges Handeln wirft ein neues Licht auf das Wesen des schmerzlichen Konflikts, der Nordirland erschüttert. Klarer als jemals zuvor, erschien er als das, was er ist: eine Krankheit, die die ganze Nation heimsuchte. Die Köpfe der Menschen blieben irgendwie in einer Schablone verhaftet: Vernunft konnte sich kein Gehör mehr verschaffen. Der Geist, der sich nun ausbreitete, war, was der norwegische Dichter Bjornstjerne Bjornson "schreiende Not der Leidenschaften" genannt hat.

Der Konflikt in Nordirland entspringt aus schädlichen Wurzeln, die tief in der Geschichte verankert sind. Zahllose Versuche sind unternommen worden, ihn zu lösen, bisher vergeblich. Jene, die bestrebt waren, im Namen der Mäßigung zu sprechen, schienen auf taube Ohren zu stoßen. Eine Stimmung der hoffnungslosen Resignation herrschte vor: Schrecken und Gewalt wurden zu Teilen und Bürden des täglichen Lebens. Barrikaden wurden auf den Straßen errichtet. Scharfe Grenzlinien teilten einen Teil einer Stadt vom anderen. Eine seltsames Schweigen entwickelte sich zwischen Nachbarn; selbst Kinder wurden ausgebildet zur Gewaltanwendung. Die Gesellschaft führte Krieg mit sich selbst, und obwohl die Vernunft lehrt, dass der Gebrauch von Waffen niemals einen dauernden Frieden hervorbringen kann, war niemand in der Lage, eine gangbare Alternative vorzuschlagen.

Die Unruhen in Nordirland sind irgendwie unreal, irgendwie alptraumhaft. Eine friedliche Straße verwandelt sich plötzlich in einen Kriegsschauplatz, und die Opfer dieses Krieges sind deine eigenen Freunde und Nachbarn. Selbst Schulkinder sind Freiwild. In Läden, Büros, Pubs und Fabriken ist die Luft vergiftet mit Verdächtigungen und Hass. Kein Kampf kann bitterer sein als einer zwischen Menschen, die sich so nahe sind. Das ist es, was vielleicht mit "schreiender Not der Leidenschaften" beschrieben werden könnte.

In solch einer Situation traten Betty Williams und Mairead Corrigan dem entgegen, und mit unbeirrbarem Instinkt fingen sie am "falschen Ende" an – nicht oben bei den klugen Köpfen, die erfüllt sind mit ach so großer politischer Einsicht – nein, sie gingen auf die gewöhnlichen Männer und Frauen zu mit einer klaren und einfachen Botschaft: Wir müssen die Gewaltanwendung und Terrorakte beenden. Wir müssen unsere Zukunft auf Frieden und Kooperation bauen. Krieg ist sinnlos und böse, unfähig, auch nur ein Problem zu lösen.

Es wäre einfach zu behaupten, dass das alles selbstverständlich sei und dass jeder das sagen könne in Verzweiflung angesichts der sinnlosen Leiden des Krieges. Ja, aber in Wirklichkeit findet man die Lösung für jeden menschlichen Konflikt in der einfachen und offensichtlichen Handlung von jemandem, der den ersten Schritt macht auf dem Weg zu Versöhnung und Kooperation.

Das jedenfalls ist es, was in Nordirland geschehen ist. Männer und Frauen beider Lager kamen zusammen und marschierten in Demonstrationen für Frieden, nach dem sie sich alle sehnten. Stacheldrahtverhaue wurden entfernt, Barrikaden abgebaut, das seltsame Schweigen gebrochen. Nachbarn und Landsleute gaben sich die Hand und begannen, miteinander zu sprechen, miteinander zu leben und miteinander zu bauen. Die Reaktion auf die Kampagne, die von Betty Williams und Mairead Corrigan angestoßen wurde, war voll und ganz menschlich. Sie erbrachte den Beweis für die Inspiration, die aus dem Einfachen, dem Wahren und dem Ursprünglichen kommt – was natürlich ebenfalls so offensichtlich richtig ist.

Der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow sagte einmal, dass wir in vielen Situationen ideale Ziele formulieren müssen, auch wenn es in jedem gegebenen Augenblick unmöglich ist, den Weg zu beschreiben, der dorthin führt. Ohne solche Ideale kann es keine Hoffnung geben und wir irren in der Dunkelheit umher, in einer Sackgasse ohne Hoffnung.

Diese Worte Sacharows treffen sowohl auf Betty Williams als auch auf Mairead Corrigan zu. Sie haben nie behauptet, dass sie den Königsweg zur Verwirklichung ihrer Ziele weisen könnten, aber sie machten zweifellos den ersten Schritt, den man auf diesem Weg machen muss. Guerillakrieg und Gewaltakte müssten aufhören, und es sollte möglich sein, das zu erreichen, wenn die Menschen aufstünden zum Protest gegen diesen Krieg und sich die Hände reichten für die Sache des Friedens. Das würde der erste Schritt sein.

Tatsächlich erschütterten sie dadurch den Guerillakrieg in seinen Grundfesten, denn es ist selbstverständlich, dass Guerillaaktivitäten nicht mehr durchführbar sein würden, wenn Gewalt von der großen Masse der Bevölkerung abgelehnt würde.

Und genau hier stößt man auf die Kraft der nordirischen Friedensbewegung: was sie erklärt – und in Aktionen unter Beweis stellt – ist, dass die Menschen Nordirlands, die jahrzehntelang im Zustand der Konfrontation gelebt haben, jetzt genug von all dem haben. Der Wunsch nach Frieden hat neuen Schwung erhalten, immer mehr Menschen erkennen, dass Terror niemals eine Antwort auf soziale Ungerechtigkeit sein kann, und handeln entsprechend.

Dass so viele Menschen in Nordirland das erkannt und ihr Leben entsprechend angepasst haben, gibt uns Hoffnung, dass es sich dabei um das erste Morgengrauen eines neuen Tages handelt, der den leidgeprüften Menschen von Ulster dauerhaften Frieden bringt.

Der Weg zu einem dauerhaften Frieden kann sich jedoch als lang und steinig erweisen, und es gibt so gut wie sicher viele Menschen, die immer noch zweifeln, ob die Friedensbewegung auf lange Sicht irgendetwas erreichen kann. Zugegeben, allzu oft wurden Meister der Gewaltlosigkeit niedergeschrieen, lächerlich gemacht und als Utopisten abgestempelt. Die Friedensbewegung von Nordirland muss auf solche Vorwürfe vorbereitet sein und hat ihnen zweifellos schon gegenübergestanden.

Eine unstrittige Tatsache bleibt: Sie machten den ersten mutigen Schritt auf dem Weg zum Frieden. Sie machten ihn im Namen der Menschlichkeit und der Nächstenliebe: jemand musste anfangen zu vergeben.

Die Nächstenliebe zählt zu den Fundamenten des Humanismus, auf dem unsere westliche Zivilisation aufbaut. Aber es ist zentral, dass wir den Mut haben, diese Nächstenliebe gerade dann aufrechtzuerhalten, wenn der Druck sie aufzugeben am größten ist – sonst ist sie wenig wert. Darum ist es so wichtig, dass sie weiter leuchtet, wenn Hass und Rache zu überwiegen drohen.

Der Geist menschlicher Brüderlichkeit ist auch das Fundament der Menschenrechte, die wir als Teil des Friedenskonzepts betrachten. Wir müssen sicherstellen, dass jedem einzelnen von uns das Recht auf ein menschenwürdiges Leben zuteil wird. Die Zukunft der Welt hängt von unserem Erfolg ab bei der Förderung der Achtung dieses Rechts.

Ich weiß nicht, ob Betty Williams und Mairead Corrigan sich der Folgen bewusst waren, als sie ihre Friedensbewegung begannen, aber ich bin ziemlich sicher, dass sie gefühlt haben, wie diese Kräfte um sie herum in der Folgezeit an Kraft gewonnen haben. Sie entfesselten ein brennendes Verlangen und eine Hoffnung auf Frieden, die latent in so vielen Köpfen vorhanden waren, und daraus erwuchs eine Friedensbewegung, fast bevor sie selbst es merkten. Mit bestechender Einfachheit und Vertrauen haben sie die Verantwortung für etwas angenommen, das sie begonnen haben, und das haben sie in enger Zusammenarbeit und mit hervorragender Unterstützung vieler Sympathisanten getan.

Niemand vermag heute zu sagen, ob diese organisierte Bewegung jemals ihre Ziele erreichen wird, aber die Führer haben jede Berechtigung zu glauben und zu hoffen und zu arbeiten für die Erreichung dieser Ziele. In Nordirland genauso wie an anderen Ort auf der Welt gibt es viele Menschen, die ihre Hoffnung und ihren Glauben teilen. Betty Williams und Mairead Corrigan haben uns gezeigt, was gewöhnliche Menschen tun können, um die Sache des Friedens zu fördern. Sie haben uns gelehrt, dass der Frieden, nach dem wir uns sehnen, etwas ist, das gewonnen werden muss mit und durch die einzelnen Menschen. Das ist die Botschaft, der sie durch ihre Aktivitäten neue Kraft verliehen haben.

Alfred Nobel hat sich ständig damit beschäftigt. Ausgestattet mit der Neugier des Erfinders entwickelte er eine Vielzahl von Theorien zu der Frage, wie der Frieden gesichert werden kann. 1891 schrieb er an einen Freund, dass sich das Erreichen einer Waffenruhe in vielen kritischen Situationen als entscheidend erweisen würde. Das biete die Möglichkeit, auf dieser Basis weiterzuarbeiten. Wichtig sei, guten Willen in den gegensätzlichen Lagern zu mobilisieren. Eine Basis für die Freundschaft aller existiere, wichtig sei, diese Basis zu erkennen.

Mit diesen Gedanken im Kopf verfügte er in seinem Testament, dass sein Friedenspreis denjenigen verliehen werden sollte, die am meisten dafür getan haben, die Brüderlichkeit unter den Menschen zu fördern.

Es gibt zweifellos einige, die sagen werden, dass das viel zu naiv ist in der brutalen Welt, wie wir sie heute kennen. Dazu hätte Alfred Nobel wohl gesagt: Zeige mir ein einziges Beispiel für menschlichen Fortschritt, das nicht von Skeptikern als utopisch und weltfremd verspottet worden war!

Diese zwei Frauen, die sich den Friedenspreis 1976 teilen, haben sich nicht vor dem Skeptizismus gebeugt: sie haben einfach gehandelt. Sie haben sich nicht in acht genommen vor der Schwere ihrer Aufgabe: sie sind sie einfach angegangen, weil sie davon überzeugt waren, dass es genau das war, was fehlte. Es ging hier nicht um großspurige Theorien, um schlaue Diplomatie oder pompöse Erklärungen. Nein, ihr Beitrag war ein viel besserer: ein mutiger, selbstloser Akt, der Tausende inspirierte, der ein Licht in der Dunkelheit entzündete und der Menschen neue Hoffnung gab, die gedacht hatten, alle Hoffnung sei verloren.

Wir bewundern Betty Williams und Mairead Corrigan dafür, dass sie die gefährliche Aufgabe so furchtlos angegangen sind, ins Niemandsland zu führen für Frieden und Versöhnung. Für diese Tat zeichnet sie das norwegische Nobelkomitee aus. Was sie getan haben, gibt der Welt ein Beispiel. Ihre Handlungen liegen auf einer Linie mit den tiefsten Fundamenten unserer Zivilisation, und sie entsprangen einer Vision, die wie eine helle Fackel in die Zukunft leuchtet. Was sie aufgebaut haben, ist – um noch einmal Bjornstjerne Bjornson zu zitieren:

"A rainbow bridge of prayer above earth's fretful air,
a beacon light for man,
ablaze with Christ's belief that love would conquer grief;
for thus His promise ran."

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