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Die erste und wichtigste Aufgabe
jeder Friedenspolitik ist die Verhinderung von Krieg, da die Abwesenheit von
Krieg die conditio sine qua non für jede weitergehende Zielsetzung
bildet. Fragt man nach Friedensstrategien, die diesem Ziel dienen, ist es
sinnvoll, die Kriegsursachen
zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu machen:

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Kriegsursachen sind auf drei
Ebenen angesiedelt: der individuellen, gesellschaftlichen und internationalen
Ebene. Nun gilt es, Friedensstrategien für alle drei Ebenen zu entwickeln.
Was die Ebene des Individuums betrifft, so ist die Verbesserung der
Bildung der entscheidende Faktor. "Da
Kriege in den Köpfen der Menschen beginnen, muss in den Köpfen der Menschen
Vorsorge für den Frieden getroffen werden", heißt es in der Präambel der
Verfassung der UNESCO aus
dem Jahr 1945. Hier leistet Friedenserziehung einen wichtigen Beitrag. Mit den
Aufgaben und Zielen der Friedenserziehung beschäftigt sich Grundkurs
3 ausführlich. Wichtiger Bestandteil der Friedenserziehung ist dabei neben
der Beseitigung individueller "Friedensdefizite" wie Vorurteilen aber
auch die Vermittlung von Einsichten in das Funktionieren von Gesellschaften
(Ebene 2) und des internationalen Systems (Ebene 3). Das verweist nachdrücklich
darauf, wie eng die Ebenen der Kriegsursachen und damit auch der
Friedensstrategien miteinander verflochten sind.
Was die Ebene der Gesellschaft betrifft, so ist erfolgreiche Demokratisierung
unumstritten die wirksamste Friedensstrategie. Es zählt zu den am besten
gesicherten Erkenntnissen der Friedens- und Konfliktforschung, dass Demokratien untereinander
kaum Krieg führen. Das klassische Argument für die Tendenz zur friedlichen
Konfliktlösung in Demokratien, wie es unter anderem von dem Philosophen
Immanuel Kant in seiner Schrift "Vom Ewigen Frieden" formuliert wird,
lautet: Wenn nicht Könige, sondern alle Bürger darüber entscheiden, ob ein
Krieg geführt werden soll, ist die Entscheidung für einen Krieg viel
unwahrscheinlicher, denn die Bürger sind die Betroffenen und Leidtragenden
eines Krieges (siehe auch den Text "Demokratisierung als
Friedensstrategie").
Eine weitere Friedensstrategie, die zwischen der gesellschaftlichen und der
internationalen Ebene anzusiedeln ist, bildet die Steigerung des Wohlstands.
Armut und ungerechte Verteilung sind wichtige Kriegsursachen. Wer mehr besitzt,
hat in einem Krieg mehr zu verlieren. Diese Strategie lässt sich nicht (und im
Zeitalter der Globalisierung immer weniger) auf die gesellschaftliche Ebene
begrenzen. Ein wesentlicher Faktor zur Steigerung des Wohlstands ist der Freihandel,
und die friedensfördernde Wirkung des Austausches und enger Handelsbeziehungen
sind unumstritten.
Die Ebene des internationalen Systems bildet den Schwerpunkt der Friedens-
und Konfliktforschung. Die auf dieser Ebene angesiedelten Friedensstrategien
stehen deshalb im Rahmen dieses Abschnitts im Mittelpunkt. Das Grundproblem
besteht darin, dass es - im Unterschied zur gesellschaftlichen Ebene - keine
Instanz gibt, die über das Monopol legitimer Gewaltausübung verfügt. Mit
anderen Worten: Es gibt keinen Weltstaat und damit niemanden, der die Staaten
dazu zwingen könnte, sich rechtskonform zu verhalten, wie es der Staat bei
seinen Bürgerinnen tun kann. Deshalb spricht die Politikwissenschaft vom
"anarchischen Naturzustand" des internationalen Systems. Die Aufgabe
von Friedensstrategien ist es nun, diesen Naturzustand und die daraus
resultierende Unsicherheit zu begrenzen.
Der
Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel führt hierzu aus: "Die
Gewaltanwendung oder die Drohung damit entstammt zunächst der anarchischen
Situation des internationalen Systems, das, bei allen Teilordnungen, unüberschaubar
bleibt. Die Sicherheit der Systemmitglieder ist damit potentiell gefährdet; sie
zu gewährleisten, bereiten die politischen Systeme den Gewalteinsatz vor. (...)
Soll dabei auf die militärische Gewalt verzichtet werden, so muss sie ersetzt
werden durch andere Formen der Sicherheitsbeschaffung. Mit diesem Problemkreis
hat sich die Friedenstheorie von Anfang an beschäftigt und zwei Lösungen
diskutiert (...): Das Völkerrecht und vor allem die Internationale
Organisation wurden entwickelt, um unmittelbar auf die Interaktionen
zwischen den politischen Systemen einzuwirken. Friedenspolitik besteht dann
darin, diese Einrichtungen weiterzuentwickeln, ihre Sicherheit gewährende
Einwirkung auf die Interaktion zu verstärken und damit den aus der
Systemstruktur resultierenden Anlass zur Anwendung organisierter militärischer
Gewalt zu beseitigen.
Eine Friedenspolitik, die das Prozessmuster abnehmender militärischer Gewalt
und zunehmender Verteilungsgerechtigkeit einrichten will, verlangt also zunächst
die Abschwächung der charakteristischen Eigenschaft des internationalen
Systems, dann die Einrichtung von herrschaftlichen und wirtschaftlichen
Strukturen, die die in diesen Sachgebieten angelegten Antriebe zur Anwendung
militärischer Gewalt beseitigen."
[aus:
Ernst-Otto Czempiel: Friedensstrategien, Systemwandel durch Internationale
Organisationen, Demokratisierung und Wirtschaft, Paderborn 1986, S. 60-62]
Zusammenfassend schreibt Czempiel zu den
beiden angesprochenen Friedensstrategien zur Beseitigung der Gewaltursachen im
internationalen System: "Das Völkerrecht hat die Gewaltanwendung nicht
beseitigt, hat dies auch nicht versucht, jedenfalls nicht bis 1945. Es hat sich
auf die „Hegung“ des Krieges (Carl Schmitt) beschränkt.
Konzeptionalisierung und Einrichtung der Internationalen Organisation hingegen
zielten explizit darauf ab, die Gewalt zu eliminieren oder doch zu verringern.
An ihre Stelle sollten Kompromiss und Verhandlung, eventuell sogar die
Rechtsprechung treten. Die Internationale Organisation hob zwar das
internationale System und seine für die Gewaltanwendung entscheidende
Eigenschaft der vollkommenen Unsicherheit nicht auf, reduzierte sie jedoch.
Durch die dauernde, institutionalisierte Zusammenkunft aller Teilnehmer sollte
deren Verhalten überschaubar gemacht, Unsicherheit dementsprechend abgebaut
werden. Die organisierte Kooperation drückte darüber hinaus die Bereitschaft
aus, jedem Teilnehmer das Existenzrecht zuzubilligen; damit entfiel wiederum ein
Anlass für die Gewaltanwendung."
[aus: Ernst-Otto Czempiel:
Friedensstrategien, Systemwandel durch Internationale Organisationen,
Demokratisierung und Wirtschaft, Paderborn 1986, S. 39]
Beiden Elementen - dem Völkerrecht und der Internationalen Organisation - sind
weitere Abschnitte gewidmet, die sich mit der Entstehung und Entwicklung dieser
Friedensstrategien beschäftigen.
Weitere Abschnitte zum Thema Friedensstrategien:
[Autor:
Ragnar Müller]
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