Völkerrecht
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Friedenspädagogik

Im folgenden Textauszug erörtert Ernst-Otto Czempiel die Wirkungen des Völkerrechts als Friedensstrategie, zeigt aber auch die Grenzen dieser Strategie auf, die auf den Konsens der Staaten angewiesen ist. Zu den besonderen Leistungen des Völkerrechts zählt die Kodifikation der Menschenrechte.

Hugo Grotius

"Da der Friede - und sein Gegenstück, der Krieg - Interaktionen darstellen, liegt es historisch wie logisch nahe, dass die Friedensstrategien unmittelbar diese Beziehungen zu beeinflussen suchen. (...) [Es] gibt (...) zwei große und wichtige Versuche in dieser Richtung: das Völkerrecht und das Konzept der Internationalen Organisation. Das Völkerrecht hat sich spätestens seit 1625, als Hugo Grotius seine „Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens“ erscheinen ließ, immer auch als ein Friedensrecht verstanden. Es ist im Laufe seiner Entwicklung diesem Verständnis näher gekommen. Es versucht, die Interaktion dadurch zu beeinflussen, dass es ihre Normen kodifiziert. (...)

Theoretisch lässt sich die Beziehung zwischen Frieden und Völkerrecht leicht bestimmen. Die Rechtsprechung ist die höchste und friedlichste Form der Konfliktregelung, weil sie Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit miteinander verbindet. Das Recht beherrscht daher mit Recht die andere, dem Krieg entgegengesetzte Seite des Kontinuums der Konfliktlösungen.

Das Recht zu kodifizieren, bedeutet nicht, es zu schaffen. Daraus ist dem Völkerrecht häufig der Vorwurf gemacht worden, es beschreibe und konserviere den jeweiligen Status des Unfriedens. Das ist nur bedingt richtig und nur aus der Retrospektive plausibel. Es hätte in der Tat wenig Sinn gehabt, reine Ideale zu postulieren. Da es im internationalen System keine rechtsetzende und rechtsanktionierende Instanz gibt, kann das Völkerrecht nur festschreiben, was von den Staaten als Teilnehmern des Systems als verbindlich angesehen wird. Die schriftliche Fixierung des Fortschritts stellt (...) einen weiteren Fortschritt dar.

Hat das Völkerrecht darüber hinaus keine eigenen, direkt auf den Friedensprozess einwirkenden Leistungen erbracht? Es hat, erstens, den Konfliktaustragsmodus durch Schiedsspruch und Gerichtsurteil in die internationale Politik eingeführt und mit dem Ständigen Schiedshof 1899, dem Ständigen Internationalen Gerichtshof von 1920 und dem IGH Instanzen dafür eingerichtet.

UN-Generalversammlung

Das Völkerrecht hat, zweitens, wenn auch nur mit einigen Vorschriften in der Satzung des Völkerbundes und der der Vereinten Nationen, Ansätze zur friedlichen Veränderung von Unrechtszuständen entwickelt. Und es hat schließlich, drittens, durch die Entwicklung von neuen Rechtsnormensystemen Wege für die Fortschreibung des Völkerrechts gebahnt, die den Sachverhalten und dem Bewusstsein der Gegenwart weit vorauseilen. Diese Leistung ist vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, im Zusammenhang mit den Vereinten Nationen, anzutreffen. Freilich kann man argumentieren, dass die ersten beiden dieser drei Leistungen von den Staaten erbracht wurden, wenn auch unter Mithilfe des Völkerrechts, das durch die Völkerrechtswissenschaft personifiziert wird. Ihr ist die dritte Leistung ausschließlich zuzuschreiben.

Ansonsten haben an der Weiterentwicklung des Völkerrechts auch politische Interessen ihren Teil: der europäische Pazifismus des 19. Jahrhunderts beispielsweise, der die Errichtung von internationalen Schiedsgerichten und Gerichtshöfen maßgeblich vorangetrieben hat; die Dritte Welt, die das Recht auf Entwicklung in das Völkerrecht hineingeschrieben hat. Mit dem Begriff des Völkerrechts, der hier als Kürzel beibehalten wird, werden also mehrere Akteure erfasst: Staaten, Völkerrechtswissenschaft, Interessengruppen. Sie integrieren sich in dem Versuch, die Gewaltanwendung im internationalen System durch rechtliche Regelung der Interaktion einzuschränken, beziehungsweise zu beseitigen. (...)

Die bedeutendste Leistung des Völkerrechts liegt in der den Friedensprozess begleitenden Kodifikation seiner einzelnen Stadien. Hier gilt zwar Grotius (1584-1645) als der Begründer des modernen Völkerrechts, als Schöpfer der ersten umfassenden Kodifikation des geltenden Friedens- und Kriegsrechts, ihm um fast 100 Jahre voraus war der Dominikaner de Vitoria und, nur wenig später, der spanische Jesuit Suarez (1548-1617). Diese drei, vor allem Grotius, haben das Völkerrecht der Neuzeit begründet, indem sie es auf der Basis des Naturrechts zu einer Ordnung der zwischenstaatlichen Beziehungen der sich entwickelnden Territorialstaaten machten. (...)

Der Kernbegriff, auf dem das Völkerrecht der Neuzeit aufruhte, war der der Ordnung. Sie bewirkte nicht die Abschaffung des Krieges, wohl aber dessen „Hegung“ (Carl Schmitt). Sie kam dem Frieden als Nicht-Krieg zweifellos zugute. Indem der Krieg begrenzt und geordnet wurde, verminderten sich die Schrecken, die die ungezügelte Gewaltanwendung mit sich gebracht hatte. Krieg wurde zum anerkannten Mittel der Politik, das begrenzt einsetzbar und daher erfolgreich sein konnte. Dessen Verwendung kodifizierte das klassische Völkerrecht, das bis zum Ersten Weltkrieg gültig blieb. Es enthielt keine Friedensstrategien im eigentlichen Sinne, sondern regulierte den Einsatz des Krieges. Es reflektierte damit die Interessen des Territorialstaats und des Absolutismus, die sich weniger auf die Vernichtung von Land und Leuten, als auf deren Zugewinn richteten.

Dazu konnten nicht nur gewaltsame, sondern auch gewaltfreie Mittel eingesetzt werden. Das Völkerrecht der Neuzeit entwickelte die Verhandlung (colloquium), das Abkommen (compromissum), auch das Los (lors). Das wichtigste dieser Mittel war das Abkommen, eben der Kompromiss. Dessen damalige friedensstrategische Bedeutung darf nicht sehr hoch veranschlagt werden. Ließ sich ein Abkommen nicht auf gewaltfreiem Wege erreichen, stand der Krieg als akzeptierte Alternative stets zur Verfügung.

Seine Stellung als „ultima ratio regis“ war im ius publicum europaeum unbestritten. Die Staaten und die darin lebenden Menschen galten als das Privateigentum der Fürsten, deren Beziehungen untereinander durch das Völkerrecht geregelt wurden. Die Fürsten verkörperten nicht den Staat, sie bildeten ihn - wie es Ludwig XIV. in seiner klassischen Formel ausgedrückt hat.

Insofern war das Völkerrecht als Strategie konsequent angelegt und ausgerichtet. Die internationalen Beziehungen der sich entwickelnden Neuzeit spielten sich, soweit sie politisch relevant waren, zwischen den Fürsten ab. Die gesellschaftlichen Umfelder wurden davon zwar betroffen, aber doch nur selektiv. Selbst der Krieg betraf nicht das ganze Land, sondern nur begrenzte, kleine Teile. Andererseits gab es, sieht man von den sich entwickelnden wirtschaftlichen Austauschbeziehungen ab, kaum nennenswerte Interaktionen zwischen den gesellschaftlichen Umfeldern. Noch bis in das 19. Jahrhundert hinein war das Pferd das schnellste Verkehrs- und Kommunikationsmittel. Das schränkte andererseits auch die Machtausübung des Absolutismus ein; aber er mediatisierte im Hinblick auf die politische Interaktion im System seine Untertanen völlig. Nur auf dieser herrschaftssoziologischen Basis konnten Frieden und Krieg gleichberechtigt im politischen und rechtlichen Bewusstsein der Neuzeit nebeneinander stehen.

Das änderte sich auch nicht sofort durch die Französische Revolution, die die Fürstensouveränität durch die des Volkes ersetzte. Sie hob die Mediatisierung des einzelnen nicht auf, verstärkte zunächst sogar die außenpolitische Kompetenz der politischen Systeme. Sie vertraten die Ansprüche des Staates gegen die anderer Staaten, verlangten für die Gewährleistung der Sicherheit Unterordnung unter die Herrschaft. Allerdings musste sie jetzt, und das ist eine Folge der Volkssouveränität, funktional begründet werden. Der durch die Französische Revolution bewirkte Aufstieg des einzelnen zum Subjekt der Politik hatte zunehmend die Forderung nach der Erhaltung seiner Existenz zur Folge. Sie wurde zunächst nur im Ausnahmefall des Krieges erhoben, wo der Schutz und der Anspruch des Staates gleichermaßen ausrasteten; dementsprechend wurde das ius in bello erweitert. Diese Forderung aber dehnte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auf die gesamte Breite der Politik aus. Sie war es, die die Gleichrangigkeit von Krieg und Frieden beseitigt, den Frieden zum primären Sollzustand der internationalen Politik erklärt und schließlich die Gewaltanwendung im internationalen System de-legitimiert hat.

Dieser Prozess der Demokratisierung, der von der Französischen Revolution ausgelöst wurde, der im Laufe des 19. Jahrhunderts langsam in Gang kommt, sich während des 20. Jahrhunderts beschleunigt und bei weitem noch nicht abgeschlossen ist, schlägt sich in der Entwicklung des Völkerrechts deutlich nieder. Die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 erweiterte das ius in bello, wurde damit zur Geburtsstunde des humanitären Völkerrechts. Hier wurde zum ersten Mal sichtbar - und zeigte sich dann bei der ersten Genfer Rotkreuz-Konvention von 1864 und vor allem in der Haager Landkriegsordnung von 1907 -, dass der einzelne elementare Rechte besitzt, die durch den Staat nicht mediatisiert werden dürfen, sondern von ihm beachtet werden müssen. (...)

Die die Demokratisierung begleitende Entstehung der pazifistischen Bewegung im 19. Jahrhundert forderte immer drängender den Verzicht auf den Krieg und seinen Ersatz durch friedliche Mittel der Streitschlichtung. Wenn auch nicht von ihr ausgelöst, so doch durch sie bewirkt, wurde am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Ständigen Schiedshof zum ersten Mal ein Verfahren gewaltfreien Konfliktaustrags institutionalisiert. Am Ende des Ersten Weltkrieges wurde dann, wenn auch noch keineswegs vollständig, die einschlägige politische Konsequenz gezogen und die „Freiheit zum Kriege“ erheblich eingeschränkt. Ihm wurden friedliche Schlichtungsverfahren und eine Wartezeit vorgeschaltet.

Damit neigte sich die klassische Phase des Völkerrechtes ihrem Ende zu. Krieg und Frieden standen jetzt nicht mehr als gleichberechtigte Zustände des internationalen Systems nebeneinander; vielmehr rief die Völkerbundsatzung dazu auf, „alle Maßregeln“ zu treffen, „die geeignet sind, um den Völkerfrieden wirksam zu erhalten“ (Artikel 11). Die Entwicklungslinie des Völkerrechts wurde dann weiter gezogen über den Entwurf des Genfer Protokolls von 1924 hin zum Kellogg-Pakt von 1928, der als abschließende Konsequenz den Verzicht der Staaten auf den Krieg als Instrument der nationalen Politik formulierte. Der Pakt war mehr von prinzipieller als von praktisch-politischer Bedeutung, zumal er die noch im Genfer Protokoll verfolgte Verbindung zwischen Gewaltverzicht und friedlicher Konfliktlösung aufgegeben hatte. Aber er dokumentierte den Bewusstseinswandel, signalisierte das Ende des ius ad bellum.

Der durch den Zweiten Weltkrieg ausgelöste Bewusstseinsschub bewirkte dann, dass unter Führung der Vereinigten Staaten die Charta der Vereinten Nationen in Art. 2, Ziff. 4, nicht nur den Krieg, sondern die Anwendung militärischer Gewalt schlechthin verbot und sie durch die in den Kapiteln VI und VII vorgesehenen Regelungsmechanismen ersetzte. Mit Recht ist die Charta als die kopernikanische Wende“ des Völkerrechts bezeichnet worden. Weniger bemerkt wurde dabei, dass die Charta, indem sie die Wende vollzog, sich auch von den spezifisch rechtlichen Konfliktlösungsmodi des Internationalen Gerichtshofs und der Schiedsgerichtsbarkeit ab- und hinwandte zu den politischen Regelungsmechanismen, wie sie dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellt wurden. Die Konfliktregulierung, die die Charta der Vereinten Nationen vorsieht, sind daher im Kontext der Internationalen Organisation, nicht in dem des Völkerrechts zu besprechen.

Der Beitrag des Völkerrechts zu den Friedensstrategien besteht aber nicht nur darin, die verabredeten Vereinbarungen der Staaten zu kodifizieren. Diese Funktion ist schon wichtig genug. Sie verhinderte, dass das erreichte Stadium der Konfliktlösungsmodi unterlaufen oder vergessen wurde. So diskriminiert beispielsweise die Charta der Vereinten Nationen jeden Versuch, durch die Hintertür des Eintretens für eine „gerechte Sache“, etwa für einen nationalen Befreiungskampf, die internationale Gewaltanwendung wieder einzuführen, zur überholten Konzeption des bellum iustum zurückzukehren.

Das Völkerrecht hat aber eben nicht nur die verabredeten Vereinbarungen der Staaten, ihren Konsens kodifiziert. Es hat auch versucht, zur internationalen Konfliktregelung Institutionen auszubilden, die denen der innerstaatlichen Rechtsprechung nachgebildet oder analog waren. Sie haben auf den beiden Haager Konferenzen, zur Zeit des Völkerbundes und zu Beginn der Vereinten Nationen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sind seitdem aber deutlich vernachlässigt worden. (...)

Die Weiterentwicklung des Völkerrechts durch die Formulierung neuer Grundsätze und Normen lässt sich, ebenso wie der Beitrag der Völkerrechtswissenschaft dazu, besonders anschaulich ablesen an dem Versuch, die Menschenrechte international als geltendes Recht zu verankern. Sie waren zwar in der Satzung der Vereinten Nationen erwähnt worden: in der Präambel, im Artikel 1, Abs. 3, und schließlich im Artikel 13 der Charta. Sie waren am 10. Dezember 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von den Vereinten Nationen allgemein verkündet worden. Ihre Umsetzung in bindendes Völkerrecht gelang jedoch erst 1976, als die beiden „Menschenrechtspakte“ über die bürgerlichen und politischen Rechte sowohl wie über die wirtschaftlich-sozialen in Kraft traten. Zumindest für die Unterzeichner dieser Konventionen waren damit die Menschenrechte geltendes Recht geworden, wenngleich über dessen Einhaltung die Staaten selbst befinden.

Die daraus folgenden Einschränkungen sind also beträchtlich, vor allem für die Durchsetzung der praktischen Beachtung der Menschenrechte. Genauso beträchtlich aber ist der Fortschritt, der durch diese Konventionen erzielt wurde. Er dokumentiert die Existenz eines allgemeinen, die vertikale Struktur des internationalen Systems durchbrechenden und die Souveränität der Staaten relativierenden Rechtsbewusstseins. In ihm ist der einzelne zum Subjekt der Politik geworden mit genuinen, durch staatliche Autorität nicht zu vermindernden Rechten und Ansprüchen.

Sie drücken aus, dass es bei aller soziokulturellen Verschiedenheit politische Grundinteressen gibt, die allen Menschen auf der Welt gemeinsam sind. Dass sie zur Artikulation drängen, zeigt das neue politische Erwachen der Menschheit, zeigt, dass sich zumindest eine politische Grundnorm herausgebildet hat, die weltweit beachtet werden will. Sie formuliert und zur internationalen Norm erhoben zu haben, stellt eine der bedeutenden Leistungen des Völkerrechts und der daran beteiligten Völkerrechtswissenschaftler dar. Veränderte Normen verändern das Bewusstsein und beeinflussen damit, wenn auch indirekt und langfristig, Verhalten; sie tragen insofern zum Frieden bei.

Andererseits dürfen die Kodifikation des Völkerrechts und seine Weiterentwicklung funktional nicht überschätzt werden. Die wichtigsten Gründe dafür wurden bereits genannt. Das Völkerrecht ist und bleibt ein Konsensrecht, das darauf angewiesen ist, von den beteiligten Staaten akzeptiert zu werden. Seine Friedensleistung ist nur so groß, wie die Systemmitglieder dies zulassen. Bei ihnen liegt daher die Entscheidung darüber, ob und in welchem Maße das Völkerrecht den Frieden voranbringen kann."

[aus: Ernst-Otto Czempiel: Friedensstrategien, Systemwandel durch Internationale Organisationen, Demokratisierung und Wirtschaft, Paderborn 1986, S. 64-71, 80-81]

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