Internationaler UNESCO Bildungsserver für Demokratie-, Friedens- und Menschenrechtserziehung
 
  D@dalos Startseite Deutsche Startseite Grafische Übersicht Kontakt  
 

 

Themen:

Menschenrechte / Vorbilder / Demokratie / Parteien / EU / UNO / Nachhaltigkeit / Globalisierung / neu: Web 2.0

     

 

Methoden:

Politikdidaktik / Methoden der politischen Bildung / Friedenspädagogik        ///         Fragen, Kritik, Kommentare?

 
 

 Sie sind hier:

D@dalos > Deutsche Startseite > Europäische Union > EU-Entwicklung > Einführung

 



Inhaltsverzeichnis


Themen des Online-Lehrbuchs zur EU:

Einleitung

Bedeutung der EU

Was ist die EU?

EU-Entwicklung

 Einführung

 Etappe 1

 Etappe 2

 Etappe 3

 Etappe 4

 Etappe 5

 Etappe 6

EU-Institutionen

EU-Internetrecherche

 


EU-Entwicklung

Einführung: Überblick, Analyseraster und Zusammenfassung der Erkenntnisse

Warum beginnen wir den Durchgang durch die Geschichte der europäischen Integration nicht gleich mit der ersten Etappe? Wir haben uns für diese, auf den ersten Blick vielleicht etwas ungewöhnliche Vorgehensweise - Einführung, Analyseraster und Zusammenfassung gleich zu Beginn zu präsentieren - entschieden, weil sie eine ganze Reihe von Vorteilen bietet:

  • Wer sich nur für die analytischen Aspekte des Umgangs mit der EU-Entwicklung interessiert, findet einen komprimierten, abgeschlossenen Teil, der direkt an den Abschnitt "Was ist die EU?" anschließt.

  • Das Analyseraster am Anfang erleichtert denjenigen, die anschließend einzelne oder alle Etappen durchgehen wollen, die Orientierung, weil sie hilft, die Fülle von Fakten verstehend zu ordnen.

  • Es ermöglicht darüber hinaus, gezielt einzelne Etappen oder Ereignisse als Fallbeispiele für die Demonstration wichtiger Zusammenhänge auszuwählen.


 

Das Analyseraster spiegelt die Essenz unserer Erkenntnisse aus einer mehr als 30-jährigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gegenstand EU und gleichzeitig die grundlegenden Einsichten der integrationstheoretischen Diskussion wider. Wer sich für diese spannende Theoriediskussion interessiert, dem steht mit dem Buch von Bieling/Lerch, Theorien der europäischen Integration (Informationen zum Buch bei Amazon), ein guter Überblick zur Verfügung.

Der vorliegende Text gliedert sich in drei Teile. Zunächst sollen die wesentlichen Fragen, die sich bei der Analyse der EU-Entwicklung stellen – die zentralen wissenschaftlichen Rätsel –, erläutert werden. Anschließend möchten wir Ihnen die entscheidenden Determinanten des Integrationsprozesses vorstellen und dann in einem dritten Schritt anhand von Beispielen zeigen, wie dieses Analyseraster genutzt werden und welche Einsichten eine frageorientierte Beschäftigung mit der EU-Entwicklung erbringen kann.






Warum ist ein neuartiger Typus politischer Organisation entstanden?



Die wissenschaftlichen Rätsel


Ein erstes Rätsel, das es zu lösen gilt, ist, wie es bereits 1951 mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zur Entstehung einer neuartigen Form politischer Organisation kommen konnte, die es in der Geschichte so noch nie gegeben hatte. Dieses „System sui generis“ zeichnet sich dadurch aus, dass es Merkmale internationaler Politik – die Zusammenarbeit von Nationalstaaten – mit denen eines politischen Systems – das verbindliche Regeln für die Bürgerinnen innerhalb seiner Landesgrenzen erlässt – verbindet. Eine wesentliche Voraussetzung für sein Entstehen bildet die freiwillige Bereitschaft der beteiligten Nationalstaaten, auf Teile ihrer Souveränität zu verzichten.

Diese Befugnisse gehen dabei allerdings nicht einfach verloren. Sie werden nun vielmehr von den neu geschaffenen Organen oberhalb der Ebene der Nationalstaaten wahrgenommen. Die Mitgliedstaaten sind in einem Teil dieser Organe vertreten und bleiben damit auch weiterhin – nun allerdings zusammen mit anderen und unter Beachtung gemeinsam erstellter neuer Spielregeln - an der Ausübung dieser Kompetenzen beteiligt. Diese grundsätzliche Konstruktion findet sich bereits bei der EGKS und ist bis heute die gleiche geblieben.



Warum ist diese Konstruktion auf immer mehr Bereiche ausgedehnt worden?



Das zweite Rätsel ist, warum sich der mit der EGKS eingeleitete Prozess der Integration immer mehr ausweitete, obwohl die unmittelbare Kriegserfahrung als Motiv immer mehr verblasste. Das gilt sowohl für die Zahl der teilnehmenden Staaten als auch für die einbezogenen Politikfelder. Im Teil zum Lissaboner Vertrag zeigen wir Ihnen, dass davon heute fast kein Bereich mehr ausgenommen ist.

Das Bild hat sich also über rund 60 Jahre hinweg dramatisch verändert und stellt sich heute so dar, wie die folgende Grafik zeigt. Aus der kleinen Lücke in der „Außenhaut“ der Mitgliedstaaten ist eine Öffnung so groß wie ein Scheunentor geworden. Die Zahl der beteiligten Länder hat sich von ursprünglich 6 auf 27 mehr als vervierfacht, und die nächsten Kandidaten stehen in Gestalt Islands, Kroatiens, der Länder des Westlichen Balkans und der Türkei bereits vor der Tür.



Wechsel von Krise und Fortschritt?


Komplexität der Regelungen für die EU-Zusammenarbeit ?



Diese Entwicklung hat sich allerdings nicht kontinuierlich vollzogen; lange Zeiten der Krise und Stagnation wechselten sich mit Perioden ab, in denen erstaunliche Fortschritte erzielt werden konnten – was zu unserer dritten Frage nach den Ursachen dafür führt.


Das Resultat dieser Entwicklung, die Regelungen für die Ausgestaltung der Zusammenarbeit, wie sie aktuell in Form des Lissaboner Vertrags vorliegen, zeichnet sich durch ein enormes Maß an Komplexität aus. Selbst der kreativste Verfassungsrechtler wäre wohl nicht in der Lage, eine derartige Konstruktion am Reißbrett zu entwerfen. Auch hier stellt sich – und damit sind wir bei unserem vierten Rätsel – die Frage, wie es dazu kommt. Dies umso mehr, als diese Komplexität sowohl die praktische Arbeit in der EU als auch die Vermittlung dieser Arbeit gegenüber den Bürgern ungemein erschwert.






Determinanten auf drei Ebenen



Determinanten der EU-Entwicklung


Die Faktoren, die die EU-Entwicklung über mehr als sechs Jahrzehnte geprägt haben, sind auf drei Ebenen zu verorten: Der mitgliedstaatlichen und der internationalen Ebene, die beide von Anfang an vorhanden waren, sowie der supranationalen Ebene, die erstmals mit der Gründung der EGKS in rudimentärer Form in Erscheinung tritt und erst nach und nach immer mehr an Bedeutung und Komplexität gewinnt. Diese Ebenen möchten wir Ihnen nun vorstellen, wobei zu betonen ist, dass sich diese Übersicht auf wenige zentrale Determinanten beschränkt und keine Vollständigkeit beanspruchen will. Dennoch ergibt sich daraus ein Raster, das ein hilfreiches Instrument zur Analyse und Bewertung der Entwicklung des Integrationsprozesses darstellt.



Determinanten auf der nationalen Ebene


Was die nationale Ebene angeht, so stellen grundlegende nationale Interessen und Strukturen einen ersten zentralen Bestimmungsfaktor dar. Zu diesen Interessen gehören vor allem der Wunsch nach möglichst großem Einfluss auf Entscheidungen sowie das Anliegen nach einer angemessenen Berücksichtigung wesentlicher ökonomischer Belange oder außenpolitischer Grundorientierungen des eigenen Landes.

Zu den wesentlichen Strukturen zählt beispielsweise, ob es sich um einen Zentralstaat handelt oder um eine föderative Ordnung, ob neben Regierung und Parlament weitere wichtige Akteure mit Einfluss auf die EU-Politik vorhanden sind (wie in Deutschland etwa das Bundesverfassungsgericht) sowie ob und inwieweit bei Vertragsveränderungen die Bürgerinnen über Referenden direkt beteiligt werden müssen.

Außerdem spielen die Einstellungen der Bürger zur europäischen Integration eine wichtige Rolle. Man denke beispielsweise an die außerordentlich EU-skeptischen Briten oder Dänen, die das Verhalten ihrer Regierungen in wichtigen europapolitischen Fragen immer wieder massiv geprägt haben. Das verweist auch schon auf den letzten Punkt, der hier als Einflussfaktor genannt werden soll, nämlich die aus unterschiedlichen nationalen Interessen, Strukturen sowie Einstellungen der Bevölkerung resultierenden Handlungsspielräume für die Regierungen.



Determinanten auf der internationalen Ebene


Die Determinanten auf der internationalen Ebene sollen mit einem einzigen Begriff - externe Herausforderungen - zusammengefasst werden. Beispiele dafür bilden unter anderem die direkte Nachkriegssituation, geprägt durch das Erleben eines schrecklichen Krieges, die Anfang der 1980er Jahre als bedrohlich empfundene Gefahr, ökonomisch hinter Japan und die USA zurückzufallen, oder das Ende des Kalten Kriegs.



Determinanten auf der supranationalen Ebene






reich - arm


Einen zentralen Einflussfaktor auf der supranationalen Ebene stellt die Homogenität bzw. Heterogenität der Mitgliedstaaten dar. Ein Blick auf sechs Jahrzehnte EU-Entwicklung zeigt, dass die folgenden Dimensionen oder Konfliktlinien eine zentrale Rolle spielen, wobei einige davon von Beginn an wirksam waren, andere erst später hinzugekommen sind oder an Bedeutung gewonnen haben.


Konfliktlinien zwischen den Mitgliedstaaten

Da ist zum ersten die Konfliktlinie zwischen reichen und armen Ländern. Diese Trennungslinie ist schon seit Mitte der 1980er Jahre ein wichtiger Faktor. Die Konflikte verliefen dabei zwischen wohlhabenden Mitgliedstaaten, wie etwa Deutschland, und ärmeren Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien, die von den Struktur– und Kohäsionsfonds der EU profitieren. Diese Konfliktlinie ist aber mit der Erweiterung sehr viel bedeutsamer geworden. So haben die 2004 hinzugekommenen Staaten zusammen im Durchschnitt ein Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung aufzuweisen, das kaum die Hälfte des Durchschnitts der EU-15 ausmacht!

Insgesamt gesehen muss man deswegen die EU in drei Staatengruppen einteilen: einer Spitzengruppe, zu der die Mehrheit der EU-15 gehört, einer mittleren Gruppe mit den ärmsten Ländern der EU-15 (Griechenland, Portugal, Spanien) und den wohlhabendsten Beitrittsstaaten (Zypern, Slowenien, Malta, Tschechien, Ungarn) und schließlich der dritten Gruppe der ärmsten, zu denen unter anderem Bulgarien und Rumänien zu zählen sind. Hier gibt es nicht nur Konflikte zwischen der Gruppe 1 auf der einen, den Gruppen 2 und 3 auf der anderen Seite. Vielmehr gibt es heftige Auseinandersetzungen zwischen Gruppe 2 und 3, wenn es etwa darum geht, die Mechanismen und Kriterien für die Zuteilung von Finanzhilfen festzulegen.



groß - klein


Die Konfliktlinie „große versus kleine Staaten“ kommt insbesondere bei institutionellen Themen zum Tragen. Sie rührt von der ständig wachsenden Zahl an kleinen Ländern her, die ein ohnehin bereits auf die überproportionale Berücksichtigung der kleinen Staaten ausgerichtetes Entscheidungssystem immer weiter aus dem Gleichgewicht gebracht hat.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sich die kleinen Staaten darum bemüht haben, unbedingt einen ständigen Sitz in der Kommission zu bewahren - was Irland mit dem zweiten Referendum zum Lissaboner Vertrag durchsetzen konnte - und der Kommission eine zentrale Rolle im Entscheidungsprozess zukommen zu lassen. Die großen ihrerseits haben sich für ein größeres Stimmengewicht im Rat und eine stärkere Konzentration exekutiver Befugnisse auf den Europäischen Rat stark gemacht.

Auch diese Trennungslinie ist durch die Osterweiterung 2004/07 gleichermaßen verstärkt wie verkompliziert worden. Bei den zwölf neuen Mitgliedstaaten handelt es sich nämlich überwiegend um kleine oder sogar kleinste Länder. Die Auswirkungen haben sich bereits bei den Diskussionen über die Verfassung gezeigt, bei denen sich die neuen Mitgliedstaaten in institutionellen Fragen in den meisten Fällen auf die Seite der kleinen (EU-15) Staaten schlugen, und sie haben auch die Auseinandersetzungen über den Lissaboner Vertrag geprägt.



supranational - intergouvernemental


Die Konfliktlinie supranational versus intergouvernemental, also zwischen denjenigen Staaten, die eine stärker supranationale, in Richtung Bundesstaat weisende Zusammenarbeit in der EU anstreben, und denjenigen, deren Vorstellungen in Richtung möglichst weitgehender Bewahrung nationaler Souveränität und von daher eher zwischenstaatlicher Kooperation weisen, sind so alt wie der Integrationsprozess selbst.

Nachdem bereits vorhergehende Beitrittsrunden, wie beispielsweise die Norderweiterung 1973 (mit dem Vereinigten Königreich und Dänemark) oder die EFTA-Erweiterung 1995 (mit Schweden), die Zahl der Befürworter einer weniger weitgehenden Zusammenarbeit hat anwachsen lassen, wird dieser Trend durch die Osterweiterung 2004/07 noch deutlich verstärkt. Denn viele der neuen Mitgliedstaaten sind stark auf ihre nationale Souveränität bedacht, was angesichts ihrer Geschichte kaum überraschen kann. Das Verhalten Polens oder Tschechiens in den Diskussionen und Abstimmungen über den Lissaboner Vertrag illustriert dies mit großem Nachdruck.



Europäer - Atlantiker


Auch beim Konflikt Europäer versus Atlantiker handelt es sich um eine Konfliktlinie, die so alt ist wie die Gemeinschaft selbst. Sie verläuft zwischen denjenigen, die der Auffassung sind, die EU müsse eine eigenständige, von den USA unabhängige Außen– und Verteidigungspolitik aufbauen, und Staaten - wie etwa ganz ausgeprägt Großbritannien -, die eine enge Zusammenarbeit mit den USA und den von ihr dominierten Institutionen (NATO) für unverzichtbar halten. Dass und in welcher Form die Osterweiterung hier Auswirkungen haben wird, hat der Irakkrieg, in dem sich die meisten mittel- und osteuropäischen Länder auf die Seite der USA geschlagen haben und nicht für den Anti-Kriegskurs Deutschlands, Frankreichs und anderer EU-Staaten zu gewinnen waren, in aller Deutlichkeit gezeigt.



alt - neu


Offensichtlich und in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen ist schließlich die Konfliktlinie zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten. Sie trennt diejenigen, die bereits mit den besonderen Institutionen, „Spielregeln“ und den Kompromissfindungsprozessen à la EU vertraut sind, von Ländern, die diese noch lernen und gleichsam internalisieren müssen. Als Beispiel mag das Verhalten Polens im Rahmen der Diskussionen zum Lissaboner Vertrag dienen.





spillover



Funktionale Zwänge

Als weitere Variable auf der supranationalen Ebene sind die funktionalen Zwänge – wir Politikwissenschaftler nennen das "functional spillover" – zu nennen, die sich aus der Vergemeinschaftung bestimmter Politikbereiche ergeben. Machen wir uns das anhand von zwei Beispielen klar. Mit der Einrichtung des Binnenmarkts ("EUROPA 1992"), der ja auch offene Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten einschließt, hat sich ein Zwang ergeben, auch in Fragen der inneren Sicherheit zusammenzuarbeiten, die ja dann auch im Maastrichter Vertrag als dritte Säule erstmals in die EU einbezogen wurde.

Einen zweiten anschaulichen Fall stellt die Herausbildung einer gemeinsamen EU-Umweltpolitik dar. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre begannen einzelne Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund des gewachsenen umweltpolitischen Bewusstseins entsprechende Maßnahmen – beispielsweise Grenzwerte für den Ausstoß von Abgasen – einzuführen. Diese aber stellten im Gemeinsamen Markt Handelshemmnisse dar. Daraus erwuchs ein zunehmender Druck, sich auf der EG-Ebene mit diesem Problem zu beschäftigen, was zunächst zu einer Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten auf diesem Feld, im weiteren Verlauf zu einer gemeinsamen EG-Umweltpolitik führte.

 



Zunahme des Integrationsbestandes (acquis communautaire)

Die immer weitere Ausdehnung der Felder, auf denen zusammengearbeitet wurde – der so genannte acquis – brachte immer mehr derartige funktionale Zwänge hervor und stellt deshalb schon an sich einen wichtigen Einflussfaktor dar. Er wirkt sich beispielsweise auf so wichtige Bereiche wie die Erweiterungspolitik aus, indem er Erweiterungen immer schwieriger macht, weil ja die Kandidatenländer einen immer umfangreicheren Integrationsbestand übernehmen müssen.


Aktivitäten der supranationalen Organe

Schließlich sind die Aktivitäten der supranationalen Organe als zentrale Determinante zu erwähnen. Dazu gehören beispielsweise bahnbrechende Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) oder das geschickte Ausnutzen der oben angesprochenen funktionalen Zwänge zum Vorantreiben weiterer Vergemeinschaftung durch die Kommission.













Determinanten der EU-Entwicklung im Überblick



Analyseraster

Nimmt man diese Faktoren zusammen und fügt sie in ein Schaubild ein, so steht ein Instrument zur Verfügung, das genutzt werden kann, um bestimmte Etappen der EU-Entwicklung zu analysieren. Das Raster kann dazu beitragen, die Resultate, beispielsweise das Zustandekommen des Binnenmarktprojekts oder den Lissaboner Vertrag, verständlich zu machen.






Determinanten Mitte der 1980er Jahre



Anwendung des Analyserasters: Binnenmarkt und EEA

Sehen wir uns zunächst einmal die Situation vor EEA und Binnenmarkt an. Hier ist offensichtlich, dass im Hinblick auf unsere Bestimmungsfaktoren eine außerordentlich günstige Situation vorhanden war.

Die externen Herausforderungen (internationale Ebene), vor allem die Befürchtung, dass die EG technologisch gegenüber den USA und Japan den Anschluss verlieren könnte, wenn sie nicht konsequent alle Vorteile eines wirklich gemeinsamen Binnenmarkts nutzte, erwiesen sich als wesentliche Antriebskraft (+).

Die grundlegenden Interessen der Mitgliedstaaten (nationale Ebene) waren sich diesbezüglich sehr nah; das Projekt versprach ökonomischen Fortschritt – es handelte sich also um keine in den Bevölkerungen möglicherweise als sensibel empfundene Frage der nationalen Souveränität, was in der Summe erhebliche Handlungsspielräume für die Regierungen eröffnete (+).

Die Kommission unter Delors (supranationale Ebene) nutzte diese Konstellation sehr geschickt, um das Projekt aktiv voranzutreiben. Die Homogenität der Mitgliedstaaten war im Vergleich zu heute noch recht hoch (+); dennoch spielten bereits einige der Konfliktlinien eine Rolle. Einmal die Konfliktlinie supranational versus intergouvernemental bei der Diskussion der Frage, ob den Binnenmarkt betreffende Entscheidungen einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden sollten – wogegen sich Großbritannien lange, aber letztlich erfolglos gewehrt hatte.

Mit dem Beitritt Griechenlands 1981 sowie Portugals und Spaniens 1986, also während der Diskussionen um den Binnenmarkt, gewann aber schlagartig auch die Konfliktlinie "reich versus arm" an Bedeutung und führte unter anderem dazu, dass die Regionalpolitik – als Ausgleich und Ergänzung zum Binnenmarktprojekt für die ärmeren Länder – mit der EEA eingeführt wurde. Die ebenfalls im Rahmen dieser ersten großen Vertragsrevision erfolgte Aufnahme der Umweltpolitik als neues EG-Politikfeld dagegen ist den funktionalen Zwängen geschuldet (+).

Fasst man das eben Gesagte im Rahmen des Analyserasters zusammen, so ergibt sich folgendes Bild.






Was ist erklärungsbedürftig?



Anwendung des Analyserasters: Lissabonner Vertrag

Beim Lissaboner Vertrag erweisen sich vor allem zwei Aspekte als in hohem Maße erklärungsbedürftig. Einmal die Tatsache, dass diese Vertragsreform so viel Zeit in Anspruch genommen hat – und noch nimmt, denn einige der wichtigsten Veränderungen werden erst 2014 bzw. endgültig 2017 in Kraft treten! Wenn man bedenkt, dass den Ausgangspunkt für diesen Prozess der hochgradig defizitäre Vertrag von Nizza darstellt, so hat dieser Prozess der Anpassung und Vertragsänderung nahezu 10 Jahre in Anspruch genommen. Ein eklatanter Unterschied zur EEA.

Erklärungsbedürftig ist aber auch die Komplexität und Widersprüchlichkeit der neuen Regelungen. Da wurde beispielsweise mit der Aufnahme des Europäischen Rats in den Kreis der offiziellen EU-Institutionen und mit der Einrichtung eines Ständigen Präsidenten des Rats die intergouvernementale, mit der deutlichen Aufwertung der Rolle des Europäischen Parlaments sowie der Einbindung der ehemaligen dritten Säule in die für Gemeinschaftspolitiken üblichen Verfahren gleichzeitig aber auch die supranationale Komponente gestärkt.

Erklärungsversuch mit Hilfe des Analyserasters

Zieht man das Analyseraster heran, dann gewinnen diese Befunde schnell an Plausibilität. So sind zwar die externen Herausforderungen (internationale Ebene) noch stärker geworden. Die – 2004 erfüllten – Erwartungen der mittel- und osteuropäischen Länder hinsichtlich einer Aufnahme in die Union sowie die ungeduldig vor der Tür stehenden Kandidatenländer des Westlichen Balkans und die Türkei übten und üben einen immensen Druck auf die EU aus, ihren institutionellen Rahmen anzupassen, um sich Handlungsfähigkeit zu bewahren (+ +).

Gleichzeitig sind, gerade auch nach der Osterweiterung 2004/07, die Voraussetzungen dafür in den einzelnen Mitgliedstaaten (nationale Ebene) immer schlechter geworden. Die verfassungsmäßigen Ordnungen der neu hinzugekommenen Länder setzen in einigen Fällen – aus historisch gesehen nachvollziehbaren Gründen – der Abgabe von Souveränitätsrechten deutliche Grenzen.

Die Ansprüche der EU-Bürger, bei wichtigen Entscheidungen der Union mitwirken zu wollen, haben massiv zu-, das Vertrauen in die Union dagegen hat in dramatischer Weise abgenommen. Damit sind den Handlungsspielräumen der nationalen Regierungen, und damit ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zu Kompromissen auf der EU-Ebene, sehr enge Grenzen gesetzt; so eng, dass man dafür wohl zwei Minuszeichen vergeben muss (- -).

Fast noch negativer fällt ein Blick auf die Determinanten der supranationalen Ebene aus. Hier ist das nach der Osterweiterung nie dagewesene Ausmaß an Heterogenität zwischen den Mitgliedstaaten hinsichtlich aller Dimensionen zu nennen (- -). Die Aktivitäten der supranationalen Organe konnten, da es sich beim Lissaboner Vertrag primär um grundsätzliche institutionelle und nicht, wie beim Binnenmarkt, auch um inhaltliche Fragen handelt, bei den Diskussionen lange keine so einflussreiche Rolle spielen.

Funktionale Zwänge sind zwar, nicht zuletzt auch verbunden mit der Zunahme des acquis, vorhanden, können ihre Wirkung aber nur noch innerhalb der durch die eben angesprochenen Faktoren eng gesetzten Grenzen entfalten (+). Fassen wir diese Erkenntnisse wieder in unserem Analyseraster zusammen, ergibt sich folgendes Bild.




Leitfrage nach Determinanten der EU-Entwicklung



Wendet man die Erkenntnisse auf unsere Leitfragen an, so lässt sich kurz zusammengefasst folgendes sagen: Der extrem hohe Problemdruck insbesondere durch externe Herausforderungen (++) sowie unterstützende Elemente auf der supranationalen Ebene (+) erklären, warum über ein Jahrzehnt hinweg versucht wurde, die Spielregeln anzupassen.

Die anderen Faktoren (- & --) lassen verstehen, warum es so lange gedauert hat, zu einer Lösung zu kommen. Und sie erklären auch, warum diese "Lösung", der Lissaboner Vertrag, so widersprüchlich und unzureichend ist. Das wiederum wird über kurz oder lang dazu führen, dass erneut über Anpassungen des institutionellen Rahmens nachgedacht werden muss (Leitfrage "Warum verändert sich das System ständig?").

Damit sind wir am Ende dieser Einführung in den Abschnitt zur EU-Entwicklungh angekommen. Wir hoffen, es ist uns gelungen, Ihr Interesse für die EU-Entwicklung zu gewinnen und das grundlegende Verständnis zu vermitteln, das Sie benötigen, um sinnvoll analytisch mit diesem Gegenstand umgehen zu können.

... weiter zu Etappe 1 der EU-Entwicklung


[© Text und Grafiken: Gesellschaft Agora]
 

 

Nach oben

D@dalos Startseite

Deutsche Startseite

Grafische Übersicht

Kontakt

© 1998-2011 D@dalos - politische Bildung, Demokratieerziehung, Menschenrechtsbildung, Friedenspädagogik (ein Projekt von Pharos e.V.), Web: Gesellschaft Agora