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Internationale
Organisation als Friedensstrategie
"Seit dem Beginn des 13. Jahrhunderts ist immer wieder die Theorie
aufgestellt worden, dass die - modern ausgedrückt - Strukturveränderung des
internationalen Systems durch eine Internationale Organisation eine gewisse
Einschränkung seiner prinzipiellen Offenheit und damit eine wichtige
Friedensstrategie enthalten kann. (...)
Sie bewirkt nicht nur eine Verrechtlichung der Beziehungen, sondern beeinflusst
durch die kontinuierliche Aufrechterhaltung einer solchen Beziehung die Politik
der Mitglieder. Unter denjenigen Strategien, die den Frieden durch die
unmittelbare Einwirkung auf die Interaktion der Systemglieder bewirken wollen,
ragt die Strategie der Einrichtung Internationaler Organisationen nicht nur als
die früheste, sondern auch als die beste hervor. (...)
Es fällt in der Tat schwer, die Veränderungen im Konfliktverhalten zu überschätzen,
die durch die Einrichtung einer Internationalen Organisation bewirkt werden können.
Nicht umsonst haben sich über Jahrhunderte der europäischen Geschichte hin die
Theoretiker mit diesem Konzept beschäftigt. Nicht umsonst wurde nach dem Ersten
und wiederum nach dem Zweiten Weltkrieg die Strategie zur Kriegsvermeidung
jeweils in die Form der Errichtung einer Internationalen Organisation gegossen.
Die damit beabsichtigte Veränderung des internationalen Kontextes, die Abschwächung
bzw. Aufhebung der anarchischen Struktur des internationalen Systems wurde mit
Recht zu einer wichtigen Voraussetzung des Friedens erhoben. (...)
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Die Gründung der
Vereinten Nationen 1945 muss als eine jener Umwälzungen der
Denkweise bezeichnet werden, die fortwirkende Umwälzungen in der
Kulturgeschichte hervorgebracht haben. Sie erhob nicht nur den Gewaltverzicht
zur Rechtsnorm, sie schuf auch den Kontext, der die Beobachtung dieser Norm
erleichtern sollte. Sie verfolgte den Zweck, wie Cordell Hull 1944 gesagt hat,
die „Notwendigkeit für Einflusssphären, für Allianzen, für
Machtgleichgewichte oder jedes andere spezielle Arrangement (zu beseitigen),
durch die die Staaten in der unglücklichen Vergangenheit ihre Sicherheit zu gewährleisten
oder ihre Interessen zu fördern versuchten“.
Der Gedanke war völlig richtig. Die Mitgliedschaft aller Staaten in einer
universalen Organisation drückt die multilaterale Anerkennung der
Existenzberechtigung aus, ergänzt den Gewaltverzicht positiv. Sie erleichtert
ihn, indem sie auf der Ebene der politischen Systeme deren kontinuierlichen
Kontakt institutionalisiert und stimuliert. In der Zusammenarbeit in den
Organisationen der Vereinten Nationen reflektiert sich schon die Einsicht, dass
Gewaltverzicht und Friede nur durch Kooperation, nicht durch Konflagration zu
erreichen sind. |
Damit werden Konflikte weder verkleinert noch gar beseitigt. Sie verändern
jedoch ihr Erscheinungsbild. Ohne eine Internationale Organisation gelten sie
als absolut; sie separieren die Gegner und machen damit auch perspektivisch
deren Vernichtung möglich. Genau diese Perspektive wird durch die
Internationale Organisation aufgehoben. Kontinuierliche Kommunikation und
Kooperation dokumentieren einen kontinuierlichen Bestand an Gemeinsamkeit, der
die Existenzaufhebung nicht mehr zulässt. Er verweist den Konfliktaustrag auf
nicht-gewaltsame Mittel, jedenfalls auf gewaltgeminderte Mittel. Im gleichen
Ausmaß werden die Konflikte relativiert: Ihr Austrag kann nicht mehr die
Existenz des Gegners, sondern lediglich dessen Entfaltungschancen betreffen.
(...)
Der Grundgedanke des Abbé [Abbé de Saint-Pierre, 1658-1743] bestand darin,
durch einen Staatenbund, in dem sich die Fürsten eine Besitzstandgarantie
gaben, die Qualität des internationalen Systems und damit den Kontext der
Interaktion zu verändern. Indem die Union die Sicherheit gewährleistet,
erlaubt sie eine andere Außenpolitik, den Verzicht auf Krieg. Der Plan, den der
Abbé vorlegte, mutet durchaus als modern an. Er enthielt 12 Grundsatzartikel,
die nur mit Zustimmung aller Mitglieder verändert werden durften; unter ihnen
enthielt der Artikel 2 die Besitzstandgarantie. Die folgenden acht wichtigen
Artikel konnten die Mitglieder mit Dreiviertelmehrheit verändern; darin wurden
der Sitz der Union, die Bundesexekution usw. festgelegt. Acht „nützliche
Artikel“ beschrieben die Organe der internationalen Gemeinschaft.
In dem Bund waren die Fürsten vertreten durch ständige Repräsentanten, die in
der „Stadt des Friedens“, eben Utrecht, permanent tagten. Sie waren die
Adressaten bei Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern. Scheiterte der Versuch
einer Vermittlung durch eine Kommission, so wurde die Entscheidung durch den
Senat mit Dreiviertelmehrheit getroffen. Sie war bindend. Wer vor der
Entscheidung die Waffen ergriff oder sie missachtete, unterlag der
Bundesexekution. Im Artikel 8 war ein totales Gewaltverbot enthalten;
Feindseligkeiten durften nur gegen diejenigen eröffnet werden, die zum Feind
der Organisation erklärt worden waren. Um die Ausführung der Beschlüsse der
Organisation zu überwachen, unterhielt der Senat in allen Mitgliedsstaaten ständige
Repräsentanten. Der Senat kümmerte sich auch um den Handel. Er besaß
Handelskammern in den beteiligten Staaten und regelte den Handel auf der Basis
gleicher und reziproker Rechte. (...)
Selbst die Gründung des Völkerbundes und die der Vereinten Nationen sind nicht
über die Konstruktion des Abbé hinausgegangen, die in bezug auf die
Bundesexekution den Völkerbund und im Hinblick auf die Schiedsgerichtsbarkeit
sogar noch die Vereinten Nationen überholte.
[Thomas Hobbes´ 1651 erschienene Abhandlung
"Leviathan" zählt zu den zentralen Werken der Staatsphilosophie] |
Stets geht es um Varianten des Staatenbundes, dessen Zustandekommen als
Zusammenschluss der potentiellen Feinde den eigentlichen Friedensakt darstellt.
Er verändert das internationale System, indem er dessen Anarchie aufhebt und
durch Überschaubarkeit und Ordnung ersetzt. Der Staatenbund wirkt damit ähnlich,
wenn auch schwächer, wie ein Weltstaat. Durch den Zusammenschluss wird die hobbesianische Situation der internationalen Politik beseitigt, die
Notwendigkeit des Kampfes aller gegen alle aufgehoben. Damit entfallen die Anlässe,
damit entfällt auch die Notwendigkeit zum Krieg. Er kann durch andere
Austragsmodi, durch Mehrheitsbeschluss, durch Rechtsprechung usw. ersetzt
werden. (...)
Die Internationale Organisation kann die Kollektive Sicherheit nicht bieten, die
gewaltlose Konfliktbereinigung nicht oktroyieren, die Gewalt nicht aus der Welt
schaffen. Sie kann aber zur Verwirklichung dieser Ziele durch die staatlichen
Akteure dadurch beitragen, dass sie eine Welt abbildet und herstellt, in der der
Gewaltverzicht als richtig und angemessen erscheint. Ein Konflikt zwischen
Staaten, die Mitglieder in einer Internationalen Organisation sind, dort
zusammenarbeiten und ihren Konflikt innerhalb dieser Organisation auszutragen
versuchen, erhält bedeutende und wirksame Anreize zur Gewaltverminderung. Er
wird deswegen in seiner Substanz nicht verändert, aber die Austragsmodi werden
entscheidend durch die Internationale Organisation beeinflusst. Die Wirkung ist
noch sehr viel größer, wenn die Organe und die Institutionen der Organisation
zur Konfliktlösung herangezogen werden, im Falle der Vereinten Nationen also
nach Kap. VI verfahren wird, vor allem nach Art. 33 und Art. 37. (...) |
Auf diese neuen spezifischen Möglichkeiten haben die verschiedenen
Generalsekretäre der Vereinten Nationen stets werbend hingewiesen. U Thant hob
in seinem letzten Jahresbericht die Bedeutung der Generalversammlung als
globalem Meinungsbildner und die des Sicherheitsrates als Wächter über den
einzelnen Konfliktlagen in der Welt hervor. Kurt Waldheim wies besonders die Großmächte
darauf hin, dass sie eigentlich „einen besonderen Bedarf für die
Weltorganisation haben, (nämlich) als eine Alternative zu der Art von
Konfrontation, die, in unserem Nuklearzeitalter, sich sehr wohl als tödlich für
uns alle erweisen könnte“. Pérez de Cuéllar betonte den „Wert und die Nützlichkeit
der Vereinten Nationen als eines Verhandlungs-Forums“, beklagte aber
gleichzeitig, dass es nicht genügend gewürdigt und benutzt würde. Auch er
verwies auf die spezielle Verantwortung der Großmächte im Sicherheitsrat,
dessen „Pflicht“ es sei, „sicherzustellen, dass dieser Prozess (der
Konfliktlösung) friedlich bleibt, damit er nicht den größeren Frieden gefährdet“.
Alle Generalsekretäre waren sich in der Kritik einig, mit der sie die -
zunehmende - Tendenz bedachten, die Vereinten Nationen zu umgehen, sie aus
konkretem Konfliktmanagement herauszuhalten. E negativo unterstreichen diese
Versuche den friedensstrategischen Wert der Internationalen Organisation. Die
von ihr ausgedrückten Bindungen schränken die Handlungsfreiheit der
Konfliktpartner ein, verlangen jedenfalls den Verzicht auf das Gewaltelement,
zumindest dessen Reduktion. Positiv gewendet: Der reale Einfluss der
Internationalen Organisation auf die Interaktion entsteht zunächst dadurch,
dass sie eingebettet wird in das durch die Internationale Organisation ausgedrückte
Bewusstsein der Gemeinsamkeit, in dem sich die Kontextveränderung des
internationalen Systems niederschlägt. Um so wirksamer können die
Konfliktbehandlungsmethoden werden, die in der Organisation institutionalisiert
sind. Was Castlereagh das „group in“ nannte, wird heute in breitem Maße zur
Sozialisationsleistung der Internationalen Organisation. Sie übt durch die
Praxis ein bestimmtes Verhalten der Staaten ein und lässt es zur akzeptierten
Norm werden. Die Institutionalisierung solcher Normen und Perzeptionen trägt
dann bei denen, die sie befolgen, auch zur Identifikation und zur Selbstbestätigung
bei, da sie sich als Teil eines umfassenden und allseits akzeptierten
Kooperationszusammenhangs verstehen.
Daraus resultieren messbare Folgen, wie Butterworth 1978 herausgefunden hat: Die
„Gewohnheit der Zusammenarbeit verstärkt die Bedeutung von Politiken, die
kooperatives Verhalten durch Konsens und nicht durch Zwang“ herbeiführen. Die
Kontextveränderung, die die Internationale Organisation bewirkt, gipfelt in dem
Druck auf die Mitglieder, ein „verlässliches und dauerhaftes
Verhaltensmuster“ an den Tag zu legen. Was Castlereagh schon wusste, weiß die
moderne Sozialwissenschaft besser und belegbar: „dass Staaten durch die
Mitgliedschaft in einer Internationalen Organisation in Richtung auf ein
bestimmtes (nämlich gemäßigtes) Verhalten sozialisiert werden.“"
[aus: Ernst-Otto Czempiel:
Friedensstrategien, Systemwandel durch Internationale Organisationen,
Demokratisierung und Wirtschaft, Paderborn 1986, S. 81-87, 103-105]
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