| |
Der Bildungsbegriff:
Herausforderungen für die Bildung
[Auszug aus: "Lernfähigkeit: Unser
verborgener Reichtum. UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert"]
"Wir müssen uns den größten Spannungen
stellen, besser noch: sie überwinden. Zwar sind sie nicht neu aufgekommen, doch
sie werden von zentraler Bedeutung für die Probleme des 21. Jahrhunderts sein.
Im einzelnen handelt es sich um:
| Die Spannungen zwischen dem ‘Globalen’
und dem ‘Lokalen’: Die Menschen müssen schrittweise Weltbürger werden,
ohne ihre Wurzeln zu verlieren. Dabei sollen sie weiterhin eine aktive Rolle
im Leben ihrer Nation und ihrer örtlichen Gemeinschaft spielen. |
| Die Spannungen zwischen dem ‘Allgemeinen’
und dem ‘Individuellen’: Kultur wird immer mehr globalisiert, bis jetzt
in Teilsegmenten. Wir dürfen weder die potenziellen Möglichkeiten noch die
Gefahren der Globalisierung ignorieren, nicht zuletzt die keineswegs geringe
Gefahr, die Einzigartigkeit jedes menschlichen Individuums zu vergessen. Es
sind die Individuen, die ihre eigene Zukunft wählen müssen, und ihr volles
Potential im sorgfältig bewahrten Reichtum ihrer Traditionen und ihrer
Kulturen ausschöpfen sollten, die, wenn wir nicht behutsam vorgehen, durch
moderne Entwicklungen gefährdet werden können. |
| Die Spannungen zwischen Tradition und
Moderne, die Teil ein und desselben Problems sind: Wie ist es möglich, sich
auf Wandel einzustellen ohne der Vergangenheit den Rücken zu kehren? Wie
kann Autonomie zusammen mit der freien Entwicklung anderer erreicht werden?
Wie lässt sich wissenschaftlicher Fortschritt integrieren? Hier müssen wir
uns den Herausforderungen der neuen Informationstechnologien stellen. |
| Die Spannungen zwischen lang- und
kurzfristigen Überlegungen: Diese hat es immer gegeben, aber heute werden
sie durch die Dominanz des Flüchtigen und Unmittelbaren geprägt. Wir leben
in einer Welt, die überflutet wird von kurzlebigen Nachrichten und
Emotionen, die ununterbrochen die aktuellen Probleme beleuchten. Die
Öffentlichkeit fordert schnelle Antworten und Patentlösungen, während
viele Probleme eine geduldige, konzertierte und allseitig abgestimmte
Reformstrategie erfordern. Das genau trifft auch auf die Bildungspolitik zu. |
| Die Spannungen zwischen der Notwendigkeit
zum Wettbewerb und der Sorge um Chancengleichheit: Dies ist ein klassisches
Problem, das sich sowohl wirtschafts- wie gesellschaftspolitischen
Entscheidungsträgern und Bildungspolitikern seit Beginn des Jahrhunderts
stellt. Es wurden zwar manche Lösungswege versucht, sie haben sich jedoch
nie länger bewährt. Die Kommission wagt zu behaupten, dass der
Konkurrenzdruck viele Verantwortliche verleitet hat, den eigentlichen
Auftrag aus dem Auge zu verlieren: Jeder Mensch soll befähigt werden, all
seine Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Das hat uns - im Rahmen unseres
Mandats - veranlasst, den Begriff des ‘lebenslangen Lernens’ zu
überdenken und zu aktualisieren. Wir wollten drei Kräfte bündeln: den
Anreize bietenden Wettbewerb, die Stärke vermittelnde Kooperation und die
einigende Solidarität. |
| Die Spannungen zwischen der extremen
Ausweitung von Wissen und der Kapazität des Menschen, sich dieses Wissen
anzueignen: Die Kommission konnte der Versuchung nicht widerstehen, neue
Lerngebiete zusätzlich vorzutragen, wie beispielsweise Selbsterkenntnis,
Methoden zur Sicherung des physischen und psychischen Wohlbefindens oder
Methoden für ein besseres Verständnis der natürlichen Umwelt und für
ihre bessere Erhaltung. Da die Lehrpläne bereits einem zunehmenden Druck
ausgesetzt sind, muss jede vernünftige Reformstrategie
Selektionsmöglichkeiten einschließen - immer vorausgesetzt, dass die
entscheidenden Merkmale einer Grundbildung erhalten bleiben. Sie soll die
Schüler lehren, wie sie ihr Leben durch Wissen, durch Ausprobieren und
durch die Entwicklung ihrer eigenen persönlichen Kultur verbessern können. |
| Zuletzt - ein weiterer immer wiederkehrender
Faktor - die Spannungen zwischen dem Geistigen und dem Materiellen: Die
Menschen haben, oft, ohne es zu wissen, und oft, ohne dies in Worte zu
fassen, eine Sehnsucht nach einem Ideal und nach Werten, die wir als ‘moralisch’
bezeichnen wollen. Somit ist die vornehmste Aufgabe von Bildung, alle und
jeden zu ermutigen, in Übereinstimmung mit Traditionen und Überzeugungen
zu handeln und Pluralismus voll zu respektieren, mit Herz und Verstand zur
Ebene des Universellen vorzustoßen und damit in gewisser Weise über sich
selbst hinauszuwachsen. Die Kommission übertreibt nicht, wenn sie sagt,
dass davon das Überleben der Menschheit abhängt. |
Die Menschen sind heute regelrecht benommen von
einem Gefühl des Zerrissenseins zwischen einer Globalisierung, deren
Erscheinungsformen sie sehen können und manchmal ertragen müssen, und ihrer
Suche nach Wurzeln, Beziehungspunkten und einem Gefühl der Dazugehörigkeit.
Bildungspolitik muss sich mehr denn je diesem Problem stellen, jetzt, da unter
Schmerzen eine Weltgesellschaft um ihre Geburt ringt: Bildung ist der Kern der
Persönlichkeitsentwicklung und der Gemeinschaft. Ihre Aufgabe ist es, jeden von
uns, ohne Ausnahme, in die Lage zu versetzen, all unsere Talente voll zu
entwickeln und unser kreatives Potential, einschließlich der Verantwortung für
unser eigenes Leben und der Erreichung unserer persönlichen Ziele,
auszuschöpfen."
[Lernfähigkeit: Unser verborgener Reichtum.
UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert. Hrsg. von der Deutschen
UNESCO-Kommission. Neuwied; Kriftel; Berlin: Luchterhand, 1997, S. 14-15]
[Seitenanfang]
|