Inhaltsverzeichnis
Online-Lehrbuch Demokratie:
Einleitung
Was ist Demokratie?
Entwicklung
Staat
Wahlen
Parlament
Regierung
Opposition
Gewaltenteilung
Rechtsstaat
Gesellschaft
Probleme
|
Kernelemente eines demokratischen Staats:
Gewaltenteilung
[Autor: Dr. Ragnar Müller,
Mail an den Autor]
Im Abschnitt "Was ist Demokratie?"
haben wir vereinfachend zwischen Regierten und Regent unterschieden.
Letzterer bekommt die Batterien für die Fernbedienung auf Zeit von
ersteren. Dass die Vergabe der Batterien auf Zeit erfolgt, ist ein
Element der Gewaltenteilung, wie die nachfolgenden Texte zeigt. Es gibt
aber auch noch viele andere Vorrichtungen im demokratischen Staat, die
verhindern, dass sich zuviel Macht in einer Hand konzentriert. Der erste
Text auf dieser Seite geht von der traditionellen Lehre der
Gewaltenteilung aus und stellt dann das System der "checks and balances"
im modernen Staat dar.
Ein weiterer Text weiter unten
auf dieser Seite widmet sich den Formen und Problemen der
Gewaltenteilung. Dabei geht er von der politischen Philosophie
Montesquieus aus - dem Theoretiker der Gewaltenteilung
schlechthin -, stellt die Missverständnisse dar, die dessen Lehre
widerfahren, und unterscheidet dann sechs Ebenen der Gewaltenteilung im
modernen Staat, nämlich die staatsrechtliche, zeitliche, föderative,
konstitutionelle, dezisive und soziale Ebene der Gewaltenteilung. Der
Text bietet eine Neuinterpretation der überholten traditionellen Lehre
von der Gewaltenteilung.
Ganz unten auf der Seite finden Sie unsere
Empfehlungen zum Weiterlesen (Lexikonartikel, Gewaltenteilung im
präsidialen System der USA
etc.)...
Gewaltenteilung im
demokratischen Staat
Die Freiheit der Parteibildung, insbesondere die freie Wirksamkeit einer
Opposition sowie eine sich aus vielen Quellen speisende öffentliche
Meinung sollen die Inhaber der Macht kontrollieren und die politische
Mitgestaltung der Gesellschaft ermöglichen. Kontrolle und
gesellschaftliche Impulse wären freilich kaum möglich, wenn alle
Staatsgewalt sich in einer Hand befände. Wirksame Kontrolle und
Beeinflussung staatlicher Macht ist nur durch staatliche Macht selbst
denkbar. Deswegen sucht ein freiheitliches Gemeinwesen die Staatsgewalt
auf verschiedene selbständige Organe aufzuteilen, damit diese sich
gegenseitig überwachen und übergroße Machtzusammenballung durch
Monopolisierung vermieden wird. |
Warum braucht man
Gewaltenteilung? |
Dem Pluralismus im Bereich der politischen Parteien und der öffentlichen
Meinung schließt sich im freiheitlich-demokratischen Staat demnach eine
Vielzahl oberster Staatsorgane an. Während aber bei Parteien und
öffentlicher Meinung der Prozess der Pluralisierung dem freien Spiel der
gesellschaftlichen Kräfte überlassen bleibt, ist die Aufteilung der
staatlichen Macht auf verschiedene, voneinander unabhängige Instanzen
meist in einer geschriebenen Verfassung festgelegt. In ihr sind die
Kompetenzen der einzelnen Staatsorgane fixiert. Eine solche
verfassungsmäßige Verteilung der staatlichen Kompetenzen will nicht nur
die gegenseitige Kontrolle der Organe erreichen, sondern auch die
Tätigkeit des Staatsapparates übersichtlich und berechenbar machen. Die
Aufgliederung der staatlichen Macht schützt den Bürger vor staatlicher
Willkür und erleichtert ihm zugleich das Verständnis des
Regierungsprozesses. |
Gewaltenteilung unterscheidet Demokratie von Diktatur
|
Die traditionelle Lehre von der Gewaltenteilung
Dass ein Gemeinwesen in seiner Freiheit nur gesichert werden könne, wenn
die Staatsgewalt auf verschiedene selbständige Organe aufgeteilt ist,
gehört zum überlieferten Kernbestand der verfassungspolitischen
Überzeugungen unserer Zeit. Gerade in der Gewaltenteilung liegt der
wesentliche Unterschied von freiheitlicher Demokratie und Diktatur. In
letzterer ist alle Entscheidungsgewalt bei einem Individuum oder bei
einer Partei konzentriert. Hier gibt es deshalb keine Kontrolle der
Macht, was den einzelnen der Willkür der jeweiligen Machthaber aussetzt.
In diesem Sinne sagte schon Montesquieu, der Vater der Lehre von der
Gewaltenteilung: "Alles wäre verloren, wenn derselbe Mensch oder die
gleiche Körperschaft der Grossen, des Adels oder des Volkes diese drei
Gewalten ausüben würde: die Macht, Gesetze zu geben, die öffentlichen
Beschlüsse zu vollstrecken und Verbrechen oder die Streitsachen der
einzelnen zu richten."
In derselben Grundüberzeugung erklärte George Washington 1796 in seiner
Abschiedsbotschaft an das amerikanische Volk: "Der Geist der
Machtanmaßung strebt danach, die Gewalt aller Ämter in einem
zusammenzufassen und so unabhängig von der Regierungsform praktisch den
Despotismus herbeizuführen. Eine richtige Einschätzung dieses
Machthungers und die das menschliche Herz beherrschende
Bereitwilligkeit, diese Macht zu missbrauchen, genügt, von der Wahrheit
dieser Behauptung zu überzeugen. Die Notwendigkeit gegenseitiger
Kontrollen bei der Ausübung politischer Macht in Form ihrer Aufteilung
auf verschiedene Regierungszweige, wobei jede zum Wächter des
öffentlichen Wohls gegen Übergriffe des andern bestellt wird, ist aus
Erfahrung in alter und neuer Zeit dargetan worden."
In diesen Zitaten ist das zentrale Motiv aller Gewaltenteilung
ausgedrückt. Diese geht von der Erfahrung aus, dass jeder Inhaber von
politischer Macht zu ihrem Missbrauch verführt werden kann und dass man
deshalb die Macht begrenzen und aufteilen müsse. Montesquieus Worte
deuten darüber hinaus an, wie er sich die Teilung der Staatsgewalt
denkt. Er erkennt drei Grundfunktionen des souveränen Staates:
Gesetzgebung, Gesetzesvollziehung und Rechtsprechung. Diese drei
Funktionen müssten, so erklärte Montesquieu, je einem eigenen Organ
schwerpunktmäßig zugewiesen werden, wenn man die Freiheit der Bürger
sichern wolle. Die Nachfolger Montesquieus dogmatisierten seine Lehre.
Sie trennten strikt die Exekutive, zu der sie Regierung und Verwaltung
zusammenfassten, von der Legislative und der Jurisdiktion. Diese
Dreiheit beherrscht noch heute das politische Denken der westlichen
Demokratien (...). |
keine strikte Trennung von Legislative und Exekutive in parlamentarischen
Systemen
überlieferte Kategorien nicht mehr brauchbar |
Abweichungen von der traditionellen Lehre der Gewaltenteilung
Die Sonderung dieser drei Gewalten nimmt freilich das Grundgesetz — wie
viele andere demokratische Verfassungen der Gegenwart — keineswegs
genau, zumindest was die Trennung von Exekutive und Legislative angeht.
Ist doch schon die Kernbestimmung jedes parlamentarischen
Regierungssystems, wonach die Regierung vom Parlament bestellt und
gestürzt werden kann, mit der Forderung nach strikter Gewaltentrennung
unvereinbar. Denn überall dort, wo das Parlament die Regierung bildet,
wählt es in aller Regel Männer und Frauen seines Vertrauens aus den
eigenen Reihen. Auch wenn dies verfassungsrechtlich nicht eigens
vorgeschrieben ist, so liegt es doch nahe, dass das Parlament seinen
Einfluss auf die Regierung am besten dadurch sichert, dass es die
Regierung aus der eigenen Mitgliedschaft konstituiert. So haben die
meisten Minister jeweils zwei Plätze im Parlament inne, einen auf der
Regierungsbank und den anderen inmitten ihrer Fraktionskollegen.
Von einer personellen Trennung von Exekutive und Legislative kann
demnach keine Rede sein. Aber auch in den Kompetenzen wird die Trennung
nicht streng eingehalten. Denn das Parlament beschränkt sich keineswegs
auf die Gesetzgebung, sondern versucht Einfluss zu nehmen auf wichtige
Entscheidungen der Exekutive, indem es diese durch Entschließungen
ersucht, sich in einer bestimmten Frage so und nicht anders zu verhalten
(...).
Andererseits beschränkt sich auch die Regierung keineswegs auf das
Durchführen der Gesetzesbeschlüsse des Parlaments. Einmal ist sie selbst
an der Ausarbeitung der Gesetze maßgeblich beteiligt. Die überwiegende
Mehrzahl der Gesetzesvorlagen stammt heute aus den Amtsstuben der
Ministerien und nicht aus den Büros der Abgeordneten. Angesichts der
Kompliziertheit der dem Staat auferlegten Aufgaben sind die Abgeordneten
meist gar nicht in der Lage, einen eigenen Gesetzesentwurf
sachverständig vorzulegen, da oft lediglich die Experten der Bürokratie
über die notwendigen Informationen und statistischen Unterlagen
verfügen.
Hinzu kommt, dass das Parlament immer häufiger nur Rahmengesetze schafft
und die Exekutive ermächtigt, zur weiteren Regelung der Einzelheiten
Rechtsverordnungen zu erlassen. Dadurch wird die Exekutive selbst
indirekt gesetzgeberisch tätig.
Der moderne Verwaltungsstaat braucht solche Arbeitserleichterungen für
das Parlament, soll dieses nicht in den zahllosen Materien der
Gesetzgebung ersticken. Insgesamt aber verlagert sich so das politische
Schwergewicht auf die Exekutive. Ihre Spitze bestimmt "die Richtlinien
der Politik" und legt die zu ihrer Durchführung notwendigen Gesetze vor,
die dann im Parlament von der die Regierung stützenden Partei oder
Parteienkoalition akzeptiert werden. Dabei vermag die Regierung einen
erheblichen Druck auf die ihrer Partei angehörigen Abgeordneten
auszuüben, um sie im Sinne der eigenen Wünsche gefügig zu machen.
Freilich kann auch die Mehrheit des Parlaments die Ministerien und ihre
Entscheidungen beeinflussen, indem sie Anregungen weitergibt oder Druck
ausübt, um bestimmte Gesetze vorbereiten zu lassen oder bestimmte
Entscheidungen der Exekutive zu erreichen (...).
In das Schema der klassischen Gewaltentrennungslehre lassen sich solche
Vorgänge nicht eindeutig einordnen. Lediglich die Judikative ist noch
strikt von den anderen Bereichen getrennt, obwohl sie aus historischen
Gründen oft auch Aufgaben der Verwaltung übernimmt. Man denke nur an die
Tätigkeit der Registergerichte, manche Bereiche der freiwilligen
Gerichtsbarkeit und an das Jugendstrafrecht. Auch müssten hier einige
Bereiche der Verfassungsgerichtsbarkeit genannt werden, wie die
Auflösung einer Partei, die nach klassischer Lehre, selbst wenn sie auf
Grund eines gerichtsförmigen Verfahrens zustande kommt, eine
Exekutivmaßnahme ist. Trotz dieser hier keineswegs erschöpfend
aufgezählten Überschneidungen ist die Judikative dennoch eindeutig von
Exekutive und Legislative getrennt, auch wenn die Mitglieder der
obersten Gerichte von Regierung und Parlament bestimmt werden. Für die
Beziehungen von Legislative und Exekutive aber sind die überlieferten
Kategorien der Gewaltenteilungslehre nicht mehr brauchbar.
Dieser Umstand hat dazu geführt, dass man die Montesquieusche Lehre von
der Trennung der drei Gewalten "überholt und wirklichkeitsfremd", ja ein
"eingerostetes Gedankenschema" genannt hat (Karl Loewenstein). Eine
solche Verdammung scheint unausweichlich zu sein, weil sich im modernen
parlamentarischen Staat die strikte Trennung von Legislative und
Exekutive nicht mehr aufrechterhalten lässt, auch dann nicht, wenn sie,
wie in der Verfassung der Vereinigten Staaten, gänzlich unabhängig
voneinander konstituiert werden. In den Vereinigten Staaten ist der
Graben zwischen dem Regierungschef und Parlament tiefer als in den
parlamentarischen Regierungssystemen Europas, und das Parlament hat noch
wesentlich mehr von seiner einstigen Bedeutung sich erhalten. Doch fehlt
es auch im amerikanischen Regierungssystem keineswegs an Tendenzen, die
im Sinne der oben geschilderten allgemeinen Entwicklung wirksam geworden
sind. |
Regierung und Parlament zusammen treffen die Grundentscheidungen |
Neubestimmung der Lehre von der Gewaltenteilung
Ein Ansatz zur Neubestimmung der Lehre von der Gewaltenteilung geht von
der Feststellung aus, dass mit Gesetzgebung, Gesetzesvollziehung und
Rechtsprechung keineswegs alle Funktionen der Staatsgewalt umschrieben
sind. Die Parlamente sind keineswegs nur mit Gesetzgebung beschäftigt,
und die Aktivität der Regierung ist weit mehr als Gesetzesvollziehung.
Heute lässt sich die Tätigkeit der einzelnen Staatsorgane viel besser
danach bestimmen und gliedern, ob sie dem Funktionsbereich 1. der
politischen Grundentscheidung, 2. der Ausführung dieser
Grundentscheidung oder 3. seiner Kontrolle im Sinne der
Verfassungsprinzipien zuzuweisen ist.
Das führt dann zu einer vom bisherigen Schema der Gewaltenteilung
unterschiedenen Zuordnung dieser drei Funktionen an die einzelnen
Staatsorgane. Die richterliche Gewalt zum Beispiel, aber keineswegs sie
allein, gehört in den Bereich der Kontrolle. Die Ausführung der
politischen Grundentscheidungen, sei es der Vollzug von Gesetzen oder
die Durchführung außenpolitischer Zielsetzungen, ist in erster Linie
Sache des öffentlichen Dienstes, der Verwaltung. Die Regierung selbst
ist zwar als oberste Weisungsinstanz auch der Verwaltung zugehörig, doch
ist sie ihrerseits kein Ausführungsorgan. Ihre primäre Funktion liegt
vielmehr in der Formulierung der politischen Grundentscheidung (...).
Eng verbunden mit der Regierung ist in dieser Aufgabe das Parlament,
denn für die wesentlichen Aktionen braucht die Regierung die Zustimmung
des vom Volk gewählten Parlaments. Dieses hat das Recht und die Pflicht,
Einfluss auf die Zielsetzung der Außen- und Innenpolitik zu nehmen und
bei ihrer Formulierung mitzuwirken. Eine solche Tätigkeit ist wesentlich
mehr, als der Begriff der Gesetzgebung in sich einschließt. Regierung
und Parlament zusammen sind die Organe, die die politischen
Grundentscheidungen eines Gemeinwesens treffen müssen.
Da sich Regierung und Parlament in dieser Aufgabe zu gemeinsamem Handeln
entschließen müssen, ist es nur konsequent, wenn man zwischen ihnen
institutionelle Verzahnungen und Verbindungen schafft. Das
parlamentarische Regierungssystem trägt der gemeinsamen Aufgabe von
Regierung und Parlament im Bereich der politischen Grundentscheidung
Rechnung. Freilich sollte man streng trennen zwischen der Aufgabe, die
politische Grundentscheidung zu formulieren und sie praktisch
durchzuführen. Hier setzen die gesetzlichen Vorschriften über die
sogenannte Inkompatibilität ein, die Unvereinbarkeit zwischen der
Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst und der Tätigkeit als
Abgeordneter. Aus denselben guten Gründen werden deshalb auch Beamte nur
in seltenen Ausnahmefällen Minister. Das unterstreicht noch einmal, dass
das Amt des Ministers wie das Amt des Abgeordneten in gleicher Weise auf
die Aufgabe der politischen Grundsatzentscheidungen ausgerichtet ist. |
Zwang zur Zusammenarbeit
Machtkontrolle durch Opposition |
Checks and Balances
Wenn danach Parlament und Regierung in derselben Funktion tätig sind, so
vermögen sie sich dabei natürlich auch zu kontrollieren. Geteilte
Verantwortung ist geteilte Macht. Die Akteure sind durch ein System von
"checks and balances", ein System der Gegengewichte und Ausbalancierung,
miteinander verbunden. Regierung und Parlament sind aufeinander
angewiesen und bedürfen für die Formulierung politischer
Grundsatzentscheidungen eines Konsensus. Ein solches Verfahren liegt
durchaus in der Konsequenz der Gedanken Montesquieus, der in den
Kategorien seiner Zeit die Gesetzgebung primär als Bereich der
politischen Grundentscheidung sehen und zwei Kammern — die Kammer des
Adels und die der Bürger — an ihr beteiligt wissen wollte, um so auch
hier die Gewalt zu teilen. Die zwei Staatsorgane und die hinter ihnen
stehenden gesellschaftlichen Gruppen sind dadurch gezwungen, bei
bestimmten Akten des Staates zusammenzuwirken. Der Zwang zur
Zusammenarbeit birgt ein Element der Kontrolle in sich.
Daneben aber gibt es im Parlament selbst noch in Gestalt der
Oppositionspartei ein Element autonomer Machtkontrolle, die selbständig
ausgeübt wird. In der eigenständigen Position und im freieren
Aktionsspielraum der Opposition lebt die ältere Gegenüberstellung von
Parlament und Regierung noch fort, wie sie in den Zeiten der
konstitutionellen Monarchie üblich war. Auch das klassische Schema der
Gewaltenteilung ist ja nur die Fixierung einer bestimmten historischen
Situation, in der der König die Exekutive darstellte, die dem Parlament
als politische Kraft eigenen Rechts und eigener Legitimation
gegenübertrat. Um den ursprünglich absoluten Machtanspruch der Krone
einzugrenzen, entzog ihr Montesquieu in seiner Gewaltenteilungslehre die
Gesetzgebung und wies diese einem gewählten Parlament zu, in dem das
aufstrebende Bürgertum vertreten war. König und Parlament sollten danach
zusammen das Land repräsentieren; die Unterschiedlichkeit ihrer
Legitimation erlaubte eine strengere Trennung der beiden Gewalten. |
präsidentielle Systeme wie USA |
Die Entwicklung vollzog sich im Zeichen der Demokratisierung dann so,
dass der Gedanke der Volkssouveränität sich allgemein durchsetzte und
der königlichen Exekutive die Legitimation entzogen wurde. Die Krone
verlor zunehmend an Gewicht zugunsten des Parlaments. Auf diese Weise
wurde auch die Trennung zwischen Exekutive und Legislative immer
schwieriger, bis schließlich das Parlament die Exekutive eroberte und
sie von seinem Vertrauen abhängig machte. Damit war die ältere Trennung
im Prinzip aufgehoben.
Sie konnte sich nur dort erhalten, wo man sich zu einem
präsidialstaatlichen Verfassungssystem entschloss wie in den Vereinigten
Staaten. Hier tritt an die Stelle des Monarchen der ebenfalls vom Volk
gewählte, dem Kongress nicht verantwortliche Präsident. Durch die
Volkswahl erhält dieser die gleiche Legitimationsgrundlage wie das
Parlament. Dadurch wird zumindest im Personalen eine Trennung möglich.
Die Mitglieder der amerikanischen Regierung sind nicht Abgeordnete des
Kongresses, sondern Männer, die das Vertrauen des Präsidenten in ihr Amt
berufen hat. In den sachlichen Entscheidungen freilich bleibt der
Präsident in jeder grundlegenden Frage auf die Zusammenarbeit und die
Übereinstimmung mit dem Kongress angewiesen. Insofern machen auch die
Vereinigten Staaten keine Ausnahme bei der gleichzeitigen Befassung von
Regierung und Parlament mit der politischen Grundentscheidung. |
Gewaltenteilung nach wie vor zentral, drückt sich aber in anderen
Formen aus
Rechtsprechung als Kontrollinstanz
Föderalismus als vertikale Gewaltenteilung |
Neue Formen der Gewaltenteilung im 20. Jahrhundert
Die volle Durchsetzung des demokratischen Gedankens im 20. Jahrhundert
hat demnach der scharfen Trennung von Exekutive und Legislative ein Ende
gemacht. Das hat freilich an der grundlegenden Bedeutung des Prinzips
der Gewaltenteilung als Organisationsprinzip für ein freiheitliches
Gemeinwesen nichts geändert. Nur sind die Formen, in denen sich die
Gewaltenteilung ausdrückt, andere geworden. Die Entwicklung ist
insbesondere dadurch charakterisiert, dass der Bereich der
Rechtsprechung außerordentlich ausgebaut worden ist. In Gestalt der
Verfassungsgerichtsbarkeit kontrolliert sie den Gesetzgeber wie die
Regierung. An eine solche Kontrolle hatte Montesquieu noch nicht
gedacht. Als besonders bedeutsamer Kontrollzweig hat sich eine eigene
Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt, die parallel zur Ausweitung der
Verwaltungstätigkeit von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Bedeutung gewann. Die
Überwachung der Gesetzesausführung, die nach Montesquieus Meinung der
Legislative zustand, wird heute vielfach von den Gerichten geleistet.
Auch angesichts seiner politischen Verflechtung mit der Regierung vermag
das Parlament die Kontrolle der Exekutive gerade in Verwaltungssachen
nur noch in geringem Umfang zu leisten.
Noch in anderen Gebieten sind neue Formen der Gewaltenteilung
entstanden. Viele demokratische Gemeinwesen der Gegenwart sind
föderalistisch organisiert. Die relative Selbständigkeit mancher sehr
künstlich entstandener Gliedstaaten empfängt vielfach erst unter dem
Gesichtspunkt der Gewaltenteilung ihre innere Berechtigung, vor allem
dann, wenn keine historische Tradition die Eigenstaatlichkeit begründen
kann. Auch der Ausbau des Selbstverwaltungsrechts von Gemeinden und
anderen Gebietskörperschaften dient dazu, die geballte Kraft der
modernen staatlichen Exekutive aufzusplittern und den Bürger an mehreren
Ebenen staatlicher Tätigkeit zu beteiligen. Selbstverständlich ist diese
Mehrgleisigkeit wiederum ein Element der Kontrolle und der gegenseitigen
Überwachung der staatlichen Bürokratien in Bund, Ländern und Gemeinden.
Sie macht außerdem deutlich, wie bestimmte Aspekte der Gewaltenteilung
zugleich der Demokratisierung dienen und von ihr her motiviert sind.
Durch solche Gewaltenteilung schafft man Möglichkeiten der Mitbestimmung
und Bürgerbeteiligung (...). |
Wahlen als Element der Gewaltenteilung |
Gewaltenteilung durch Wahl
Zum Stichwort Gewaltenteilung gehört auch die in jedem demokratischen
Staat vorgesehene periodische Wiederwahl der politischen Amtsträger. Die
Macht wird gleichsam temporär geteilt. Dass ein amerikanischer Präsident
sich zur Wiederwahl der Konkurrenz stellen muss und zudem nur einmal
wiedergewählt werden kann, schränkt seine Machtfülle erheblich ein.
Gleiches gilt für die Wahlperioden der Parlamente. Je kürzer sie sind,
um so mächtiger ist die Stellung der öffentlichen Meinung und der
Wählerschaft. Auch diese haben demnach ihren Anteil an dem umfassenden
System der Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle. Entscheidend können in
diesem Zusammenhang aber auch Vorschriften über sonstige Fristen sein
(...). Die Macht eines politischen Gremiums entscheidet sich sehr oft
danach, wie oft es tagen muss oder darf. Ein Gremium, das monatlich
zusammentritt, ist viel stärker als eines, das nur einmal im Jahr
einberufen wird. Umgekehrt wird etwa die Unabhängigkeit der Justiz nicht
zuletzt dadurch gesichert, dass die Richter im allgemeinen auf
Lebenszeit bestellt werden. |
fünf Ebenen der "checks and balances" |
Schlussfolgerungen
Aus allem folgt, dass es kein Dogma einer streng durchgeführten
Gewaltentrennung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative mehr
gibt. Gleichwohl aber sucht die moderne Demokratie jedes Machtmonopol
auszuschließen. Auf fünf Ebenen organisiert sie das Mit- und
Gegeneinander der politischen Kräfte: Wählerschaft und öffentliche
Meinung, Verbände und Parteien, das Parlament in seinen zwei Kammern,
die Exekutive als Regierung und Verwaltung und die Rechtsprechung
nehmen, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht, teil an der
Formulierung der politischen Grundentscheidungen, ihrer Ausführung und
ihrer Kontrolle. Alle Beteiligten aber bleiben an die Grundprinzipien
der Verfassung gebunden und müssen sich an die Vorschriften halten, die
diese für ihr Zusammenspiel vorsieht. Alle müssen sich auch stets unter
die Kontrolle der anderen Organe stellen. So ist insgesamt die
staatliche Macht im demokratischen Staat durch ein kompliziertes System
von Gewaltenverschränkungen, durch Gewichte und Gegengewichte, begrenzt.
Der Hüter des Ganzen aber ist in der Vorstellung der modernen Demokratie
die Norm der Rechtsstaatlichkeit, über die insbesondere die unabhängige
Justiz zu wachen hat (...).
[aus: Waldemar Besson/Gotthard Jasper, Das Leitbild der modernen
Demokratie. Bauelemente einer freiheitlichen Staatsordnung, Bonn 1990] |
Vorläufer von Montesquieu |
Der folgende Text von Emil Hübner versucht eine Neuinterpretation
der traditionellen Lehre von Montesquieu und unterscheidet sechs Ebenen
der Gewaltenteilung im modernen Staat:
Parlamentarisches Regierungssystem und Gewaltenteilung
Montesquieu — der meist missverstandene Theoretiker
Die Diskussion um die Gewaltenteilung beginnt nicht mit Montesquieu. Sie
hat ihre Anfänge im griechischen Altertum und sie reißt im Mittelalter
nicht ab. Auch hat Montesquieu in John Locke (1632-1704) einen
Vorläufer, der gewichtige Teile seiner Theorie vorwegnahm. Doch
Montesquieu (1689-1755) verhalf der Idee der Gewaltenteilung zum
Durchbruch, und er ist derjenige Denker, auf den man sich in der
Folgezeit bei der Erörterung von Gewaltenteilungsproblemen immer wieder
bezogen hat. Montesquieus Vorstellungen von gewaltenteilenden Regelungen
sind im wesentlichen im 6. Kapitel des 11. Buches seines Werkes "Vom
Geist der Gesetze" niedergelegt, das erstmals 1748 in Genf erschien.
Hier findet sich auch der Kernsatz seiner Lehre, der immer wieder
zitiert wird: "Alles wäre verloren, wenn entweder ein einziger Mensch
oder eine Körperschaft, sei es der Mächtigen, des Adels oder des Volkes,
die folgenden drei Gewalten ausüben würde: diejenige, Gesetze zu
erlassen, diejenige, öffentliche Beschlüsse auszuführen sowie diejenige,
Verbrechen und private Streitigkeiten zu richten." |
Montesquieu plädiert nicht für strikte Trennung der Gewalten
gesellschaftliche Ebene der Gewaltenteilung
Ziel: Freiheit und Menschenwürde durch Verhinderung von Machtmissbrauch |
Keine strikte Trennung der Gewalten
Die häufig vertretene Meinung jedoch, Montesquieu wolle auf eine totale
Unabhängigkeit der drei Gewalten Legislative, Exekutive und
Rechtsprechung (Judikative) hinaus, ist nicht zu belegen. Im Gegenteil,
in dem erwähnten 6. Kapitel lässt sich eine größere Anzahl von
"gewaltendurchbrechenden" und "gewaltenvermischenden" Regelungen
nachweisen. Montesquieu gesteht zum Beispiel dem Monarchen als dem
Träger der Exekutive ein absolutes Vetorecht gegen Entscheidungen der
Legislative zu, um der Gefahr vorzubeugen, dass diese "despotisch" wird.
Dem Parlament räumt Montesquieu das Recht ein, nachträglich darüber zu
wachen, ob die Exekutive seine Gesetze richtig ausführt. Außerdem hat
das Parlament das Recht, die Minister und Beamten des Königs einem
Gerichtsverfahren zu unterziehen, wenn sie sich über die Gesetze
hinwegsetzen. Um hier nur noch ein Beispiel zu bringen: Montesquieu
teilt dem Oberhaus neben seinen gesetzgebenden Befugnissen auch
Befugnisse in der Rechtsprechung zu. Die Adligen sollen nämlich nicht
von ordentlichen Gerichten abgeurteilt werden, sondern von der Ersten
Kammer des Parlaments, damit nicht Neider, sondern Gleichgestellte über
sie urteilen.
Diese Beispiele dürften ausreichend belegen, dass Montesquieu nicht auf
einer strikten Gewaltentrennung besteht und dass er sich nicht auf
institutionelle Mechanismen allein verlässt, sondern die
gesellschaftlichen Gruppierungen der damaligen Zeit in seine
gewaltenbalancierenden Überlegungen einbezieht. Montesquieus
Gewaltenteilungslehre ist nur verständlich, wenn man neben den
institutionellen Regelungen auch seine Vorstellungen von der
gesellschaftlichen Ebene der Gewaltenteilung im Auge behält. Wie wichtig
diese Ebene der Gewaltenteilung für Montesquieu ist, zeigt sich in einem
"Versehen" (Martin Draht), das sich wiederum im 6. Kapitel des 11.
Buches findet: "So sieht also die Verfassung, von der wir gesprochen
haben, in ihren Grundzügen aus. Die Legislative setzt sich aus zwei
Teilen zusammen, die sich durch ihr wechselseitiges Verhinderungsrecht
gegenseitig an die Kette legen. Beide werden durch die exekutive Gewalt
gebunden (liées), welche ihrerseits wiederum durch die Legislative
gebunden wird. Diese drei Gewalten ..." Obwohl Montesquieu in diesem
Zusammenhang die Judikative überhaupt nicht erwähnt, spricht er von drei
Gewalten, womit er den an der Spitze der Exekutive stehenden Monarchen,
den die Erste Kammer stellenden Adel und das in der zweiten Kammer
vertretene Bürgertum meint. Die immense Bedeutung der gesellschaftlichen
Ebene der Gewaltenteilung wird auch deutlich in den Ausführungen
Montesquieus zur Judikative, unter anderem in den erwähnten Bemühungen
um den Schutz des Adels bei Gerichtsprozessen.
Montesquieu geht es im wesentlichen nicht um eine funktionelle und
personelle Trennung der drei Staatsgewalten, es geht ihm in erster Linie
um Freiheit und Menschenwürde. Sie will Montesquieu gegen Anarchie und
Despotismus verteidigen mittels einer gesetzlichen Ordnung, die
Machtmissbrauch möglichst ausschließt. Zur Verhinderung des
Machtmissbrauches sei es nötig, so ein Zitat aus dem 4. Kapitel des 11.
Buches, "dass eine Gewalt die andere hindere", was nur möglich ist, wenn
die Gewalten nicht völlig voneinander abgeschottet sind. Montesquieu ist
letztlich — so wird man etwas überspitzt zusammenfassen können — eher
ein Theoretiker der Gewaltenhemmung und Gewaltenvermischung als ein
Theoretiker der Gewaltenteilung. |
Parteien und Interessengruppen gab es zur Zeit Montesquieus noch
nicht |
Neuinterpretation der Gewaltenteilung
Seit Montesquieu ist die Lehre der Gewaltenteilung ein Dauerstreitpunkt
bei der Diskussion um eine möglichst sinnvolle Gestaltung der
Regierungssysteme.
Will man heute die gewaltenteilenden Elemente in einem politischen
System herausarbeiten, so wird man sich nicht auf den institutionellen
Bereich beschränken dürfen. Man wird sich vielmehr daran erinnern
müssen, dass bei Montesquieu neben der institutionellen die
gesellschaftliche Ebene der Gewaltenteilung stand. Dieses Faktum
schließt einfache Übertragungen Montesquieuscher Ideen auf die heutige
Zeit aus. Die Ständegesellschaft, die Montesquieus Werk prägte, gehört
der Vergangenheit an, andere gewaltenbeschränkende Elemente sind
hinzugekommen. Erinnert sei hier nur an den erstmals in der
amerikanischen Verfassung festgeschriebenen föderativen Staatsaufbau, an
die Bedeutung der Grundrechte und an die Montesquieu gänzlich
unbekannten modernen Parteien und Interessengruppen. Die
gewaltenteilenden, -vermischenden und -hemmenden Faktoren sind gegenüber
der Zeit von Montesquieu beträchtlich angewachsen. Dies war allerdings
auch dringend nötig, da der moderne Staat einen Macht- und
Aufgabenzuwachs zu verzeichnen hat, von dem ein Denker des 18.
Jahrhunderts noch nicht einmal träumen konnte. Einen griffigen Katalog
derjenigen Faktoren, die bei der Verwirklichung der Montesquieuschen
Grundideen — Erhaltung von Freiheit und Menschenwürde sowie Verhinderung
von staatlichem Machtmissbrauch — heute eine gewichtige Rolle spielen,
hat Winfried Steffani formuliert. Er unterscheidet folgende Ebenen: |
1. horizontal
2. zeitlich
3. föderativ
4. konstitutionell
5. dezisiv
6. sozial |
Sechs Ebenen der Gewaltenteilung
Die staatsrechtliche, horizontale Ebene der Gewaltenteilung: Sie beruht
im wesentlichen auf der gängigen Unterscheidung von gesetzgebender
Gewalt, ausführender oder vollziehender Gewalt und Rechtsprechung, ist
aber durch die Einführung des parlamentarischen Regierungssystem und
durch die modernen Parteiensysteme erheblich modifiziert worden.
Die zeitliche Ebene der Gewaltenteilung: In jeder westlichen Demokratie
ist die Dauer von Parlamentsmandaten und Regierungsämtern begrenzt. Sie
werden durch Wahlen beendet bzw. erneuert. Während die Parteien in einem
parlamentarischen Regierungssystem auf der staatsrechtlichen Ebene
teilweise zur Gewaltenvermischung beitragen, stellen sie auf der
zeitlichen Ebene die wichtigsten Garanten der Verhinderung von
Machtmissbrauch dar, da sie den Wählern Alternativen anbieten und so
verhindern, dass eine Einparteidiktatur errichtet wird.
Die föderative Ebene der Gewaltenteilung: Eine föderative Verfassung
begrenzt die Macht der politischen Institutionen des Zentralstaates. Auf
der anderen Seite haben die einzelnen Bundesländer einen in den
verschiedenen politischen Systemen unterschiedlich geregelten Einfluss
auf den Zentralstaat, wie der Bundesrat oder der amerikanische Senat
zeigen. Es muss auch daran erinnert werden, dass die bis vor einigen
Jahren noch für selbstverständlich gehaltene Aushöhlung des Föderalismus
durch den modernen Sozial- und Leistungsstaat bei weitem nicht so
automatisch abläuft, wie vielfach angenommen. Die Versuche Ronald
Reagans in den USA, Kompetenzen an die Einzelstaaten zurückzuverlagern,
waren zwar nicht sonderlich erfolgreich, aber sie machten doch deutlich,
dass die Machtverlagerung von den Einzelstaaten zum Zentralstaat keinen
automatischen Prozess darstellt.
Die konstitutionelle Ebene der Gewaltenteilung: Hier muss vor allem auf
die Verfassung verwiesen werden. Sie schränkt in den meisten westlichen
Demokratien die Entscheidungskompetenzen der jeweiligen
Parlamentsmehrheiten ein, weil für Verfassungsänderungen qualifizierte
(= Zwei-Drittel-) Mehrheiten verlangt werden (...).
Die dezisive Ebene (= Entscheidungsebene) der Gewaltenteilung: Der
politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess spielt sich heute
nicht allein auf staatlicher Ebene ab und kann so auch nicht
ausschließlich mit staatsrechtlichen Kategorien beschrieben werden. Die
Einbeziehung der gewaltenhemmenden Wirkung von Parteien,
Interessenverbänden und öffentlicher Meinung ist in diesem Zusammenhang
unerlässlich.
Die soziale Ebene der Gewaltenteilung: Trotz der Ablösung des
Ständestaates hat sich die heutige Gesellschaft nicht zu einer
"nivellierten Mittelstands-Gesellschaft" (Helmut Schelsky) entwickelt.
Unterschiedliche Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen
Schichten verlangen von den politischen Parteien unterschiedliche
Angebote und Lösungsvorschläge für anstehende politische Probleme. |
"checks and balances" statt Gewaltenteilung |
Gewaltenvermischende Elemente
[Eine] Liste der Gewaltendurchbrechungen [in liberal-demokratischen
Systemen] ließe sich ohne Schwierigkeiten fortsetzen. Verallgemeinernd
kann festgehalten werden, dass in den westlichen Demokratien keine
Verfassung ohne solche gewaltendurchbrechenden Elemente auskommt. Dies
gilt auch für die Verfassung der Vereinigten Staaten, die in der
westlichen Welt als diejenige gilt, die der Forderung nach
Gewaltenteilung am ehesten Rechnung trägt. Die Amerikaner sprechen
selten isoliert von Gewaltenteilung ("separation of powers"), sie
betonen jeweils auch das Prinzip der "checks and balances" und stellen
so die gewaltenvermischenden neben die gewaltenteilenden Elemente ihrer
Verfassung.
Man kann nun einwenden, die Feststellung, dass alle westlichen
Demokratien gewaltenvermischende Elemente aufweisen, sei allein kein
Argument gegen die Forderung nach einer verstärkten Gewaltenteilung. Es
bedarf deshalb — klammert man die nicht in Frage zu stellende
Unabhängigkeit der Judikative aus — zweier weiterer Warnungen.
Zum einen wird die Forderung nach Einhaltung beziehungsweise nach
Verstärkung der Gewaltenteilung nicht selten einseitig zugunsten einer
bestimmten Institution eingesetzt(...). |
Problem: Übergewicht der Regierungen, Entparlamentarisierung |
Machtübergewicht der Regierungen
[Hier] ist zu bedenken, dass die heutigen westlichen Demokratien durch
ein mehr oder weniger deutliches Machtübergewicht der Regierungen
gegenüber den Parlamenten geprägt sind. Die Wandlung des liberalen
"Nachtwächterstaates" des 19. Jahrhunderts in den modernen
Leistungsstaat hat zu einer immensen Ausweitung der Staatsaufgaben
geführt, die in erster Linie von den Regierungen bewältigt werden
müssen.
Die "Internationalisierung der Staatspolitik" (Wilhelm Hennis), das
stetig wachsende Gewicht internationaler und supranationaler
Organisationen, bringt für die Parlamente erhebliche Probleme mit sich,
da sie auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen selten über die
Funktion eines Erfüllungsgehilfen der Regierung hinauskommen. Auch die
sich ausweitende politische Planung stärkt in erster Linie Regierungen
und Bürokratien.
Offensichtlicher Beleg für dieses Machtübergewicht der Regierungen sind
ihre riesigen Beamtenapparate, die die Hilfsdienste der Parlamente —
auch in den USA, wo der Kongress über die im Vergleich zu sämtlichen
anderen westlichen Parlamenten beste personelle Unterstützung verfügt —
deutlich übertreffen. Die Forderung nach einer verstärkten
Gewaltenteilung läuft in erster Linie darauf hinaus, dass die Regierung
als mächtigste Institution des Regierungssystems vor Zugriffen des
Parlamentes geschützt wird. |
Zurechenbarkeit von Entscheidungen?
Regierung und Opposition als zentrale strukturierende Elemente
Beispiel USA |
Gemeinsame Entscheidungen
Ein Parlament, dem man die Mitwirkung an der Außenpolitik oder an der
politischen Planung versagt und das man auf die Ratifizierung der
entsprechenden Regierungsentscheidungen beschränkt, hat in einem
parlamentarischen Regierungssystem letztlich nicht einmal mehr die
Möglichkeit, die entsprechenden Entscheidungen abzulehnen, da die
jeweilige Mehrheit der von ihr getragenen Regierung mit einem solchen
Votum indirekt das Misstrauen aussprechen würde. Es kann also letztlich
nicht darum gehen, den Entscheidungsspielraum der Regierung in der
Außenpolitik, im Planungsbereich oder in anderen Kompetenzen unter
Bezugnahme auf Gewaltenteilungsforderungen möglichst vor "Übergriffen"
des Parlamentes zu schützen. Es kommt vielmehr umgekehrt darauf an, der
Regierung ein möglichst wirksames Gegengewicht entgegenzustellen. Dies
ist letztlich nur möglich, wenn grundsätzliche Entscheidungen von
Regierung und Parlament zusammen getroffen werden.
Das entscheidende Argument gegen eine solche Folgerung betont, dass
hierdurch die Verantwortung für politische Entscheidungen verwischt
würde. Weil verschiedene Staatsorgane zuständig seien, bleibe unklar,
wer letztlich die Verantwortung für eine bestimmte Entscheidung trage.
So gewichtig diese These auch sein mag, sie ist nicht ohne
Gegenargument.
Eine klare Trennung der staatlichen Gewalten und der Verantwortung für
politische Entscheidungen würde in einem modernen Industrie- und
Sozialstaat zu einem solchen Machtübergewicht der Regierungen führen,
dass der Kerngedanke Montesquieus — die gegenseitige Hemmung der
Gewalten nämlich — verschüttet würde. Außerdem unterscheidet der Wähler,
dem es in erster Linie möglich sein muss, die Verantwortung für
politische Entscheidungen zuzuordnen, in einem parlamentarischen
Regierungesystem und in einem modernen Parteienstaat nicht zwischen
Parlament und Regierung, sondern richtigerweise zwischen
Regierungsmehrheit und Regierung auf der einen und der Opposition auf
der anderen Seite. Bei vielen wichtigen Entscheidungen werden dem Wähler
klare Alternativen geboten. Regierungsmehrheit und Regierung stehen zum
Beispiel hinter einer Steuerreform, die Oppositionsparteien lehnen sie
ab. Die Verantwortung für diese Reform kann der Wähler eindeutig
zuordnen und er kann — wenn ihn die Haltung derjenigen Partei, die er
bisher bevorzugt hat, nicht überzeugt — gegebenenfalls bei der nächsten
Wahl Konsequenzen ziehen.
Die Zuordnung der Verantwortung ist interessanterweise in dem stärker
von gewaltenteilenden Elementen geprägten präsidentiellen
Regierungssystem der Vereinigten Staaten deutlich schwieriger. Das
präsidentielle Regierungssystem selbst ist eine wesentliche Ursache
dafür, dass die Abgeordneten des amerikanischen Kongresses meist quer
über die Fraktionsgrenzen abstimmen. Die einzelnen politischen
Entscheidungen werden von unterschiedlich zusammengesetzten Mehrheiten
getragen. Im Parteiensystem der Vereinigten Staaten kann der Wähler
nicht die Demokraten oder die Republikaner für bestimmte Entscheidungen
verantwortlich machen. Er kann sich bei seiner Wahlentscheidung nur
danach richten, wie der jeweilige Abgeordnete seines Wahlkreises sich in
bestimmten wichtigen Entscheidungen verhalten hat. Es ist deshalb nicht
verwunderlich, dass die Diskussion um Reformen, die eine klarere
Zuordnung politischer Verantwortung ermöglichen, seit den fünfziger
Jahren in den Vereinigten Staaten nicht mehr abreißt. |
wichtige Funktion der Parteien |
Regierung plus Parlamentsmehrheit contra Opposition
Das parlamentarische Regierungssystem tastet zwar rein formal die
Eigenständigkeit des Parlamentes nicht an. Aber die dem
Gewaltenteilungsdenken zugrundeliegende Vorstellung, dass ein
eigenständiges Parlament als Ganzes einer von ihm unabhängigen Regierung
gegenüberstünde, gerät zur Fiktion. Die politische Grenzlinie verläuft
in erster Linie nicht mehr zwischen dem Parlament auf der einen und der
Regierung auf der anderen Seite, die entscheidende Trennungslinie liegt
in einem parlamentarischen System zwischen der Regierungs-
beziehungsweise Parlamentsmehrheit und der Regierung auf der einen sowie
der Opposition auf der anderen Seite. Die Regierungsmehrheit, die heute
einen Regierungschef wählt, kann morgen nicht so tun, als ob sie mit
dessen Person und Regierung nichts verbinde. Durch eine Verweigerung der
Zusammenarbeit mit dem von ihr gestellten Regierungschef würde sie sich
selbst einen Fehler bescheinigen — nämlich denjenigen, den falschen
(...) gewählt zu haben. Die Brücke, über die Parlamentsmehrheit und
Regierung im heutigen parlamentarischen Regierungssystem verbunden sind,
bilden die Parteien. Jedoch muss dies nicht unbedingt bedeuten, dass
Regierung und Parlamentsmehrheit eine absolute Einheit darstellen. Die
unterschiedliche Intensität der Beziehungen zwischen diesen beiden
Organen hängt in erster Linie ab von der Anzahl der Parteien, die zur
Bildung einer Regierung notwendig sind: |
Einparteien-, Zweiparteien- und Mehrparteien-regierungen |
Regierungsmehrheit
Die häufig beschworene Einheit von Regierung und Regierungsmehrheit
kommt am ehesten dann zustande, wenn nur eine Partei die Regierung
stellt. Das ist definitionsgemäß in Zweiparteiensystemen der Fall, kann
aber in Ausnahmefällen auch in Mehrparteiensystemen vorkommen (...).
Auch wenn nur eine Partei die Regierung stellt, wird es unterschiedliche
Auffassungen zwischen der Regierungspartei oder Teilen der
Regierungspartei und der Regierung geben. Sie werden zwar versuchen,
ihre Differenzen vor der Öffentlichkeit zu verbergen, aber
Streitigkeiten werden nicht ausbleiben. Die Regierung kann zwar darauf
setzen, dass sie in der Regierungsmehrheit eine treue Gefolgschaft hat,
aber sie darf diese Treue nicht allzu sehr strapazieren, will sie keine
Palastrevolutionen heraufbeschwören.
Keine Einheit von Regierung und Regierungsmehrheit, aber eine relativ
gute Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten ist dann zu erwarten, wenn
zwar mehrere Parteien für eine Regierungsbildung nötig sind, jedoch vor
der Wahl klar ist, welche Parteien im Falle eines Wahlsieges bereit
sind, zusammen eine Regierung zu bilden. Durch diese Festlegung vor der
Wahl binden sich die Parteien selbst gegenüber ihren Wählern. Es ist für
sie mit erheblichen Gefahren verbunden, wenn sie während der
Legislaturperiode von diesem Versprechen abrucken (...).
Ein Vielparteiensystem, bei dem vor der Wahl nicht klar ist, wer mit wem
eine Regierung bildet, kann noch am ehesten dazu führen, dass Parlament
und Regierung sich gemäß den klassischen Vorstellungen gegenüberstehen.
Es liegt in der Logik einer Situation, in der mehr als drei Parteien zur
Regierungsbildung notwendig sind, dass sich die einzelnen Parteien vor
der Wahl bestenfalls vage festlegen, um nicht von vorneherein eine
Regierungsbildung unmöglich zu machen. In solchen Systemen — die IV.
Republik Frankreichs oder Italien nach dem Zweiten Weltkrieg liefern
Beispiele — bildet der Regierungssturz den Normalfall. Je eher in einem
parlamentarischen Regierungssystem das Parlament noch als Gegenüber der
Regierung betrachtet werden kann, desto instabiler ist gewöhnlich das
System.
[Emil Hübner; aus: Bundeszentrale für politische Bildung:
Parlamentarische Demokratie 1, Informationen zur politischen Bildung Nr.
227, 1993] |
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Lexikonartikel: "Gewaltenteilung"; aus: Andersen,
Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der
Bundesrepublik Deutschland. 5., aktual. Aufl. Opladen: Leske+Budrich
2003. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2003.
Eberhard Schütt-Wetschky: Gewaltenteilung zwischen Legislative und
Exekutive?; aus: Aus Politik und Zeitgeschichte 28/2000.
Peter Lösche: Merkmale der Präsidialdemokratie; aus: Informationen
zur politischen Bildung, Heft 283: Politisches System der USA, Bonn
2008. |
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Staats:
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