Inhaltsverzeichnis
Online-Lehrbuch Demokratie:
Einleitung
Was ist Demokratie?
Entwicklung
Staat
Wahlen
Parlament
Regierung
Opposition
Gewaltenteilung
Rechtsstaat
Gesellschaft
Probleme |
Kernelemente eines demokratischen Staats:
Wahlen
[Autor: Dr. Ragnar Müller,
Mail an den Autor]
Eine Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass alle Staatsgewalt
vom Volk ausgeht. Das Volk bestimmt. Das klingt einfach, aber wie sieht
es in der Praxis aus? Erinnern wir uns an das Beispiel im Abschnitt "Was
ist Demokratie?", an die Familie, die über das Fernsehprogramm zu
entscheiden hat. Wenn wir von Wahlen reden, entspricht das in unserem
Beispiel dem Verfahren, mit dem die Familie festlegt, wer die
Fernbedienung bekommt und welches Fernsehprogramm eingeschaltet wird.
Notwendig ist das deshalb, weil es in einer Bevölkerung ähnlich wie in
unserer Familie verschiedene Interessen gibt. In der Regel haben nicht
alle die gleiche Meinung. Dann ist es nötig, einen Weg zu finden, den
Interessenkonflikt gewaltfrei zu lösen.
Ein solches Verfahren ist die Demokratie mit regelmäßigen Wahlen und
Mehrheitsentscheidungen. Die gewählten Vertreter treffen Entscheidungen,
die für alle gelten, auch für die in der Wahl oder Abstimmung
unterlegene Minderheit. Sie suchen also sozusagen das Fernsehprogramm
aus, das dann alle anschauen (müssen). Eine wichtige Besonderheit der
Demokratie ist nun, dass jeder eine Batterie für die Fernbedienung
besitzt. In der Realität entspricht eine Batterie der Stimme, die man
bei einer Wahl abgeben kann.
Mit der Stimmabgabe für einen Kandidaten und/oder eine Partei
entscheidet man sich gleichzeitig für das Programm, das der Kandidat
oder die Partei im Staat durchsetzten möchte. Damit drückt jeder Wähler
mit seiner Stimmabgabe seine Meinung zum zukünftigen Programm des
Staates aus. Damit derjenige, der gewählt wird, sein Programm auch
wirklich durchführen kann, vergibt man mit seiner Stimme die Batterie.
Der Gewählte erhält die Erlaubnis und die Möglichkeit, den Staat für
eine bestimmte Zeit zu regieren. Diese Herrschaft wurde durch die
Übergabe der Batterien, durch die Wahl vom Volk legitimiert. Das ist
gemeint, wenn es heißt, dass in einer Demokratie alle Staatsgewalt vom
Volk ausgeht. |
Wahlrecht |
Wahlen sind das Herzstück der Demokratie. Was sind die wichtigsten
Aspekte demokratischer Wahlen? Wie die Wahl im einzelnen funktioniert
und wie die Stimmen in Parlamentssitze umgerechnet werden, schreibt das
Wahlrecht eines Staates vor. Es ist in jedem Land anders ausgestaltet
und hat erheblichen Einfluss auf die Struktur der Regierung und des
Parteiensystems. Allen Ländern ist jedoch gemeinsam, dass Herrschaft
immer nur Herrschaft auf Zeit sein kann. Daher müssen regelmäßig in
einem bestimmten Zeitabstand Wahlen erfolgen. Das Volk muss die
Regierung auf friedlichem Weg abwählen können, wenn es nicht mit ihr
zufrieden ist. Der Text "Wahlrecht und Demokratie"
weiter unten auf der Seite beschäftigt sich mit dem Wahlrecht und
seinen Folgen, insbesondere mit den Unterschieden zwischen Mehrheits-
und Verhältniswahl. |
Bedingungen für demokratische Wahlen:
- allgemein
- gleich
- geheim
- frei |
Zu beachten ist auch, dass nicht jede Wahl demokratisch ist. Für Wahlen
in einem demokratischen System gibt es nämlich so etwas wie
Gütekriterien, die eingehalten werden müssen, um eine demokratische Wahl
zu garantieren. Auch in Diktaturen und totalitären Systemen wurden und
werden Wahlen durchgeführt. Allerdings entsprechen sie nicht den
Kriterien, die eine demokratische Wahl erfüllen muss. Welche Bedingungen
muss eine Wahl erfüllen, damit sie "demokratisch" genannt werden kann?
Zunächst muss es sich um eine wirkliche "Wahl" handeln, das heißt, die
Wählerin muss zwischen Alternativen auswählen können. Zusätzlich zu
diesem inhaltlichen Kriterium müssen folgende eher formale Bedingungen
erfüllt sein: Demokratische Wahlen müssen allgemein, gleich, geheim und
frei sein.
-
allgemein: Diese Bedingung
bedeutet, dass grundsätzlich alle Bürger eines Staates ab einem
bestimmten Alter das gleiche Stimmrecht besitzen und sich zur Wahl
stellen können. Dabei spielen Rasse, Geschlecht, Sprache, Einkommen
oder Besitz, Beruf, Stand oder Klasse, Bildung, Religion und
politische Überzeugung keine Rolle.
-
gleich: Bei einem gleichen
Wahlrecht hat jede Stimme das gleiche Gewicht. Das schließt zum
Beispiel aus, dass die Stimme eines Wählers mit einem hohen
Einkommen mehr zählt als die Stimme eines Wählers, der ein
niedrigeres Einkommen hat. Die Bedeutung von allgemeinem und
gleichem Wahlrecht kann auch in einem Satz ausgedrückt werden:
one man, one vote, one value.
-
geheim: Bei einer geheimen Wahl
kann der Wähler seine Stimme abgeben, ohne dass eine andere Person
feststellen kann, was er oder sie gewählt hat. Das ist besonders
wichtig, damit niemand wegen seiner Wahl unter Druck gesetzt werden
kann.
-
frei: Beim freien Wahlrecht
kann jeder Bürger selbst entscheiden, ob er sein Recht zu wählen
wahrnimmt und was er wählt. Dadurch soll ebenfalls verhindert
werden, dass auf den Wähler Druck ausgeübt wird.
|
Wählen heißt Mitbestimmen |
Wer nicht zur Wahl geht, verzichtet darauf, über seine eigene Zukunft
mitzubestimmen. Er muss die Entscheidung der wählenden Bevölkerung
akzeptieren. Damit erklärt er sich selbst für unmündig. Wer etwas an
seiner Situation in der Gesellschaft ändern will, muss seine Wahl
treffen und sogar noch mehr. Wenn die eigene Meinung mehrheitsfähig
werden soll, wenn sie bei der Wahl gewinnen soll, ist es notwendig,
aktiv zu werden und diese Meinung zu vertreten. Denn jede Bürgerin kann
nicht nur bei der Auswahl der Abgeordneten ihre Meinung einbringen,
sondern auch in vielen weiteren Bereichen des täglichen Lebens. Der für
eine lebendige Demokratie nötige mündige Bürger nimmt diese
Gelegenheiten wahr. |
Mehrheits- und Verhältniswahlrecht |
Der folgende Textauszug von
Waldemar Besson und Gotthard Jasper beleuchtet die beiden
grundsätzlichen Varianten des Wahlrechts, nennt die jeweiligen Vor- und
Nachteile und beschäftigt sich mit den Folgen, die das Wahlrecht für das
politische System mit sich bringt:
Wahlrecht und Demokratie
Bei der praktischen Durchführung
von Wahlen haben sich zwei grundlegend verschiedene Systeme,
Mehrheitswahl und Verhältniswahl, herausgebildet. Selten werden diese
jedoch rein angewandt, häufig (...) mischt man sie. Die politische
Struktur eines Landes und der Prozess der politischen Willensbildung
können entscheidend durch die Ausgestaltung des Wahlrechtes beeinflusst
werden, da sowohl die innerparteiliche Ordnung wie auch das Verhältnis
der Parteien zueinander und die Beziehungen von Regierung und Parlament
vom Wahlrecht abhängig sind. Andererseits gilt auch, dass bestimmte
politische Traditionen, historische Situationen und gesellschaftliche
Bedingungen nur bestimmte Wahlsysteme zulassen. Man kann nicht jedes
Wahlsystem in einem Land beliebig einführen. Wer am Wahlrecht
manipuliert, ohne die konkret gegebene politische und soziale Struktur
zu berücksichtigen, riskiert, dass die Wahlen ihre Hauptfunktion
verlieren; wenn das Wahlrecht nicht von der Bevölkerung akzeptiert und
als gerecht anerkannt wird, wird auch die Herrschaft derjenigen, die von
der Mehrheit gewählt sind, von der Minderheit nicht mehr als rechtmäßig
anerkannt und hingenommen. |
Vorteile des Verhältniswahlrechts
Nachteile des Verhältniswahlrechts |
Verhältniswahl: Vor- und
Nachteile
Wie sehr politischer Stil und
politische Struktur eines Gemeinwesens von der Ausgestaltung des
Wahlrechts beeinflusst werden, zeigt eine kurze Betrachtung der
hauptsächlichen Unterschiede. Die Verhältniswahl beruht auf dem Prinzip,
dass die Sitze im Parlament genau in dem gleichen Verhältnis verteilt
werden, wie die Stimmen der Wähler sich auf die Parteien im ganzen
Wahlgebiet verteilt haben. Erringt eine Partei zehn Prozent der Stimmen,
erhält sie auch zehn Prozent der Mandate. Das Parlament wird so zu einer
politischen Fotografie der Meinungsströmungen in der Wählerschaft. Jede
Minderheit und jede politisch-programmatische Richtung ist vertreten und
kann im Parlament ihre Stimme zu Gehör bringen. Auch erlaubt das
Verhältniswahlrecht relativ leicht, neue Parteien erfolgreich zu
gründen, weil es für ihre Vertretung schon genügt, wenn sie in allen
Wahlkreisen nur einige Stimmen gewinnen, da diese dann, im Gesamtgebiet
zusammengerechnet, doch vielleicht ein Prozent ausmachen und so der
neuen Partei einige Abgeordnetensitze im Parlament verschaffen. Der
Anreiz, neue Parteien zu bilden, bringt ohne Zweifel ein belebendes
Element mit sich, begünstigt freilich auch das Entstehen von
Splitterparteien und eng begrenzten Interessengruppen. Dem
Verhältniswahlrecht entspricht deshalb oft ein in viele Fraktionen
zergliedertes Parlament, aus dem labile Koalitionsregierungen
hervorgehen mit all ihren bekannten Führungsschwächen und Krisen.
Der Wähler kann mit seiner Stimme
die Regierungsbildung kaum beeinflussen, weil sich die Parteien in der
Regel im Wahlkampf nicht auf eine bestimmte Koalition festlegen. Da
zudem Erfolge der Regierung jeder Koalitionspartner bei sich verbucht,
Misserfolge jedoch dem Partner zuschiebt, wird es dem Wähler schwer
gemacht, im Positiven wie im Negativen die Verantwortlichen zu erkennen.
Die Parlamentskandidaten werden beim Verhältniswahlrecht von den Landes-
oder Bezirksparteitagen und nicht von den lokalen Parteigremien
aufgestellt, was im Zweifelsfall den Parteivorständen stärkere
Einwirkungsmöglichkeiten gibt. Der Wähler hat dann nicht einen einzelnen
Kandidaten zu wählen, sondern seine Stimme der Liste der einzelnen
Parteien, auf der deren Kandidaten in bestimmter Reihenfolge
aufgezeichnet sind, zu geben. Das bedeutet, dass der einzelne Wähler
nicht einen bestimmten Wahlkreisabgeordneten hat, erlaubt aber den
Parteien, bei der Aufstellung der Liste alle wesentlichen Gruppen der
Partei und der angesprochenen Wählerschichten zu berücksichtigen. Das
wiederum ermöglicht den Interessenverbänden über die Zusage, die Partei
zu unterstützen, ihre Leute auf die Kandidatenliste zu bringen. |
Vorteile des Mehrheitswahlrechts |
Mehrheitswahl: Vor- und
Nachteile
Im Gegensatz zur Verhältniswahl
wird bei Mehrheitswahl das gesamte Wahlgebiet in so viele Wahlkreise
aufgeteilt, wie Sitze im Parlament zu vergeben sind. Als gewählt gilt,
wer in den einzelnen Wahlkreisen entweder die absolute oder die relative
Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt hat. Das gelingt in der Regel
nur den Bewerbern, die sich auf große oder regional verankerte Parteien
stützen können. Diese wiederum müssen es vermeiden, bloß einzelne
Interessen zu vertreten. Sie müssen für möglichst große und viele
Gruppen der Bevölkerung attraktiv erscheinen, damit überhaupt eine
Mehrheit entstehen kann. Das Mehrheitswahlrecht zwingt darum in der
Regel die Parteien, in ihrem Programm und praktischen Verhalten sich zu
mäßigen und die Extreme zu meiden.
Historisch gesehen hängen
Mehrheitswahl und Zweiparteiensystem aufs engste zusammen. Das
Mehrheitswahlrecht kann zwar ein Zweiparteiensystem nicht erzeugen,
vermag es aber zu erhalten und zu sichern. Der Wähler entscheidet unter
solchen Bedingungen in der Wahl zwischen zwei verschiedenen
Regierungsprogrammen und Regierungsmannschaften. Die Parlamentswahl
bekommt die Tendenz, zur Regierungswahl zu werden. Die siegreiche
Regierungsmannschaft kann sich dann in der Regel auf eine stabile
parlamentarische Mehrheit ihrer Partei stützen. Dem Wähler wiederum wird
es dadurch leicht gemacht, bei der nächsten Wahl die Regierung zur
Verantwortung zu ziehen, weil bei klaren Mehrheitsverhältnissen der
politische Erfolg oder Misserfolg eindeutig festgelegt werden kann und
etwaige Rückschläge sich nicht auf die Koalitionspartner abschieben
lassen. Der Einfluss des Wählers auf die Regierungsbildung und die
mögliche Führungskraft einer auf die absolute Mehrheit gestützten
Regierung sind die Vorzüge eines durch das Mehrheitswahlrecht
stabilisierten Zweiparteiensystems. Außerdem schafft das
Mehrheitswahlrecht eine relativ enge Verzahnung zwischen Parlament und
Wahlkreis, verankert die Abgeordneten gewissermaßen in einem bestimmten
Gebiet und verhindert so eine allzu weite Distanz zwischen Wähler und
Gewähltem. Zugleich gewinnt bei der Kandidatenaufstellung die untere
lokale Parteiorganisation einen größeren Einfluss, was im Sinne der
inneren Demokratisierung der Parteien durchaus erwünscht ist. |
Nachteile des Mehrheitswahlrechts
|
Dennoch dürfen die Nachteile der Mehrheitswahl nicht übersehen werden.
Aufstellung der Kandidaten nur aus dem Blickwinkel lokaler Interessen
bedeutet häufig, dass bestimmte Minderheiten oder Gruppen der
Bevölkerung praktisch nicht vertreten werden. So ist es zum Beispiel für
Frauen angesichts der bestehenden Umstände auch heute noch leichter,
über die Liste einer Partei in das Parlament einzuziehen als einen
Wahlkreis direkt zu erobern.
Da außerdem in einem Wahlkreis
jeweils nur die Stimmen für den erfolgreichen Kandidaten zum Zuge
kommen, bleiben erhebliche Wählergruppen im Parlament unvertreten. Oft
verschafft das Mehrheitswahlrecht einer knappen Mehrheit der
Wählerschaft eine überstarke Repräsentanz im Parlament. Es hat in
England Zeiten gegeben, in denen die Konservativen bei einem
Stimmenanteil von 38,2 Prozent im Parlament über 56 Prozent der Sitze
verfügten. Zum Teil liegt das an der Einteilung der Wahlkreise, die kaum
gleich groß zu halten sind und außerdem so geschnitten werden können,
dass dadurch eine Partei begünstigt oder benachteiligt wird. Solche
"Wahlkreisgeometrie" eröffnet ein weites Feld für Manipulationen.
Überdies lässt das Mehrheitswahlrecht Minderheiten, wenn sie nicht lokal
sehr massiert, d.h. in einigen Wahlkreisen in der Mehrheit sind, keine
parlamentarische Vertretung zukommen. Die Entstehung neuer Parteien ist
praktisch unmöglich. Und auch die Stabilität der Regierung mit absoluter
Mehrheit ist dann in Frage gestellt, wenn das Rennen der Parteien "Kopf
an Kopf" beendet wurde.
Funktionierendes Mehrheitswahlrecht
setzt darum voraus, dass die beiden Parteien sich nach allen Seiten
offen halten und nicht in prinzipieller Opposition gegeneinander stehen.
Sonst würde ein Wechsel zwischen den Parteien zugleich eine
Totalumwälzung des Gemeinwesens bedeuten. Ferner verlangt das durch ein
Mehrheitswahlrecht stabilisierte Zweiparteiensystem einen starken
Konsensus in der Bevölkerung. Das Gefühl, gemeinsam in einem Boot zu
sitzen, und die Bereitschaft, den Vertreter der gegnerischen Partei
nicht als Feind zu betrachten, sondern zu tolerieren, muss weit
verbreitet sein. In einem Volk, das sozial zerstritten und in den
Grundfragen des politischen Zusammenlebens uneinig ist, würde das
Mehrheitswahlrecht deshalb nicht selten zu negativen Effekten führen,
weil ein Machtwechsel wegen der Starrheit der Fronten nicht möglich wäre
und große Minderheiten unvertreten blieben, Nicht Mäßigung, sondern
Radikalisierung und Polarisierung wäre die Folge. In einem solchen Fall
wird man eher versuchen müssen, das Verhältniswahlrecht zu modifizieren
(...). |
Fazit |
Es fällt schwer, vom Prinzip her zu
entscheiden, welches Wahlsystem nun das eigentlich demokratische ist. Je
nach den historischen Traditionen, dem existierenden Parteiensystem und
den sozialen Verhältnissen in einer Gesellschaft wird man für dieses
oder jenes System plädieren müssen. Auch für diesen Baustein der
Demokratie gibt es also kein allgemein gültiges Rezept, sondern durchaus
unterschiedliche Formen, in denen Demokratie verwirklicht werden kann
und deren Angemessenheit sich danach bemisst, ob sie ein Maximum an
politischer Beteiligung der Wähler bei gleichzeitiger
Regierungsfähigkeit der Gewählten gewährleisten.
[aus: Waldemar Besson/Gotthard
Jasper, Das Leitbild der modernen Demokratie. Bauelemente einer
freiheitlichen Staatsordnung, Bonn 1990] |
Wahlen und Volkssouveränität
siehe Identitätstheorie,
Demokratie in der Antike |
Ein weiterer Textauszug von Waldemar Besson und Gotthard
Jasper widmet sich der Frage, wie Wahlen und Volkssouveränität
zusammenhängen. Inwiefern kann Demokratie unter den Bedingungen
moderner, pluralistischer Gesellschaften Volksherrschaft sein? Dabei
werden unter anderem auch die oben bereits erwähnten Bedingungen für
demokratische Wahlen in den Blick genommen:
Demokratie als Volksherrschaft? Die Lehre von der Volkssouveränität
Fragt man nach den einzelnen Elementen, aus denen ein demokratisches
Gemeinwesen aufgebaut ist, dann stößt man auf den Satz, dass Demokratie
Herrschaft des Volkes sei. Nichts anderes besagt die Übersetzung des
griechischen Wortes "demokratia". In jeder demokratischen Verfassung
findet sich denn auch in dieser oder jener Form die Aussage, dass alle
Staatsgewalt vom Volk ausgehe und dass das Volk der letzte Träger aller
Souveränität sei. Demokratisch legitimiert ist demnach die Staatsgewalt
nur dann, wenn sie sich vom freien Willen und der Zustimmung des Volkes
getragen weiß.
Die Lehre von der Volkssouveränität löste die traditionelle Vorstellung
ab, nach der dem König oder Fürsten kraft seiner Abstammung aus einer
von Gott begnadeten Dynastie die Herrschaft zustehe. Staatliche
Autorität war im dynastischen Gottesgnadentum also nicht von der
Gesellschaft her begründet, sondern durch Herkommen, Überlieferung und
religiöse Vorstellung geheiligt, von mythischen Kräften getragen und
nach Prinzipien gestaltet, die dem Zugriff der Bürger entzogen waren. In
dieser grundsätzlichen Trennung von Herrscher und Beherrschten liegt der
Kern des Gegensatzes von Demokratie und Monarchie. Die Demokratie sieht
im Staate nicht eine von übernatürlichen Kräften eingesetzte und also
hinzunehmende obrigkeitliche Herrschaft, sondern erkennt ihn als
Ausfluss des Willens aller beteiligten Individuen zur Lösung der
gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben. In diesem Sinne sind Form und
Inhalt des Staates den Bürgern nicht vorgegeben, sondern aufgegeben.
Ihrer aller Kompetenz zu dieser Aufgabe, von deren Lösung alle ebenfalls
betroffen sind, drückt sich im Gedanken der Volkssouveränität aus.
(...) Dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, bedeutet freilich nicht,
dass das Volk auch regiert und bei allen Einzelheiten der politischen
Entscheidungen mitwirkt, selbst wenn das in der formalen Konsequenz des
demokratischen Gedankens läge. Nur auf diese Weise ließe es sich ja
verwirklichen, dass der Bürger allein seinen eigenen Gesetzen und
Befehlen gehorchen müsste und insofern wirklich frei bliebe. Aber diese
Identität der Regierenden und Regierten hat es im strengen Sinne des
Wortes nie wirklich gegeben, obwohl die historischen Frühformen der
Demokratie im antiken Griechenland an Modellen einer "direkten
Demokratie" orientiert waren und noch Rousseau nur diese als Demokratie
gelten lassen wollte. |
Repräsentativsystem |
Volkssouveränität durch Wahl
(...) Wenn so aus äußeren und inneren Gründen die Regierung des Volkes
durch das Volk in unserer Zeit eine Unmöglichkeit ist, dann bleibt als
Konkretisierung der Volkssouveränität vor allem die Wahl von
Vertretungskörperschaffen oder Repräsentanten, die dann die Regierung
nach dem Willen des Volkes und mit seiner Zustimmung verantwortlich
führen. Die Entscheidung der detaillierten Sachfragen wird gewählten
Vertretern überlassen; der Wähler hat nur zwischen den ihm von den
Parteien präsentierten Kandidaten zu entscheiden und diejenigen
auszuwählen, von denen er in der Regel aufgrund ihrer
Parteizugehörigkeit glaubt, dass sie die Politik im Sinne seiner
Überzeugung und Interessen führen werden. |
demokratische Wahlen:
- Periodizität
- Auswahlmöglichkeit
- Allgemeinheit
- Gleichheit
demokratische Wahlen als erfolgreiches Mittel zur friedlichen
Konfliktlösung |
Bedingungen für eine demokratische Wahl
Wer freilich durch den Akt der Wahl dem Willen des Volkes Geltung
verschaffen und so die Wahl zum entscheidenden Instrument einer
Konkretisierung der Volkssouveränität machen will, muss gewisse
unabdingbare Forderungen stellen. Es wird nur dann gelingen, die
Gewählten an den Willen ihrer Wähler zu binden, wenn sie in periodischen
Abständen gezwungen werden, sich erneut zur Wahl zu stellen, um sich die
Zustimmung der Wähler für ihre bisherige Arbeit und einen Auftrag zur
Fortsetzung zu holen. Nur dadurch sind die Gewählten gehalten, die
Überzeugungen und Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler zu
respektieren. Ferner muss das Wahlvolk auch wirklich auswählen können.
Die Wahl muss ihm verschiedene sachliche oder persönliche Alternativen
bieten. Einheitslisten sind ein Symptom der Diktatur.
(...) Ein Regierungssystem, das allen Bürgerinnen und Bürgern in
gleicher Weise die Chance zu verantwortlicher Mitbestimmung bei der
Lösung der öffentlichen Aufgaben gewährleisten soll, muss neben der
Periodizität und der echten Auswahlmöglichkeit auch die Allgemeinheit
der Wahl sicherstellen. Zwingend folgt aus dem Gebot der Gleichheit,
dass das Stimmrecht grundsätzlich allen Bürgern zusteht. Niemand darf
etwa wegen seiner Rasse, seiner Religion, seines Bildungsstandes oder
seiner Besitz- und Einkommensverhältnisse vom Wahlrecht ausgeschlossen
werden. Lediglich einige formale Zulassungsbedingungen, wie etwa das
Erreichen eines bestimmten Lebensalters, die von allen Staatsbürgern
ohne Diskriminierung einzelner oder einzelner Gruppen leicht erfüllt und
allgemein akzeptiert werden können, sind ohne Verletzung der
demokratischen Prinzipien möglich. Eng verknüpft mit dem Prinzip der
Allgemeinheit ist das Prinzip der Gleichheit der Wahl.
(...) In einer offenen und pluralistisch gegliederten Gesellschaft mit
ihrem ständig fluktuierenden Gegeneinander und Nebeneinander prinzipiell
gleichberechtigter Gruppen ist zudem das allgemeine und gleiche
Wahlrecht das einzig denkbare Verfahren zur Bestellung von
Vertretungskörperschaften und zur Besetzung der staatlichen
Führungsspitzen in einer Weise, die von allen Gruppen akzeptiert werden
kann. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht hat sich durchgesetzt, nicht
weil mit seiner Hilfe die "beste" Regierung ins Amt käme, sondern weil
es sich als die relativ beste und praktikabelste Methode zur Sicherung
des sozialen Friedens bewährt hat. Sie gewährt jedem Anteil an der
Regierungsbestellung und lässt der unterlegenen Minderheit prinzipiell
die Chance, später selbst zur regierenden Mehrheit zu werden. In einer
durch vielfache Interessen- und Überzeugungskonflikte gespaltenen
Gesellschaft schuf diese Wahl die Möglichkeit, die Konflikte auf
gewaltlosem Weg auszutragen und trotz innerer Spannungen eine
entscheidungsfähige Regierung zu ermöglichen, deren Führung von allen
Gruppen hingenommen werden kann. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht
ist eines der erfolgreichsten Verfahren, um eine politische Gemeinschaft
innerlich zu einigen und handlungsfähig zu machen.
Um demokratischen Ansprüchen zu genügen, bedarf dieses allgemeine und
gleiche Wahlrecht jedoch noch zusätzlicher Sicherungen. Jeder Zwang auf
den Wähler, seine Stimme in einer bestimmten Richtung abzugeben, muss
ausgeschaltet werden. Das heißt nicht, dass die politische Propaganda
und Beeinflussung verboten sei. Es soll nur die tatsächliche
Entscheidungsfreiheit des Wählers gesichert werden. Das ist der Sinn der
geheimen Abstimmung. Solange diese garantiert ist, solange unbekannt
bleibt, wie der einzelne gewählt hat, kann ihm auch wegen der Art seiner
Abstimmung kein Nachteil zugefügt werden. |
demokratische Legitimation
Minderheit muss die Chance haben, zur Mehrheit werden zu können |
Nur wenn alle diese Voraussetzungen erfüllt sind, die sinngemäß auch für
das passive Wahlrecht gelten — auch das Recht und die Chance, politische
Wahlämter zu übernehmen, muss jedem offenstehen —, kann man von einer
demokratischen Wahl sprechen. Diese allein kann ein Parlament befähigen,
im Namen des Volkes zu handeln. Nur diejenige Regierung, die sich auf
freie Wahlen dieser Art stützen kann, übt eine demokratisch legitimierte
Macht aus.
(...) In der modernen Politik ist oft vom Willen des Volkes die Rede,
ohne dass allerdings klar ist, was darunter denn eigentlich zu verstehen
sei. Rousseau hatte geglaubt, einen einheitlichen Volkswillen
konstruieren zu können; dieser sollte identisch sein mit dem Gemeinwohl.
Freilich war auch er schon gezwungen, in der politischen Theorie den
Willen der Mehrheit mit dem Gemeinwillen gleichzusetzen und die
abweichende Minderheit zu unterdrücken, da sie den falschen Willen habe.
Nach unseren Erwägungen über den Charakter der pluralistischen
Gesellschaft wird unmittelbar einleuchten, dass es einen einheitlichen
Volkswillen in der Wirklichkeit ebensowenig gibt wie eine einheitliche
Weltanschauung. Was sich als Wille des Volkes durchsetzt, ist immer der
Wille der stärkeren Kräfte in ihm. Wir sind nicht mehr so optimistisch
wie Rousseau, den Willen der Mehrheit einfach mit dem Allgemeinwohl zu
identifizieren. Wir sind zu oft darüber belehrt worden, dass auch
Mehrheiten irren können. Deshalb ist ein Regierungssystem erforderlich,
das die Minderheit nicht unterdrückt, sondern respektiert, aber dennoch
den Mehrheitswillen befolgt, weil dieser dem Selbstbestimmungsrecht des
einzelnen unter den Notwendigkeiten eines gemeinsamen Lebens am
weitesten entgegenkommt.
Weil politisches Handeln immer in eine offene Zukunft hinein geschieht,
bleibt es stets von Unsicherheit belastet, ein Wagnis, das nie exakt in
allen Konsequenzen vorausberechnet werden kann. Wer kann, abgesehen von
extremen Fällen, mit absoluter Gewissheit sagen, diese oder jene
Handlung fromme dem Allgemeinwohl besser als eine andere? Wer kann das
Gemeinwohl endgültig definieren, wenn er nicht weiß, wie die Geschichte
weitergeht? Weil wir die Zukunft nicht kennen, müssen über die
Grundfragen des Politischen alle befragt werden, und deswegen bleibt in
einer demokratischen Gesellschaft nur die Orientierung am Willen der
Mehrheit unter Rücksichtnahme auf die unterlegene Minderheit, der die
Chance, Mehrheit zu werden, offenbleiben muss. |
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Das Mehrheitsprinzip
Wie die Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht ist auch das
Mehrheitsprinzip die einzig mögliche Konsequenz aus dem demokratischen
Menschenbild, das von einem mündigen Menschen in einer freien Welt
ausgeht und zugleich von den unaufhebbaren Meinungs- und
Interessenkonflikten unter den Menschen weiß. Die Anerkennung des
Mehrheitsprinzips bedeutet nicht, dass der verantwortliche Politiker nur
jeder populären Massenmeinung nachzulaufen habe. Aber grundsätzlich
gilt, dass das Prinzip der Volkssouveränität nur durch das Prinzip der
Mehrheit als Basis des politischen Handelns konkretisiert werden kann.
Die moderne Demokratie ist deshalb nicht die Selbstregierung des Volkes.
Sie kann heute lediglich als die Regierung von Vertretern des Volkes
realisiert werden, die aus allgemeinen, freien, gleichen und geheimen
Wahlen hervorgegangen sind, vom Volk durch die periodische Wiederkehr
solcher Wahlen zur Verantwortung gezogen werden können und die
Regierungsgeschäfte nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit der
politisch-gesellschaftlichen Kräfte einer Nation führen.
[aus: Waldemar Besson/Gotthard Jasper, Das Leitbild der modernen
Demokratie. Bauelemente einer freiheitlichen Staatsordnung, Bonn 1990] |
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Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der
Bundesrepublik Deutschland. 5., aktual. Aufl. Opladen: Leske+Budrich
2003. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2003.
Wahlen; aus: Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5.
überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn: Bundeszentrale für
politische Bildung 2009, S. 54-55.
Dossier: Bundestagswahlen.
Zahlen und Fakten: Wahlen in Deutschland.
Medien und Wahlkampf - Aus Politik und Zeitgeschichte 15-16/2002.
Wolfgang Hartenstein: Fünf Jahrzehnte Wahlen in der Bundesrepublik:
Stabilität und Wandel; aus: Aus Politik und Zeitgeschichte 21/2002.
Stefan Marschall: Wahlen, Wähler, Wahl-O-Mat; aus: Aus Politik und
Zeitgeschichte 4/2011. |
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