Inhaltsverzeichnis
Online-Lehrbuch Demokratie:
Einleitung
Was ist Demokratie?
Demokratietheorie
Demokratietypen
Entwicklung
Staat
Gesellschaft
Probleme
|
Demokratietheorie
Identitäts- und Konkurrenztheorie
[Autor: Dr. Ragnar Müller,
Mail an den Autor]
In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns anhand zweier Textauszüge
mit zwei grundlegend unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen, der
Identitäts- und der Konkurrenztheorie von Demokratie. Im Anschluss an
die Texte fasst eine Synopse die wesentlichen Elemente der beiden
Konzeptionen zusammen und stellt sie einander gegenüber. Der erste Text
von Eckhard Jesse stellt die beiden unterschiedlichen
Konzeptionen kurz vor:
"Eine gewichtige Bedeutung für westliche Demokratielehren kommt der
Unterscheidung zwischen der ldentitätstheorie und der Konkurrenztheorie
der Demokratie zu. Sie hat die wissenschaftliche Diskussion lange Zeit
befruchtet und ist heute noch wegweisend, wenngleich sich die Zahl der
Kritiker vermehrt hat, weil die Gegenüberstellung ideologiebehaftet und
simplifizierend sei.
Die von Rousseau geprägte Homogenitätstheorie orientiert sich an einem
einheitlichen (homogenen) Volkswillen und einem vorgegebenen Gemeinwohl
("identitäre" Demokratietheorie). Sie leugnet die Legitimität von
lnteressenkonflikten. In diesem Verständnis bedeutet Demokratie
Identität von Regierenden und Regierten. Das Repräsentationsprinzip wird
grundsätzlich missbilligt: Der "Volkswille" könne nicht vertreten
werden. Der demokratische Anspruch des Modells, das den politisch
aktiven Bürger voraussetzt, sei nicht bestritten — die Gefahren, die ihm
innewohnen, liegen jedoch offen zutage. Der Versuch nämlich, die Einheit
des Staatsvolkes herzustellen, sie aufrechtzuerhalten und die
unterschiedlichen Interessen zu unterdrücken, schlägt im Extremfall in
totale Herrschaft um. Daher ist hierfür auch der Begriff "totalitäre
Demokratie" geprägt worden. Der "Führer" oder "die Partei" setzt den
einmal als richtig erkannten Gemeinwillen in die Tat um. Abweichungen
und oppositionelle Strömungen gelten als Ketzerei. Die Menschen sollen
zu ihrem Glück gezwungen werden.
Die Konkurrenztheorie der Demokratie, die sich am angelsächsischen
Modell ausrichtet, geht von der Existenz und Berechtigung
unterschiedlicher Interessen aus. Die politische Willensbildung soll in
der pluralistischen Gesellschaft durch einen offenen Prozess der
Auseinandersetzung zwischen den heterogenen Gruppeninteressen vonstatten
gehen, wobei ein Minimum gemeinsamer Überzeugung erforderlich ist.
Aufgrund der Vielfalt der Meinungen und der sozialen Konflikte kann es
eine absolut richtige Lösung nicht geben. Das Mehrheitsprinzip gilt
daher als Grundlage für Entscheidungen. Freilich darf keine "Tyrannei
der Mehrheit", die demokratische Spielregeln antastet und
unveräußerliche Menschenrechte verletzt, ausgeübt werden, weil auch die
Mehrheit vor Unzulänglichkeiten nicht gefeit ist. Ein ausgeprägter
Minderheitenschutz bildet für dieses Demokratieverständnis (...) einen
konstitutiven Bestandteil. Die gewählten Vertreter, während ihrer
Amtszeit nicht an Aufträge gebunden, stellen sich nach Ablauf der
Legislaturperiode dem Votum der Wählerschaft. Damit bedeutet Demokratie
in diesem Verständnis nicht Herrschaft des Volkes, sondern Herrschaft
mit Zustimmung des Volkes. Insofern ist die Konkurrenztheorie am
Repräsentationsgedenken ausgerichtet.
[Autor: Eckhard Jesse, aus: Bundeszentrale für politische Bildung:
Parlamentarische Demokratie 1, Informationen zur politischen Bildung Nr.
227, 1993] |
Vordenker der Identitätstheorie: Rousseau
Konkurrenztheorie als pragmatische Methode |
Der zweite Text stammt von Hans-Helmuth Knütter und bietet eine
weitere Perspektive auf die grundlegenden Unterschiede der beiden
Konzeptionen:
"Die Identitätstheorie geht von der Vorstellung einer Identität von
Regierenden und Regierten aus. Sie stützt sich auf das Postulat
Jean-Jacques Rousseaus, dass nicht der Mehrheitswille (volonté de tous),
sondern der allgemeine Wille (volonté générale) sich im Gesetz
niederschlagen solle. Dieser allgemeine Wille ist nach Rousseau objektiv
erkennbar und einheitlich. Das für die Praxis entscheidende Moment der
Identitätstheorie besteht darin, dass die Einheit von Regierten und
Regierenden keine Sonderinteressen und damit keine Sondergruppen
zulässt.
Vertreter einer antipluralistischen Staatsauffassung erkennen als
demokratische Legitimierung nur Plebiszite (Volksabstimmungen) an und
lehnen folglich alle "intermediären Gewalten" wie Parteien und Verbände
ab. Sie gelten als Träger (eigensüchtiger) Sonderinteressen, deren
Wirken die Einheit von Regierten und Regierenden zerstört. Sie wollen
ihre Vorstellungen in einem an das imperative Mandat gebundenen
Rätesystem verwirklichen. Durch das imperative Mandat sind die
Delegierten (Räte) direkt von den Aufträgen und Weisungen der Wähler
abhängig und somit auch jederzeit abwählbar ("Recall").
Die jüngste Geschichte hat gezeigt, dass in der Realität unter dem
Hinweis auf die Identität von Regierten und Regierenden der
"einheitliche Volkswille" gewaltsam durchgesetzt wurde, was zu den
beiden totalitären Systemen des Nationalsozialismus und des Kommunismus
führte.
Im Vergleich zur Identitätstheorie geht die in den angelsächsischen
Ländern entwickelte Konkurrenztheorie nicht von einem einheitlichen
Volkswillen, sondern von unterschiedlichen Interessen und
Interessengruppen aus. Joseph A. Schumpeter (1883 bis 1950) beschreibt
diese Theorie:
"Die demokratische Methode ist diejenige Ordnung der Institutionen zur
Erreichung politischer Entscheidungen, bei welcher einzelne die
Entscheidungsbefugnis mittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimmen des
Volkes erwerben."
Es handelt sich um eine pragmatische Methode, die auf der Erkenntnis
beruht, dass die Bevölkerung eines Flächenstaates aufgrund ihrer Größe
und Verschiedenheit nicht in der Lage ist, sich selbst direkt zu
regieren, sondern auf Repräsentation durch ein über Parteien in Form von
freien Wahlen hervorgegangenes Parlament angewiesen ist. Der inhaltliche
Kern der Konkurrenztheorie deckt sich weitgehend mit der neueren
Pluralismustheorie, deren wesentliche Aussagen man wie folgt
zusammenfassen kann:
-
Die in einer Gesellschaft
existierenden Interessengegensätze werden akzeptiert.
-
Ein Gemeinwohl lässt sich nicht von
vornherein (a priori) feststellen.
-
Das Gemeinwohl ist das Resultat eines
nachträglich (a posteriori) zustande gekommenen Kompromisses im
politischen Konkurrenzkampf.
-
Der Ausgleich der verschiedenen
Interessen ist nur möglich bei einem Minimalkonsens über bestimmte
Spielregeln (Wertordnung). Das heißt, die politisch handelnden
Gruppen müssen fähig und bereit zum Kompromiss sein. Wenn sie
Politik als Weltanschauungskampf betreiben und den politischen
Gegner als Feind betrachten und bekämpfen, ist einer pluralistischen
politischen Ordnung die Grundlage entzogen.
-
Die Rolle des Staates in einer
pluralistischen Gesellschaft besteht im wesentlichen darin, die
Bedingungen dafür zu schaffen, dass dieser Ausgleich stattfinden
kann und die Spielregeln eingehalten werden.
[Autor: Hans-Helmuth Knütter, aus: Bundeszentrale für politische
Bildung: Demokratie, Informationen zur politischen Bildung Nr. 165,
Neudruck 1992] |