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Wie lässt sich
aggressives Verhalten erklären? - In der Psychologie werden zwei klassische Erklärungsansätze unterschieden:
Triebtheorie und Frustrationstheorie, die auf einer
gesonderten Seite vorgestellt
werden. Im folgenden Textauszug geht es um einen allgemeineren Ansatz, der
sich auch für die Erklärung von Aggression nutzen lässt, nämlich die Lerntheorie.
"Während die Trieb- und Frustrationstheorie jeweils einen spezifischen Faktor
zur Aggressionserklärung heranziehen, erklärt die Lerntheorie nach Prinzipien,
die für anderes Verhalten ebenso gelten. Lernen ist ein grundlegendes
Phänomen, nämlich die Veränderung personaler Dispositionen (Wissen,
Einstellungen, Fertigkeiten usw.) aufgrund von Erfahrungen. Psychologisch ist
Lernen aber nichts Einheitliches; es gibt verschiedene Typen von
Lernvorgängen.
Und auch was gelernt wird, kann sehr vielfältig sein: Wer die Schuldigen
sind, wie man eine Waffe gebraucht, wo man gehorsam zu sein hat - dies alles und
vieles mehr lässt sich lernen. Daher kann 'Lernen' als Erklärung je nach Art des
Aggressionsphänomens sehr unterschiedlich aussehen, und insofern ist 'die'
Lerntheorie lediglich ein Sammelname für ein breites Spektrum von Erklärungen.
Folgende Typen des Lernens erscheinen für das Thema Aggression von
besonderem Interesse:
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Lernen am Modell. Dieses
Prinzip ist allen geläufig: Man erwirbt neues Verhalten, indem man andere
beobachtet. Häufig wird das beobachtete Verhalten lediglich im Kopf gespeichert,
manchmal wird es tatsächlich nachgeahmt. Die wichtigsten Vorbilder sind
in der Regel die eigenen Eltern, der Freundeskreis und andere wichtige 'Bezugspersonen'.
Daneben gibt es auch die Möglichkeit, dass über die öffentlichen Medien
aggressive (aber auch prosoziale und andere) Verhaltensweisen vermittelt werden.
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Lernen am Erfolg und Misserfolg.
Hier lernt das Individuum aus den Konsequenzen seines Tuns. Ein Erfolg für
aggressives Verhalten ist es beispielsweise, wenn man sich mit einem 'Machtwort'
durchsetzt, wenn man sich durch Gewalt bereichert, wenn man durch Gewalt
Beachtung in den Medien oder Anerkennung in der eigenen Gruppe findet, oder wenn
man einen Angreifer zurückschlägt. Durchsetzung und Gewinn, Beachtung und
Anerkennung sowie Abwehr und Selbstschutz sind also besonders wichtige
Aggressionserfolge. Daneben gibt es auch angenehme innere Effekte wie
Nervenkitzel (z.B. bei Fussballrowdies) und positive Selbstbewertungen (z.B.
Stolz über die eigene Stärke oder Tapferkeit). Während das Lernen am Modell uns
mit neuen Verhaltensweisen vertraut macht, 'lehren' uns die Erfolge,
Verhaltensweisen einzusetzen, zumindest in bestimmten, 'erfolgversprechenden'
Situationen. Bleibt das aggressive Verhalten erfolglos oder hat es negative
Konsequenzen, so wird es in Zukunft wahrscheinlich seltener auftreten.
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Kognitives Lernen, Lernen
im Sinne einer Wissensbildung. Gelernt werden aggressionsrelevante Begriffe,
Denkweisen, Handlungspläne und Methoden. Man lernt zum Beispiel die Begriffe 'Notwehr',
'Feind' oder 'Ehre' und was sie für das Handeln bedeuten können (...). Man lernt
Methoden der Überlistung und des Waffengebrauchs. Diese Kenntnisse und
Überzeugungen können einerseits mitbestimmen, wie wir die Dinge auffassen, sie
können andererseits unser Handeln leiten.
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Aus lerntheoretischen Erklärungen
ergeben sich naturgemäß zahlreiche Konsequenzen für die Verminderung
aggressiven Verhaltens. Denn durch Modelle, durch Erfolg und Misserfolg und
kognitives Lernen können Menschen auch alternative, nichtaggressive
Verhaltens- und Denkweisen erlernen, und in mehr oder minder großem Ausmaß
geschieht dies bei jedem Menschen. Systematisch fördern lässt sich solches
Lernen durch Erziehung, Training und Therapie. Man kann z.B. vormachen und
erläutern, wie man mit Konflikten vernünftig umgeht, man kann es in
Rollenspielen üben. Man kann Kinder gezielt mit Beachtung und Zuwendung 'belohnen',
wenn sie Bitten vorbringen oder argumentieren und gleichzeitig Wutausbrüche,
Jammern usw. ignorieren. Man kann sich selbst oder anderen die Frage stellen 'wie
lösen wir das Problem?' (statt vorrangig 'wer ist schuld?') und vieles mehr
(...).
Einigkeit besteht darin, dass das konkrete Verhalten und die 'dahinter'
liegenden inneren Prozesse sowohl von der jeweiligen Person als auch von
der jeweiligen Situation, also von internen wie von externen Faktoren
abhängen. Während die Triebtheorie äußere Faktoren weitgehend vernachlässigt und
die ursprüngliche Frustrationstheorie sie überbetont (frustrierende Ereignisse
als Auslöser), nehmen die modernen Fassungen von Frustrations- und Lerntheorie
hier eine Mittelstellung ein. Nur so wird es möglich zu erklären, dass sich
einerseits derselbe Mensch je nach Anlass, nach Anwesenheit bestimmter Personen
usw. mal aggressiv, mal friedlich verhält (Einfluss der Situation), und dass
sich andererseits in derselben Situation verschiedene Menschen unterschiedlich
verhalten (Einfluss der Person).
Menschen unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Motive für
aggressives Verhalten (Neigung zu Vergeltungswünschen, Geldgier u.a.),
hinsichtlich ihrer Aggressionshemmungen und hinsichtlich ihres
Verhaltensrepertoires (Beherrschung von aggressiven und alternativen
Verhaltensweisen). Diese Personfaktoren bestimmen zusammen die sichtbare
Aggressivität eines Menschen.
[aus: Hans-Peter Nolting, Aggression
ist nicht gleich Aggression. Ein Überblick aus psychologischer Sicht; in: Der
Bürger im Staat 43, 2/1993, S. 93]
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