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Zivilisierung des Konflikts
"Konflikte sind ein allgegenwärtiges Moment jeder gesellschaftlichen Ordnung.
Werden sie gewaltsam ausgetragen, lässt man zu, dass sie ihr destruktives
Potential voll entfalten, können sie die Ordnung einer Gesellschaft
destabilisieren, wenn nicht sogar gänzlich in Frage stellen. Andererseits: Die
erfolgreiche Bewältigung eines Konfliktes kann positive Lerneffekte freisetzen -
etwa, indem wir uns Verfahren und Regeln aneignen, deren Anwendung dazu beiträgt,
den Konflikt unterhalb der Schwelle des Ausbruchs aktueller Gewaltsamkeit zu
halten, ihn derart zu kanalisieren, dass seine gewaltfreie Lösung möglich wird.
Wir sind also nicht in der Unterdrückung oder Aufhebung von Konflikten an sich
interessiert: Ein solches Verlangen wäre im negativen Sinn des Wortes als
utopisch zu bezeichnen. Unser Interesse gilt vielmehr der Zurückdrängung und
Aufhebung von Gewalt im Prozess des Konfliktaustrags - und eben dies ist es, was
als Zivilisierung des Konfliktes bezeichnet werden kann.
Wir verstehen unter Zivilisierung zunächst den Prozess der zunehmenden Bändigung
der Affekte des Menschen durch den Menschen in der Gesellschaft. Wir begreifen
diesen Prozess als eine fortschreitende Rationalisierung und
Intellektualisierung der Daseinsbewältigung, als den Weg von einer
impulsiv-naiven zu einer kontrolliert-reflektierten Auseinandersetzung mit
unserer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt.
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Norbert Elias hat
diesen Prozess einmal treffend als den der „Anhebung der
Peinlichkeitsschwelle“ bezeichnet - in unserem Sinne: als einen Prozess des
Peinlich-Werdens der Anwendung von Gewalt im Konfliktaustrag. Wenn uns die
Anwendung von Gewalt erst peinlich ist, werden wir nach Mitteln und Wegen
suchen, der Peinlichkeit zu entgehen: durch Verzicht auf Gewaltanwendung.
Vielleicht noch wichtiger: Elias zeigt auch, dass die Ausbildung des
modernen Territorialstaates mit einem Zivilisierungsschub einhergeht, in dem
sich Affektökonomie und Verhaltensstandards des Menschen grundlegend ändern:
Es verstärkt sich die emotionale Selbstkontrolle des Menschen, und die
Mechanismen dieser Selbstkontrolle werden stärker internalisiert. Beruhte
die Kontrolle menschlicher Affekte vordem auf einer zwangsgestützten
Fremdkontrolle, verwandeln sich im Prozess der Zivilisation
zwischenmenschliche Fremdzwänge in einzelmenschliche Selbstzwänge. (...) |
Affektkontrolle und Selbstzwang führen zu größerer Sicherheit; der sich selbst
beherrschende und regulierende Mensch vergrößert die Autonomie gegenüber seiner
eigenen Triebnatur, kontrolliert seine Affekte selbst, muss nicht von außen
gewaltsam eingeschränkt werden. (...)
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Im übertragenen Sinne
hat vor allem Dieter Senghaas die Relevanz des Prozesses der Zivilisation
für die Begrenzung und Überwindung der Gewaltanwendung in
zwischengesellschaftlichen Beziehungen aufgezeigt: „Im internationalen
System lassen sich zwei Prozesse von langer Dauer beobachten:
Machtrivalitäten unterschiedlicher Reichweite sowie Vernetzungen (Interdependenz)
unterschiedlicher Dichte. Mit beiden Erscheinungen beschäftigt sich die
Friedensforschung: Mit Machtrivalitäten, weil aus ihnen Gewalt, im Grenzfall
Kriege, erwachsen können; mit Interdependenzen, weil sie Machtrivalitäten
unterlaufen oder überwölben sollen. Zwischen beiden Erscheinungen besteht
ein dialektischer Zusammenhang: |
Je
unverstellter die Machtrivalitäten, um so weniger haben die Interdependenzen
Chancen, Konflikte abfedern zu helfen; je ausgeprägter Interdependenzen, um so
größer die Wahrscheinlichkeit, Machtrivalitäten in den Hintergrund zu drängen
sowie unvermeidliche Interessenkonflikte in friedliche Bahnen zu lenken.
Potentiell gewalttätige und vor allem kriegerische Machtrivalitäten in eine
friedliche Konfliktregelung zu überführen, ist Inhalt des Zivilisationsprozesses.
In ihm geht es also um die Transformation von Konflikten. Dabei wird Macht nicht
eliminiert, sondern eingegrenzt. Sie wird durch die Verrechtlichung der
Auseinandersetzungen eingehegt.
Eine solche Verzivilisierung von Machtrivalitäten und damit von Politik hat
zunächst unterhalb des internationalen Systems im klassischen westlichen
Territorialstaat stattgefunden. In ihm kam es zu einer stufenweisen
Monopolisierung von Gewalt und zur Herausbildung einer arbeitsteiligen
Gesellschaft und Wirtschaft. Die Entwicklung eines legitimen staatlichen
Gewaltmonopols führte zur Entprivatisierung von Gewalt; eine weitflächige
Vernetzung unter Wettbewerbsbedingungen machte zweckrationales ökonomisches
Handeln zum Imperativ. Beides mäßigte praktisches Verhalten. Überdies
provozierte die Monopolisierung von politischer Macht und ökonomischer
Verfügungsgewalt im Laufe der Zeit die Forderung nach demokratischer Teilhabe
von breiten Bevölkerungsschichten. So entwickelte sich schrittweise in
jahrhundertelangen gesellschaftspolitischen Konflikten der demokratische
Rechtsstaat. In ihm werden Konflikte institutionell geregelt.“
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Zivilisationsprozess zur
Überwindung kollektiver Gewalt beiträgt. Er ist das Ergebnis langfristiger
Wandlungen der politischen Struktur und der sozioökonomischen
Existenzbedingungen von Gesellschaft und Individuen. In seinem Verlauf wird
jener kulturelle Wandel immer bedeutsamer, der zur moralischen Delegitimierung
von Gewalt führt oder der zumindest Art und Anzahl jener Fälle, in denen Gewalt
noch als legitim angesehen werden darf, einschränkt.
In den internationalen Beziehungen lässt sich die Wirkung des so beschriebenen
Zivilisationsprozesses insbesondere im (Völker)Rechtsinstitut des
Gewaltverzichts oder Gewaltverbots fassen. Darunter wird die verbindliche
Verpflichtung eines Staates verstanden, bei Streitigkeiten mit anderen Staaten
auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt zu verzichten, sei sie multilateral
und abstrakt oder bilateral gegenüber einem anderen Staat ausgesprochen.
Beispielsweise normiert Artikel 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen: „Alle
Mitglieder enthalten sich in ihren internationalen Beziehungen der Drohung mit
Gewalt oder der Gewaltanwendung, die gegen die territoriale Unversehrtheit oder
die politische Unabhängigkeit irgend eines Staates gerichtet oder sonst mit den
Zielen der Vereinten Nationen unvereinbar ist.“ Gleichwohl wurden seit dem Ende
des Zweiten Weltkriegs mehr als 160 Kriege geführt. Es wird daher zu fragen sein,
ob dem Problem der Begrenzung und Überwindung von Gewalt nicht aus einer anderen
Perspektive als der zwischenstaatlichen beizukommen ist, da das Völkerrecht zwar
die Gewaltanwendung zunehmend delegitimiert, diese Delegitimation aber mangels
einer effektiven Durchsetzungsinstanz im Verkehr der Staaten untereinander nicht
mit verbindlicher Wirkung eingeklagt werden kann."
[aus: Reinhard
Meyers: Grundbegriffe, Strukturen und theoretische Perspektiven der
Internationalen Beziehungen, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.):
Grundwissen Politik, 2. Aufl., Bonn 1993, S. 283-285]
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