Inhaltsverzeichnis
Themen des
Online-Lehrbuchs zur EU:
Einleitung
Bedeutung der EU
Was ist die EU?
EU-Entwicklung
EU-Institutionen
EU-Internetrecherche
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Was ist die EU?
Wie in der Einleitung ausgeführt, gibt es
eine ganze Reihe von Gründen, die eine Beschäftigung mit der EU
erschweren: Ihre Komplexität, die Tatsache, dass sie sich in
ständiger Veränderung befindet und viele andere mehr.
Sie alle
treten allerdings zurück gegenüber dem zentralen Problem, dass die
EU sich mit den uns vertrauten Kategorien wie Innenpolitik,
Außenpolitik, internationale Politik nicht fassen lässt.
Anlässlich einer Diskussion über die Unterschiede in der
Berichterstattung über nationale und EU-Politik, die wir vor einiger
Zeit mit Journalisten aus Südosteuropa führten, hat das einer der
Teilnehmer wie folgt auf den Punkt gebracht: |
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"Die Berichterstattung über nationale
Politik ist deswegen einfacher, weil ein beträchtlicher Teil unserer
Leser ein zumindest grundlegendes Verständnis davon hat, wie nationale
Politik funktioniert, und weiß, was eine Regierung, ein Parlament,
Parteien oder Interessengruppen sind und wie sie im Prozess der
Gesetzgebung zusammenwirken. Sie haben also mit anderen Worten ein
Modell, das es ihnen erlaubt, einzelne Nachrichten und Informationen
einzuordnen und zu verstehen. Im Falle der EU aber fehlt ein
derartiges Modell, fehlt ein derartiges Grundverständnis".
Und genau das ist der entscheidende Punkt: Das mangelnde Verständnis der
Bürgerinnen, ja die Abneigung, sich mit der EU zu beschäftigen, hängt
direkt damit zusammen, dass ihnen ein Raster fehlt, um mit diesem
Gebilde etwas anfangen zu können.
Dieses Defizit zu beseitigen, hat sich der vorliegende Abschnitt zum
Ziel gesetzt. Wir wollen vom vertrauten Terrain des nationalen
politischen Systems ausgehend versuchen, die zentralen Merkmale der EU
herauszuarbeiten und ein Modell bereitzustellen, das es ermöglicht, die
EU als eigenständiges, neuartiges Phänomen zu verstehen.
Dieses Modell wollen wir auf dieser Seite in vier Schritten entwickeln:
Schritt 1: Wie funktioniert ein politisches System?
Schritt 2: Warum unser Modell nicht
mehr zutrifft
Schritt 3: Die EU als Mehrebenensystem
Schritt 4: Der Nutzen des
Mehrebenensystem-Modells |
Unser (unbewusstes) Modell von Politik |
Schritt 1: Wie funktioniert ein politisches System?
Wenn von Politik und politischen Systemen die Rede ist, haben viele von
uns ein bestimmtes Modell im Kopf, das wir Ihnen hier in Erinnerung
rufen möchten. Seine Grundlage bildet der nach außen hin abgeschlossene
Nationalstaat, in dem bestimmte Institutionen und Mechanismen vorhanden
sind. Wir Politikwissenschaftler nennen das "politisches System". Dieses
politische System erlässt für alle verbindliche Gesetze, die das
Zusammenleben in einer Gesellschaft regeln. Das nachstehende Schaubild
zeigt Ihnen diesen Zusammenhang in stark vereinfachter Form.
Schaubild 1: Die verbindliche Setzung von Regeln in einem
Nationalstaat
Der hier dargestellte Mechanismus findet sich in allen Typen von
Systemen, in autoritären wie demokratischen. Demokratische Systeme
zeichnen sich darüber hinaus dadurch aus, dass die Bürger an diesem
Prozess teilhaben. Sie wählen Abgeordnete in das Parlament, können sich
politischen Parteien und Interessengruppen anschließen, und außerdem
bieten freie Medien die Möglichkeit, Regierung und Parlament ein
Feedback zu den von Ihnen verabschiedeten Gesetzen zukommen zu lassen.
Schaubild 2: Demokratische Nationalstaaten
Das ist das - häufig unbewusste - Modell, das die meisten von uns,
Bürgerinnen, Journalisten und Politiker, auch im Kopf haben, wenn es um
die EU geht. |
EGKS als neuartige, supranationale Form der internationalen
Zusammenarbeit |
Schritt 2: Warum unser Modell nicht mehr zutrifft
Am 23. Juli 1952 trat der Vertrag von Paris, mit dem die Europäische
Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet wurde, in Kraft. Ein
Vertrag zwischen sechs Nationalstaaten (den Benelux-Ländern, der
Bundesrepublik Deutschland, Frankreich und Italien), mit dem ein
gemeinsamer Markt für Kohle und Stahl eingerichtet wurde. Handelte es
sich dabei nur um eine weitere internationale Organisation als Rahmen
für die Zusammenarbeit von Nationalstaaten in einem besonderen Bereich?
Keinesfalls, die EGKS war vielmehr etwas Neuartiges. Nicht nur deswegen,
weil damit ein gemeinsamer Markt, also viel mehr als eine
Freihandelszone, in einem zur damaligen Zeit immens wichtigen Sektor
geschaffen wurde, sondern auch und vor allem deswegen, weil die
teilnehmenden Staaten damit auf diesem Gebiet einen beträchtlichen Teil
ihrer Souveränität an neu geschaffene supranationale Institutionen
abtraten. Das nachstehende Schaubild, das auf unser bislang verwendetes
Modell zurückgreift, lässt das erkennen.
Schaubild 3: Die EGKS als supranationale Organisation
Dem Schaubild lässt sich entnehmen, dass mit der Gründung der EGKS die
politischen Systeme der beteiligten Nationalstaaten ihr bislang
exklusives Recht, direkt bindende Regelungen für die auf ihrem
Territorium lebenden Bürgerinnen zu erlassen, verloren haben - zunächst
allerdings nur für einen Bereich: Kohle und Stahl. Diese Konstruktion
unterscheidet sich ganz grundsätzlich von dem sehr begrenzten Einfluss
internationaler Organisationen, wie etwa dem kurz zuvor (1949)
gegründeten Europarat.
Obwohl auch dieser über institutionelle Vorkehrungen verfügt, die die
Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten erleichtern sollen (Ministerkomitee,
Parlamentarische Versammlung etc.), besitzt er keinerlei Befugnisse,
Entscheidungen zu treffen, die die beteiligten Nationalstaaten oder gar
deren Bürger direkt binden würden. Deswegen bezeichnen wir die EGKS als
supranationale, den Europarat als internationale Organisation.
Während diese besondere Situation zunächst auf einen Bereich beschränkt
blieb, veränderte sich dies in den folgenden Jahrzehnten fundamental, so
dass unsere Abbildung heute wie folgt aussieht:
Schaubild 4: Die EU heute
Damit ergeben sich eine Fülle von theoretisch-analytischen wie
praktischen Problemen und Fragen. Zunächst einmal dürfte auf den ersten
Blick klar sein, dass die Analyse von Politik in einem der
Mitgliedstaaten, ohne nicht auch die EU einzubeziehen, fast nicht mehr
sinnvoll möglich ist. Viele Zusammenhänge würden schlicht unverständlich
bleiben und uns zu falschen Schlussfolgerungen führen, beispielsweise
was die Handlungsspielräume von Regierungen betrifft.
Das Gleiche gilt aber auch umgekehrt. Sich nur auf "Brüssel", also die
EU-Institutionen zu konzentrieren, um die Merkmale von
Entscheidungsprozessen oder Politikergebnissen zu untersuchen, würde
vernachlässigen, dass zumindest einige dieser Institutionen, wie
insbesondere der Ministerrat und der Europäische Rat, aus Vertretern der
Mitgliedstaaten zusammengesetzt sind, deren Handeln außerordentlich
stark durch die Einbindung in ihren jeweiligen nationalen Rahmen
bestimmt ist. Außerdem bliebe unberücksichtigt, dass EU-Entscheidungen
durch die Mitgliedstaaten durchgeführt werden.
Was die praktische Dimension angeht, so ist festzuhalten, dass, obwohl
sich fundamentale Veränderungen in der Art, wie politische
Entscheidungen getroffen werden, vollzogen haben, häufig immer noch
unbewusst das ursprüngliche, in Schaubild 2 dargestellte Modell
zugrundegelegt wird, wenn es um den Umgang mit und die Beurteilung von
Politik geht.
Erinnern Sie sich an den letzten Wahlkampf in Ihrem Land? Haben Sie da
jemals von den Medien - von den politischen Akteuren ganz zu schweigen -
einen Hinweis darauf gehört, dass die Handlungsspielräume stark
beschränkt sind und dass zentrale politische Entscheidungen nur noch
zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten im Rahmen der EU getroffen
werden können? Ganz im Gegenteil! Dort hören Sie - ganz wie in den guten
alten Zeiten des souveränen Nationalstaats - vor allem, was die
verschiedenen politischen Parteien alles bewegen, anders und besser
machen können.
Insofern sollte es nicht überraschen, dass die Bürger sie beim Wort
nehmen und dann zunehmend enttäuscht und ärgerlich reagieren, wenn sich
das als falsch herausstellt. Schuld sind dann allerdings im Regelfall
nicht die nationalen Politiker, sondern der beliebte Sündenbock EU, der
sich ungefragt in alles einmischt. Wie aber ließe sich das ändern? Nach
unserer Überzeugung nur, indem wir ein anderes Modell
bereitstellen, das die neuen Zusammenhänge, das die EU als neuartiges
Gebilde zwischen Nationalstaat und internationaler Politik für die
Menschen begreifbar macht. Und um dieses Modell soll es nun gehen. |
EU-Mehrebenensystem als neues Modell |
Schritt 3: Die EU als Mehrebenensystem
Das nachfolgende Schaubild zeigt das neue Modell, das die EU als
Mehrebenensystem konzeptualisiert. Das sieht auf den ersten Blick alles
andere als spektakulär aus und scheint auch keine neue Einsichten zu
vermitteln. Dass es da eine Organisation namens EU gibt, dass
Nationalstaaten existieren und in einigen dieser Nationalstaaten
staatliche Macht zwischen nationaler und regionaler Ebene - wie in
Deutschland zwischen Bund und Bundesländern - geteilt wird, das haben
Sie sicherlich auch schon vorher gewusst. Bei näherem Hinsehen
allerdings lassen sich im Vergleich mit dem alten Modell grundlegende
Unterschiede erkennen.
Schaubild 5: Die EU als Mehrebenensystem
Zunächst einmal werden EU, Mitgliedstaaten und ihre regionalen Einheiten
nicht mehr als getrennte Einheiten, sondern als Gesamtsystem betrachtet.
Das hat, wie wir Ihnen am Beispiel des ersten irischen Referendums zum
Lissaboner Vertrag erläutern möchten, weitreichende Konsequenzen. Das
Ergebnis dieser Volksabstimmung wurde in zahlreichen Beiträgen als "Sieg
der Demokratie" bewertet; eine durchaus überzeugende Bewertung - wenn
man unser altes Modell zugrundelegt. Doch lassen Sie uns nun diesen
Vorgang durch die Brille des Verständnisses der EU als Mehrebenensystem
betrachten.
Schaubild 6: Das erste, ablehnende irische Referendum zum
Lissaboner Vertrag aus der Sicht der EU als Mehrebenensystem
Wie Sie sehen können, ergibt sich damit ein ganz anderes Bild.
Angesichts der hier erkennbaren Interdependenzen innerhalb des
Gesamtsystems werden die weitreichenden Konsequenzen des irischen "Nein"
besonders deutlich. Es verhinderte die Anpassung des institutionellen
Rahmens der EU an die Realität von 27 Mitgliedstaaten, verzögerte und
behinderte deswegen auch den Beitritt der Länder des Westlichen Balkans
und es "überstimmte" - da bei Vertragsveränderungen die Zustimmung aller
erforderlich ist - die 23 Mitgliedstaaten, die dem Vertrag zum Zeitpunkt
des Referendums bereits zugestimmt hatten. Ist das ein "Sieg der
Demokratie"?
Bei diesem Beispiel geht es aber überhaupt nicht darum zu beurteilen, ob
die irische Entscheidung richtig oder falsch war. Wir haben es vielmehr
deswegen angeführt, um deutlich zu machen, dass die neue
Mehrebenen-Realität, die immer wieder mit expliziter Zustimmung aller
Mitgliedstaaten zustandegekommen ist, uns zwingt, unsere alten Modelle
beiseite zu legen und eine ganze Reihe von Dingen, wie Demokratie,
Bürgerbeteiligung, aber auch die Art, wie wir Politik unterrichten,
sorgfältig zu überdenken. Dass und wie das Modell des Mehrebenensystems
dazu beitragen kann, möchten wir Ihnen nun an einigen weiteren
Beispielen zeigen. |
Widerlegung gängiger Vorurteile |
Schritt 4: Der Nutzen des Mehrebenensystem-Modells
Zu den verbreitetsten Vorurteilen gegenüber der EU gehört die
Einschätzung, dass weltfremde Bürokraten im fernen Brüssel - ohne die
Rahmenbedingungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu kennen und
deswegen ohne Rücksicht auf die Anliegen und Bedürfnisse der Bürgerinnen
zu nehmen - Entscheidungen treffen, die deren Leben gravierend
beeinflussen. Eine Überprüfung der Fakten auf der Grundlage des
Mehrebenen-Modells zeigt, wie sehr dieses (Vor-)Urteil an der Realität
vorbeigeht.
Dieses Urteil ist deswegen falsch, weil Vertreter der Mitgliedstaaten
einen integralen Bestandteil zentraler EU-Institutionen bilden, wie
insbesondere des Rats und des Europäischen Rats. Außerdem nominiert der
Europäische Rat den Präsidenten der Europäischen Kommission, der dann
durch das Europäische Parlament gewählt wird. Und das stellt nur die
Spitze des Eisbergs dar. Die Mitgliedstaaten sind darüber hinaus auch
auf der administrativen Ebene im Rahmen von Hunderten von Ausschüssen
des Rats und der Kommission mit ihren Beamten in allen Bereichen direkt
an EU-Entscheidungen beteiligt und können dort ihre Vorstellungen - und
damit auch die Interessen ihrer Bürger - einbringen.
Die Teilnahme an EU-Entscheidungen bleibt aber keineswegs nur auf
staatliche Akteure aus den Mitgliedstaaten beschränkt. Nationale
nicht-staatliche Akteure spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Obwohl
sie natürlich nicht selbst EU-Gesetze erlassen können, sind sie doch in
der Lage, deren Inhalte erheblich mit zu beeinflussen. Was die
Bürgerinnen angeht, so sind diese insofern beteiligt, als sie ihre
Abgeordneten zum Europäischen Parlament wählen, eine Institution, die
über großen Einfluss verfügt. Darüber hinaus haben sie - im Regelfall
über den Weg der Befassung eines nationalen Gerichtes - die Möglichkeit,
den Europäischen Gerichtshof anzurufen, dessen Urteile in der
Vergangenheit das EU-System massgeblich beeinflusst und verändert haben,
in einigen Fällen gegen den Willen der Mitgliedstaaten.
Schließlich gehören viele Bürger auch (nationalen) Verbänden an, die
wiederum ihrerseits sehr aktiv an EU-Entscheidungsprozessen mitwirken.
Sie tragen ihre Vorstellungen und Wünsche direkt im Europäischen
Parlament und bei der Kommission vor, verfügen darüber hinaus aber auch
durch ihre Mitgliedschaft in den jeweiligen EU-Verbänden, die sich
ihrerseits ebenfalls an die zuständigen Stellen in der Kommission wenden,
über wichtige Einflusskanäle. Hierbei handelt es sich durchaus nicht nur
um eine Einbahnstrasse (Lobbying der Kommission durch Verbände),
vielmehr ist die Kommission auch auf die Informationen, den Sachverstand
und in einigen Fällen die Mitwirkung von Verbänden bei der
Implementation von Verordnungen und Richtlinien angewiesen.
Außerdem besteht nach wie vor für nationale Verbände die Möglichkeit, in
ihren Ländern direkt Einfluss auf Vertreter der eigenen Regierung
auszüben, die dann über ihre Mitgliedschaft in den EU-Institutionen die
entsprechenden Argumente und Wünsche einbringen können. Eine Strategie,
die besonders dann Erfolg verspricht, wenn einstimmig entschieden werden
muss, also mit anderen Worten jede einzelne der mitgliedstaatlichen
Regierungen de facto über ein Veto-Recht verfügt. Mit dem Inkrafttreten
des Vertrags von Lissabon wurde außerdem die Position der nationalen
Parlamente im EU-Mehrebenensystem gestärkt und die Möglichkeit einer
Europäischen Bürgerinitiative geschaffen. |
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Zusammenfassung
Im vorliegenden Abschnitt ging es darum, Ihnen zu zeigen, was die EU ist
und wie sie sich verstehen lässt. Sie haben gesehen, dass die weit
verbreiteten Schwierigkeiten, die sich diesbezüglich beobachten lassen,
darauf zurückzuführen sind, dass es sich bei der Union um ein neuartiges
System handelt, aber dennoch versucht wird, es mit den bislang gängigen
Modellen zu fassen.
Wir haben Ihnen deswegen ein neues (Mehrebenen-)Modell vorgestellt, das
nach unserer Überzeugung, die auf vielen Jahren Erfahrung damit in der
akademischen Lehre sowie in der Erwachsenenbildung beruht, helfen kann,
den Gegenstand EU in seiner Komplexität besser zu verstehen und
angemessen zu beurteilen - wie wir Ihnen das am Beispiel der Mär von den
fernen, weltfremden Brüsseler Bürokraten zu zeigen versucht haben.
Eine Frage drängt sich nun auf: Wie konnte es überhaupt zur Entstehung -
und ständigen Fortentwicklung - dieses Mehrebenensystems kommen. Warum
haben die Mitgliedstaaten, obwohl sich viele Regierungen immer wieder
über die zu weit gehende Einmischung der EU beklagen, dennoch immer
weitere Kompetenzen auf die EU übertragen? Mit anderen Worten: Was waren
und sind die Triebkräfte des Integrationsprozesses? Ihr wollen wir uns
im nächsten Abschnitt zuwenden.
... weiter
zu Abschnitt 3: Entwicklung der EU
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