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Im folgenden Textausschnitt behandeln Günther Gugel und Uli Jäger vom Institut
für Friedenspädagogik Tübingen die Grundlagen der friedenspädagogischen
Arbeit, die einerseits negativ - gegen Gewalt -, andererseits positiv -
für Frieden - bestimmt werden kann. Weitere Anregungen zur Beschäftigung
mit den zentralen Begriffen Krieg, Frieden, Gewalt und Konflikt finden
sich in Grundkurs 2.
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[Johan Galtung] |
"In der Friedenspädagogik
wird seit Mitte der sechziger Jahre auf den Friedens- und Gewaltbegriff von
Johan Galtung zurückgegriffen. Der norwegische Friedensforscher schlägt vor,
immer dann von Gewalt zu sprechen, wenn eines der folgenden Grundbedürfnisse
des Menschen verletzt sei: Das Überleben, das allgemeine körperliche
Wohlbefinden, die persönliche Identität oder die Freiheit, zwischen
verschiedenen Möglichkeiten auswählen zu können. Gewalt liege immer dann vor,
wenn Menschen so beeinflusst werden, dass sie sich nicht so verwirklichen können,
wie dies eigentlich möglich wäre (strukturelle Gewalt). Er nennt ein Beispiel:
"Eine Lebenserwartung von nur dreißig Jahren war in der Steinzeit kein
Ausdruck von Gewalt, aber dieselbe Lebenserwartung heute (ob aufgrund von
Kriegen, sozialer Ungerechtigkeit oder beidem) wäre nach unserer Definition als
Gewalt zu bezeichnen."
Nachdem Galtung Ende der sechziger Jahre zwischen der personalen oder direkten
Gewalt einerseits und der strukturellen Gewalt andererseits unterschieden hat,
geht er heute einen Schritt weiter: "Heute arbeite ich meistens mit einem
Dreieck: direkte Gewalt, strukturelle Gewalt, kulturelle Gewalt. Die
strukturelle Gewalt verletzt Bedürfnisse, aber niemand ist direkt Täter und in
diesem Sinne verantwortlich. Die kulturelle Gewalt ist die Legitimierung von
struktureller oder direkter Gewalt durch die Kultur". |
Die Begriffsbildung von Johan Galtung hat nicht nur Zustimmung, sondern auch
Kritik hervorgerufen, in jüngster Zeit am heftigsten von der
"Gewaltkommission". Dies ist eine unabhängige Expertengruppe, die von
der Bundesregierung [der Bundesrepublik Deutschland] beauftragt worden ist,
Analysen und Vorschläge zu Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt zu
erarbeiten und deren vierbändiger "Gewaltbericht" seit 1990 vorliegt.
Die Kommission verwendete bei ihren Untersuchungen einen engen Gewaltbegriff, in
dessen Mittelpunkt "Formen des physischen Zwangs" stehen. Mit dem
Begriff der strukturellen Gewalt, so die Kommission, "hat der Gewaltbegriff
eine geradezu inflationäre Ausdehnung erfahren, denn jede Art Verhinderung von
menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten wird als Gewalt eingestuft (...)."
Die eingeschränkte Definition von Gewalt lenkt die Suche nach den Ursachen auf
Mängel und Defizite in den persönlichen Eigenschaften des Gewalttätigen und
den sozialen Erziehungseinrichtungen, denen er unterworfen ist. Politische
Konflikte werden auf diese Weise in rechtliche überführt. Diese Perspektive
verhindert, Gewalt auch als Handlungsstrategie der Gewaltausübenden, als
Reaktion auf eigene Gewalt- und Ohnmachtserfahrung zu analysieren, um zu
verstehen, aus welchen Gründen Gewalt eingesetzt wird (...).
Schwerwiegender sind andere Einwände gegen den "weiten
Gewaltbegriff". Der Pädagogikprofessor Andreas Flitner verweist darauf,
dass diese Ausweitung des Begriffes Gewalt zu Unschärfen führt und dass die
verschiedenen Stufen der Gewalt leicht verwischen: "Ich bin für einen
sparsamen und reduzierten Gebrauch dieses Begriffes, möchte aber nicht
verwechselt werden mit denen, die die Gewalthandlungen kriminalisieren, ohne den
Zusammenhang zu sehen. (...) Mit diesem Plädoyer für eine Unterscheidung möchte
ich keineswegs die Erkenntnis in Frage stellen, die den engen Zusammenhang
deutlich gemacht haben zwischen direkter körperlicher oder Waffen-Gewalt und
der Art von böser Machtausübung, die von wohlgepflegten Händen und Köpfen
ausgehen kann. Ich möchte nur, dass man nicht gleichzeitig und vermischt von
verschiedenen Ebenen und Handlungsweisen redet."
Diese Kritik ist ernst zu nehmen und zwingt alle, die von dem weiten
Gewaltbegriff Gebrauch machen, zur Präzision. Denn mit dieser
Begriffserweiterung sind die Ansprüche an die Friedenserziehung nicht weniger
geworden. Zurecht wird darauf verwiesen, dass es nun darauf ankommt, mehr als in
der Vergangenheit das Zusammenwirken und die Eskalationsstufen der drei
Gewaltebenen zu beachten und nach Möglichkeiten zu suchen, den Kreislauf zu
durchbrechen.
Wie bei der Interpretation von Verfassungen wird auch bei der Bestimmung von
Begriffen die Gefahr der politischen Instrumentalisierung deutlich. Denn
Definitionen sind nicht nur Übereinkünfte über Bedeutungsinhalte, sondern
eben auch Machtfragen. Die dahinter liegenden Interessen lassen sich nur über
die inhaltliche Auseinandersetzung und den Dialog zwischen allen beteiligten
Parteien und Personen sichtbar machen (...).
Doch
Friedenserziehung hat ihren Bezugspunkt nicht nur im Negativen durch die
Bestimmung dessen, was unter Gewalt verstanden werden kann. Auch das, was unter
Frieden verstanden werden soll, lässt sich benennen, wobei es eine allgemeingültige
Definition von Frieden weder gibt noch geben kann. Frieden wird häufig als
Zustand beschrieben, gemeint ist damit die Abwesenheit von Krieg (negativer
Frieden).
Doch dies reicht nicht aus, denn Frieden ist mehr als kein Krieg, ist mehr als
das Schweigen von Waffen: Frieden wird auch definiert als ein zielgerichteter
Prozess, in dem es darauf ankommt, dass Menschen mit ihrem Engagement versuchen,
Konflikte mit gewaltfreien Mitteln auszutragen, Menschenrechte, soziale
Gerechtigkeit und Demokratie zunehmend zu verwirklichen (positiver Frieden).
Nach diesem Verständnis ist der Weg das Ziel, wie dies auch Mahatma
Gandhi ausgedrückt hat. Dieser Prozess kann nicht in einen Endzustand münden,
der einmal erreicht ist und nicht wieder verloren werden kann. Wird Frieden als
Prozess verstanden, so kann auf der Grundlage der Abwesenheit von Krieg immer
weiter an dessen Verwirklichung gearbeitet werden.
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Friedenserziehung bezieht ihre Motivation auch aus Friedensutopien, aus den
Visionen von Menschen, die gezeigt haben, dass Hoffnungen und Träume nicht nur
individualistisch sind, sondern sich auch mit politischem Engagement verbinden
lassen. Die Vision von Martin
Luther King ("I
have a dream") gewinnt ihre Bedeutung nicht durch die Aufzählung von
irgendwelchen Phantasien, sondern durch die auf diese Vision abgestimmten und für
jeden/jede nachvollziehbaren und dadurch auch kritisierbaren Schritte der
Gewaltfreiheit. Nur in diesem Sinne ist es auch sinnvoll, wenn seitens der
Friedenserziehung auf die Notwendigkeit von "Vorbildern"
verwiesen wird." |
[Günther
Gugel / Uli Jäger: Gewalt muss nicht sein. Eine Einführung in friedenspädagogisches
Denken und Handeln. 3. Aufl., Tübingen 1997; Internetversion: http://www.friedenspaedagogik.de/themen/f_erzieh/fe3.htm]
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