| |
Regionalisierung statt
Globalisierung?
Der folgende Textauszug des bedeutenden Friedens- und Konfliktforschers
Ernst-Otto Czempiel argumentiert, Regionalisierung - nicht Globalisierung - sei
das Kennzeichen der Epoche.
"Globalisierung ist, so scheint es, das Kennwort des ausgehenden 20.
Jahrhunderts. Jedenfalls ist es in aller Munde. In der Tat ist die Welt ein
Erfahrungshorizont der Gesellschaft geworden. Die Medien berichten weltweit, die
Verkehrsverbindungen sind global, die transnationalen Korporationen sind in
vielen Ländern der Welt vertreten. Globalisierung wird auch argumentativ
verwendet, zur Begründung herangezogen für gewünschte Veränderungen in Politik
und Wirtschaft. Es dient zur Inszenierung politischen Wandels.
Näherem Nachprüfen hält der Begriff der Globalisierung nicht stand. Die
Internationalisierung der Weltwirtschaft beginnt schon in der Mitte des 19.
Jahrhunderts, die transnationalen Korporationen haben seit der Mitte der
sechziger Jahre also nur ausgeweitet, was sie lange vorher begonnen hatten.
Weltweit vertreten sind sie nach wie vor nicht. Ihr Einzugsbereich, die
Industrie- und Schwellenländer, erstreckt sich in einem schmalen Gürtel von
Nordamerika über Westeuropa bis nach Südostasien. Nördlich und südlich davon ist
von Globalisierung wenig zu verspüren. Mehr als die Hälfte der Menschheit muss
zwei Tagesreisen aufwenden, um zum nächsten Telefon zu gelangen. Die Welt hat
also noch eine gute Weile vor sich, bis sie im Bereich der wirtschaftlichen
Wohlfahrt globalisiert ist.
Es gibt Prozesse mit weltweiter Reichweite. Dazu zählte während des Kalten
Krieges die Bedrohung durch Nuklearwaffen. Ihr Einsatz hätte weltweite
Auswirkungen gehabt, möglicherweise den Globus vernichtet. Die Luft- und
Wasserverschmutzung kann alle Menschen auf der Welt in Mitleidenschaft ziehen,
ebenso eine Klimaveränderung. Diese Prozesse sollten nicht unterschätzt, sondern
sehr ernst genommen werden. Sie rechtfertigen es aber nicht, Globalisierung zum
Kennzeichen der Epoche zu erheben.
Im Begriff der Globalisierung schwingt aber noch eine andere, eine systematische
Bedeutung mit. Globalisierung meint nicht nur Reichweite, sondern auch
Zusammenhang. Die Staaten sind miteinander verknüpft. Sie sind nicht mehr
isoliert, nicht mehr autonom in der Befriedigung ihrer politischen Interessen.
Sie hängen voneinander ab, sind aufeinander angewiesen. Wer von Globalisierung
spricht, hat diesen Zusammenhang im Auge, die Interdependenz. Sie ist in der Tat
etwas Neues, war vor fünfzig Jahren noch nicht, oder erst andeutungsweise
gegeben. Aber diese Interdependenz ist auch heute noch nicht global anzutreffen.
Die Weltwirtschaftskrise der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zeigt es. Sie
hat ihren Ursprung in Südostasien und hat Wirkungen in den Industriestaaten
hervorgerufen. Sie sind aber nicht in die Krise hineingerissen worden. Diese
Wirkung trat regional auf, aber noch nicht global (...).
Der Begriff der Globalisierung deutet richtig aber unscharf an, dass sich die
Position des Staates zum Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts in doppelter Weise
geändert hat. Sie wird von den Prozessen der Interdependenz überwölbt, die es
einem Staat nur dann ermöglicht, seine Ziele zu erreichen, wenn andere Staaten
kooperieren. Der Staat wird (...) sehr eng mit seinen Nachbarn verklammert.
Dieser Prozess findet vornehmlich regional statt. Regionalisierung ist daher das
Kennzeichen der Epoche, nicht Globalisierung. Nur wenige Prozesse haben eine
weltumspannende Reichweite: die mögliche atomare Zerstörung, die Verschmutzung
der Luft und die des Wassers.
Gleichzeitig wird der Staat in der Welt der Industriestaaten unterlaufen von
gesellschaftlichen Akteuren. Sie haben sich aus der Kontrolle der Regierungen
emanzipiert und ihre eigenen Handlungszusammenhänge in der internationalen
Politik aufgebaut. Durch die Kooperation mit den Partnern in anderen Staaten
entsteht ein Netzwerk gesellschaftlicher Interaktionen, das dem der Regierungen
Paroli bietet. Akteure dieser Art sind nicht nur - wenn auch in besonderem Maße
- die großen transnationalen Korporationen. Wichtige transnationale Akteure sind
auch die Nicht-Regierungsorganisationen wie amnesty international oder OXFAM."
[aus: Ernst-Otto Czempiel, Regionalisierung
und Globalisierung – Herausforderungen der deutschen Außenpolitik; in:
Friedrich-Ebert-Stiftung, Akademie der politischen Bildung (Hg.), Globale
Politik für eine globale Welt – Das Vermächtnis von Willy Brandt, Bonn 1999, S.
24-25 und 30-31]
[Seitenanfang]
|