Inhaltsverzeichnis
Themen des
Online-Lehrbuchs zur EU:
Einleitung
Bedeutung der EU
Was ist die EU?
EU-Entwicklung
Einführung
Etappe
1
Etappe
2
Etappe
3
Etappe
4
Etappe
5
Etappe
6
EU-Institutionen
EU-Internetrecherche
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EU-Entwicklung
Einführung:
Überblick, Analyseraster und Zusammenfassung der Erkenntnisse
Warum beginnen wir den Durchgang durch die Geschichte der
europäischen Integration nicht gleich mit der ersten Etappe? Wir
haben uns für diese, auf den ersten Blick vielleicht etwas
ungewöhnliche Vorgehensweise - Einführung, Analyseraster und
Zusammenfassung gleich zu Beginn zu präsentieren - entschieden, weil
sie eine ganze Reihe von Vorteilen bietet:
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Wer sich nur für die analytischen Aspekte des Umgangs mit der
EU-Entwicklung interessiert, findet einen komprimierten,
abgeschlossenen Teil, der direkt an den
Abschnitt "Was ist die EU?" anschließt.
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Das Analyseraster am Anfang erleichtert denjenigen, die anschließend
einzelne oder alle Etappen durchgehen wollen, die Orientierung, weil
sie hilft, die Fülle von Fakten verstehend zu ordnen.
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Es ermöglicht darüber hinaus, gezielt einzelne Etappen oder
Ereignisse als Fallbeispiele für die Demonstration wichtiger
Zusammenhänge auszuwählen.
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Das Analyseraster spiegelt die Essenz
unserer Erkenntnisse aus einer mehr als 30-jährigen wissenschaftlichen
Beschäftigung mit dem Gegenstand EU und gleichzeitig die grundlegenden
Einsichten der integrationstheoretischen Diskussion wider. Wer sich für
diese spannende Theoriediskussion interessiert, dem steht mit dem Buch
von Bieling/Lerch, Theorien der europäischen Integration (Informationen
zum Buch bei Amazon),
ein guter Überblick zur Verfügung.
Der vorliegende Text gliedert sich in drei Teile. Zunächst sollen die
wesentlichen Fragen, die sich bei der Analyse der EU-Entwicklung stellen
– die zentralen wissenschaftlichen Rätsel –, erläutert
werden. Anschließend möchten wir Ihnen die entscheidenden Determinanten
des Integrationsprozesses vorstellen und dann in einem dritten Schritt
anhand von Beispielen zeigen, wie dieses Analyseraster genutzt werden
und welche Einsichten eine frageorientierte Beschäftigung mit der
EU-Entwicklung erbringen kann. |
Warum ist ein neuartiger
Typus politischer Organisation entstanden? |
Die wissenschaftlichen Rätsel
Ein erstes Rätsel, das es zu lösen
gilt, ist, wie es bereits 1951 mit der Europäischen Gemeinschaft für
Kohle und Stahl (EGKS) zur Entstehung einer neuartigen Form politischer
Organisation kommen konnte, die es in der Geschichte so noch nie gegeben
hatte. Dieses „System sui generis“ zeichnet sich dadurch aus,
dass es Merkmale internationaler Politik – die Zusammenarbeit von
Nationalstaaten – mit denen eines politischen Systems – das verbindliche
Regeln für die Bürgerinnen innerhalb seiner Landesgrenzen erlässt –
verbindet. Eine wesentliche Voraussetzung für sein Entstehen bildet die
freiwillige Bereitschaft der beteiligten Nationalstaaten, auf Teile
ihrer Souveränität zu verzichten.
Diese Befugnisse gehen dabei allerdings nicht einfach verloren. Sie
werden nun vielmehr von den neu geschaffenen Organen oberhalb der Ebene
der Nationalstaaten wahrgenommen. Die Mitgliedstaaten sind in einem Teil
dieser Organe vertreten und bleiben damit auch weiterhin – nun
allerdings zusammen mit anderen und unter Beachtung gemeinsam erstellter
neuer Spielregeln - an der Ausübung dieser Kompetenzen beteiligt. Diese
grundsätzliche Konstruktion findet sich bereits bei der EGKS und ist bis
heute die gleiche geblieben.
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Warum ist diese Konstruktion auf immer mehr Bereiche ausgedehnt worden? |
Das zweite Rätsel ist, warum sich der mit der EGKS eingeleitete Prozess
der Integration immer mehr ausweitete, obwohl die unmittelbare
Kriegserfahrung als Motiv immer mehr verblasste. Das gilt sowohl für die
Zahl der teilnehmenden Staaten als auch für die einbezogenen
Politikfelder. Im Teil zum Lissaboner Vertrag
zeigen wir Ihnen, dass davon heute fast kein Bereich mehr ausgenommen
ist.
Das Bild hat sich also über rund 60 Jahre hinweg dramatisch verändert
und stellt sich heute so dar, wie die folgende Grafik zeigt. Aus der
kleinen Lücke in der „Außenhaut“ der Mitgliedstaaten ist eine Öffnung so
groß wie ein Scheunentor geworden. Die Zahl der beteiligten Länder hat
sich von ursprünglich 6 auf 27 mehr als vervierfacht, und die nächsten
Kandidaten stehen in Gestalt Islands, Kroatiens, der Länder des
Westlichen Balkans und der Türkei bereits vor der Tür.
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Wechsel von Krise und Fortschritt?
Komplexität der Regelungen für die EU-Zusammenarbeit ? |
Diese Entwicklung hat sich allerdings nicht kontinuierlich vollzogen;
lange Zeiten der Krise und Stagnation wechselten sich mit Perioden ab,
in denen erstaunliche Fortschritte erzielt werden konnten – was zu
unserer dritten Frage nach den Ursachen dafür führt.
Das Resultat dieser Entwicklung, die Regelungen für die Ausgestaltung
der Zusammenarbeit, wie sie aktuell in Form des Lissaboner Vertrags
vorliegen, zeichnet sich durch ein enormes Maß an Komplexität aus.
Selbst der kreativste Verfassungsrechtler wäre wohl nicht in der Lage,
eine derartige Konstruktion am Reißbrett zu entwerfen. Auch hier stellt
sich – und damit sind wir bei unserem vierten Rätsel – die Frage, wie es
dazu kommt. Dies umso mehr, als diese Komplexität sowohl die praktische
Arbeit in der EU als auch die Vermittlung dieser Arbeit gegenüber den
Bürgern ungemein erschwert. |
Determinanten auf drei Ebenen |
Determinanten der EU-Entwicklung
Die Faktoren, die die EU-Entwicklung über mehr als sechs Jahrzehnte
geprägt haben, sind auf drei Ebenen zu verorten: Der mitgliedstaatlichen
und der internationalen Ebene, die beide von Anfang an vorhanden waren,
sowie der supranationalen Ebene, die erstmals mit der Gründung der EGKS
in rudimentärer Form in Erscheinung tritt und erst nach und nach immer
mehr an Bedeutung und Komplexität gewinnt. Diese Ebenen möchten wir
Ihnen nun vorstellen, wobei zu betonen ist, dass sich diese Übersicht
auf wenige zentrale Determinanten beschränkt und keine Vollständigkeit
beanspruchen will. Dennoch ergibt sich daraus ein Raster, das ein
hilfreiches Instrument zur Analyse und Bewertung der Entwicklung des
Integrationsprozesses darstellt. |
Determinanten auf der nationalen Ebene |
Was die nationale Ebene angeht, so stellen grundlegende nationale
Interessen und Strukturen einen ersten zentralen Bestimmungsfaktor dar.
Zu diesen Interessen gehören vor allem der Wunsch nach möglichst großem
Einfluss auf Entscheidungen sowie das Anliegen nach einer angemessenen
Berücksichtigung wesentlicher ökonomischer Belange oder außenpolitischer
Grundorientierungen des eigenen Landes.
Zu den wesentlichen Strukturen zählt beispielsweise, ob es sich um einen
Zentralstaat handelt oder um eine föderative Ordnung, ob neben Regierung
und Parlament weitere wichtige Akteure mit Einfluss auf die EU-Politik
vorhanden sind (wie in Deutschland etwa das Bundesverfassungsgericht)
sowie ob und inwieweit bei Vertragsveränderungen die Bürgerinnen über
Referenden direkt beteiligt werden müssen.
Außerdem spielen die Einstellungen der Bürger zur europäischen
Integration eine wichtige Rolle. Man denke beispielsweise an die
außerordentlich EU-skeptischen Briten oder Dänen, die das Verhalten
ihrer Regierungen in wichtigen europapolitischen Fragen immer wieder
massiv geprägt haben. Das verweist auch schon auf den letzten Punkt, der
hier als Einflussfaktor genannt werden soll, nämlich die aus
unterschiedlichen nationalen Interessen, Strukturen sowie Einstellungen
der Bevölkerung resultierenden Handlungsspielräume für die Regierungen. |
Determinanten auf der internationalen Ebene |
Die Determinanten auf der internationalen Ebene sollen mit einem
einzigen Begriff - externe Herausforderungen - zusammengefasst werden.
Beispiele dafür bilden unter anderem die direkte Nachkriegssituation,
geprägt durch das Erleben eines schrecklichen Krieges, die Anfang der
1980er Jahre als bedrohlich empfundene Gefahr, ökonomisch hinter Japan
und die USA zurückzufallen, oder das Ende des Kalten Kriegs. |
Determinanten auf der supranationalen Ebene
reich - arm |
Einen zentralen Einflussfaktor auf der supranationalen Ebene
stellt die Homogenität bzw. Heterogenität der Mitgliedstaaten
dar. Ein Blick auf sechs Jahrzehnte EU-Entwicklung zeigt, dass die
folgenden Dimensionen oder Konfliktlinien eine zentrale Rolle spielen,
wobei einige davon von Beginn an wirksam waren, andere erst später
hinzugekommen sind oder an Bedeutung gewonnen haben.
Konfliktlinien zwischen den
Mitgliedstaaten
Da ist zum ersten die Konfliktlinie zwischen reichen und armen
Ländern. Diese Trennungslinie ist schon seit Mitte der 1980er Jahre
ein wichtiger Faktor. Die Konflikte verliefen dabei zwischen
wohlhabenden Mitgliedstaaten, wie etwa Deutschland, und ärmeren Ländern
wie Griechenland, Portugal oder Spanien, die von den Struktur– und
Kohäsionsfonds der EU profitieren. Diese Konfliktlinie ist aber mit der
Erweiterung sehr viel bedeutsamer geworden. So haben die 2004
hinzugekommenen Staaten zusammen im Durchschnitt ein Bruttosozialprodukt
pro Kopf der Bevölkerung aufzuweisen, das kaum die Hälfte des
Durchschnitts der EU-15 ausmacht!
Insgesamt gesehen muss man deswegen die EU in drei Staatengruppen
einteilen: einer Spitzengruppe, zu der die Mehrheit der EU-15 gehört,
einer mittleren Gruppe mit den ärmsten Ländern der EU-15 (Griechenland,
Portugal, Spanien) und den wohlhabendsten Beitrittsstaaten (Zypern,
Slowenien, Malta, Tschechien, Ungarn) und schließlich der dritten Gruppe
der ärmsten, zu denen unter anderem Bulgarien und Rumänien zu zählen
sind. Hier gibt es nicht nur Konflikte zwischen der Gruppe 1 auf der
einen, den Gruppen 2 und 3 auf der anderen Seite. Vielmehr gibt es
heftige Auseinandersetzungen zwischen Gruppe 2 und 3, wenn es etwa darum
geht, die Mechanismen und Kriterien für die Zuteilung von Finanzhilfen
festzulegen. |
groß - klein |
Die Konfliktlinie „große versus kleine Staaten“ kommt
insbesondere bei institutionellen Themen zum Tragen. Sie rührt von der
ständig wachsenden Zahl an kleinen Ländern her, die ein ohnehin bereits
auf die überproportionale Berücksichtigung der kleinen Staaten
ausgerichtetes Entscheidungssystem immer weiter aus dem Gleichgewicht
gebracht hat.
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sich die kleinen Staaten darum
bemüht haben, unbedingt einen ständigen Sitz in der Kommission zu
bewahren - was Irland mit dem zweiten Referendum zum Lissaboner Vertrag
durchsetzen konnte - und der Kommission eine zentrale Rolle im
Entscheidungsprozess zukommen zu lassen. Die großen ihrerseits haben
sich für ein größeres Stimmengewicht im Rat und eine stärkere
Konzentration exekutiver Befugnisse auf den Europäischen Rat stark
gemacht.
Auch diese Trennungslinie ist durch die Osterweiterung 2004/07
gleichermaßen verstärkt wie verkompliziert worden. Bei den zwölf neuen
Mitgliedstaaten handelt es sich nämlich überwiegend um kleine oder sogar
kleinste Länder. Die Auswirkungen haben sich bereits bei den
Diskussionen über die Verfassung gezeigt, bei denen sich die neuen
Mitgliedstaaten in institutionellen Fragen in den meisten Fällen auf die
Seite der kleinen (EU-15) Staaten schlugen, und sie haben auch die
Auseinandersetzungen über den Lissaboner Vertrag geprägt. |
supranational - intergouvernemental |
Die Konfliktlinie supranational versus intergouvernemental, also
zwischen denjenigen Staaten, die eine stärker supranationale, in
Richtung Bundesstaat weisende Zusammenarbeit in der EU anstreben, und
denjenigen, deren Vorstellungen in Richtung möglichst weitgehender
Bewahrung nationaler Souveränität und von daher eher zwischenstaatlicher
Kooperation weisen, sind so alt wie der Integrationsprozess selbst.
Nachdem bereits vorhergehende Beitrittsrunden, wie beispielsweise die
Norderweiterung 1973 (mit dem Vereinigten Königreich und Dänemark) oder
die EFTA-Erweiterung 1995 (mit Schweden), die Zahl der Befürworter einer
weniger weitgehenden Zusammenarbeit hat anwachsen lassen, wird dieser
Trend durch die Osterweiterung 2004/07 noch deutlich verstärkt. Denn
viele der neuen Mitgliedstaaten sind stark auf ihre nationale
Souveränität bedacht, was angesichts ihrer Geschichte kaum überraschen
kann. Das Verhalten Polens oder Tschechiens in den Diskussionen und
Abstimmungen über den Lissaboner Vertrag illustriert dies mit großem
Nachdruck. |
Europäer - Atlantiker |
Auch beim Konflikt Europäer versus Atlantiker handelt es sich um
eine Konfliktlinie, die so alt ist wie die Gemeinschaft selbst. Sie
verläuft zwischen denjenigen, die der Auffassung sind, die EU müsse eine
eigenständige, von den USA unabhängige Außen– und Verteidigungspolitik
aufbauen, und Staaten - wie etwa ganz ausgeprägt Großbritannien -, die
eine enge Zusammenarbeit mit den USA und den von ihr dominierten
Institutionen (NATO) für unverzichtbar halten. Dass und in welcher Form
die Osterweiterung hier Auswirkungen haben wird, hat der Irakkrieg, in
dem sich die meisten mittel- und osteuropäischen Länder auf die Seite
der USA geschlagen haben und nicht für den Anti-Kriegskurs Deutschlands,
Frankreichs und anderer EU-Staaten zu gewinnen waren, in aller
Deutlichkeit gezeigt. |
alt - neu |
Offensichtlich und in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen ist
schließlich die Konfliktlinie zwischen alten und neuen
Mitgliedstaaten. Sie trennt diejenigen, die bereits mit den
besonderen Institutionen, „Spielregeln“ und den
Kompromissfindungsprozessen à la EU vertraut sind, von Ländern, die
diese noch lernen und gleichsam internalisieren müssen. Als Beispiel mag
das Verhalten Polens im Rahmen der Diskussionen zum Lissaboner Vertrag
dienen. |
spillover |
Funktionale Zwänge
Als weitere Variable auf der supranationalen Ebene sind die funktionalen
Zwänge – wir Politikwissenschaftler nennen das "functional spillover" –
zu nennen, die sich aus der Vergemeinschaftung bestimmter
Politikbereiche ergeben. Machen wir uns das anhand von zwei Beispielen
klar. Mit der Einrichtung des Binnenmarkts ("EUROPA 1992"), der ja auch
offene Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten einschließt, hat sich ein
Zwang ergeben, auch in Fragen der inneren Sicherheit zusammenzuarbeiten,
die ja dann auch im Maastrichter Vertrag als dritte Säule erstmals in
die EU einbezogen wurde.
Einen zweiten anschaulichen Fall stellt die Herausbildung einer
gemeinsamen EU-Umweltpolitik dar. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre
begannen einzelne Mitgliedstaaten vor dem Hintergrund des gewachsenen
umweltpolitischen Bewusstseins entsprechende Maßnahmen – beispielsweise
Grenzwerte für den Ausstoß von Abgasen – einzuführen. Diese aber
stellten im Gemeinsamen Markt Handelshemmnisse dar. Daraus erwuchs ein
zunehmender Druck, sich auf der EG-Ebene mit diesem Problem zu
beschäftigen, was zunächst zu einer Abstimmung zwischen den
Mitgliedstaaten auf diesem Feld, im weiteren Verlauf zu einer
gemeinsamen EG-Umweltpolitik führte. |
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Zunahme des Integrationsbestandes (acquis communautaire)
Die immer weitere Ausdehnung der Felder, auf denen zusammengearbeitet
wurde – der so genannte acquis – brachte immer mehr derartige
funktionale Zwänge hervor und stellt deshalb schon an sich einen
wichtigen Einflussfaktor dar. Er wirkt sich beispielsweise auf so
wichtige Bereiche wie die Erweiterungspolitik aus, indem er
Erweiterungen immer schwieriger macht, weil ja die Kandidatenländer
einen immer umfangreicheren Integrationsbestand übernehmen müssen.
Aktivitäten der supranationalen Organe
Schließlich sind die Aktivitäten der supranationalen Organe als zentrale
Determinante zu erwähnen. Dazu gehören beispielsweise bahnbrechende
Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) oder das geschickte
Ausnutzen der oben angesprochenen funktionalen Zwänge zum Vorantreiben
weiterer Vergemeinschaftung durch die Kommission. |
Determinanten der EU-Entwicklung im Überblick |
Analyseraster
Nimmt man diese Faktoren zusammen und fügt sie in ein Schaubild ein, so
steht ein Instrument zur Verfügung, das genutzt werden kann, um
bestimmte Etappen der EU-Entwicklung zu analysieren. Das Raster kann
dazu beitragen, die Resultate, beispielsweise das Zustandekommen des
Binnenmarktprojekts oder den Lissaboner Vertrag, verständlich zu machen.
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Determinanten Mitte der 1980er Jahre |
Anwendung des Analyserasters: Binnenmarkt und EEA
Sehen wir uns zunächst
einmal die Situation vor EEA und Binnenmarkt an. Hier ist offensichtlich, dass im Hinblick auf unsere Bestimmungsfaktoren eine
außerordentlich günstige Situation vorhanden war.
Die externen Herausforderungen (internationale Ebene), vor allem die Befürchtung, dass die EG
technologisch gegenüber den USA und Japan den Anschluss verlieren
könnte, wenn sie nicht konsequent alle Vorteile eines wirklich
gemeinsamen Binnenmarkts nutzte, erwiesen sich als wesentliche
Antriebskraft (+).
Die grundlegenden Interessen der Mitgliedstaaten (nationale Ebene) waren
sich diesbezüglich sehr nah; das Projekt versprach ökonomischen
Fortschritt – es handelte sich also um keine in den Bevölkerungen
möglicherweise als sensibel empfundene Frage der nationalen
Souveränität, was in der Summe erhebliche Handlungsspielräume für die
Regierungen eröffnete (+).
Die Kommission unter Delors (supranationale Ebene) nutzte diese Konstellation
sehr geschickt, um das Projekt aktiv voranzutreiben. Die
Homogenität der Mitgliedstaaten war im Vergleich zu heute noch recht
hoch (+); dennoch spielten bereits einige der Konfliktlinien eine Rolle.
Einmal die Konfliktlinie supranational versus intergouvernemental bei
der Diskussion der Frage, ob den Binnenmarkt betreffende Entscheidungen
einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden sollten –
wogegen sich Großbritannien lange, aber letztlich
erfolglos gewehrt hatte.
Mit dem Beitritt Griechenlands 1981 sowie Portugals und Spaniens 1986, also während der Diskussionen um den Binnenmarkt, gewann
aber schlagartig auch die Konfliktlinie "reich versus arm"
an Bedeutung und führte unter anderem dazu, dass die Regionalpolitik –
als Ausgleich und Ergänzung zum Binnenmarktprojekt für die
ärmeren Länder – mit der EEA eingeführt wurde. Die ebenfalls im Rahmen
dieser ersten großen Vertragsrevision erfolgte Aufnahme der
Umweltpolitik als neues EG-Politikfeld dagegen ist den funktionalen Zwängen geschuldet (+).
Fasst man das eben Gesagte im Rahmen des Analyserasters zusammen, so
ergibt sich folgendes Bild.
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Was ist erklärungsbedürftig? |
Anwendung des Analyserasters: Lissabonner Vertrag
Beim Lissaboner Vertrag erweisen sich vor allem zwei Aspekte als in
hohem Maße erklärungsbedürftig. Einmal die Tatsache, dass diese
Vertragsreform so viel Zeit in Anspruch genommen hat – und noch nimmt,
denn einige der wichtigsten Veränderungen werden erst 2014 bzw.
endgültig 2017 in Kraft treten! Wenn man bedenkt, dass den Ausgangspunkt
für diesen Prozess der hochgradig defizitäre Vertrag von Nizza darstellt,
so hat dieser Prozess der Anpassung und Vertragsänderung nahezu 10 Jahre
in Anspruch genommen. Ein eklatanter Unterschied zur EEA.
Erklärungsbedürftig ist aber auch die Komplexität und
Widersprüchlichkeit der neuen Regelungen. Da wurde beispielsweise mit
der Aufnahme des Europäischen Rats in den Kreis der offiziellen
EU-Institutionen und mit der Einrichtung eines Ständigen Präsidenten des
Rats die intergouvernementale, mit der deutlichen Aufwertung der Rolle
des Europäischen Parlaments sowie der Einbindung der ehemaligen dritten
Säule in die für Gemeinschaftspolitiken üblichen Verfahren gleichzeitig
aber auch die supranationale Komponente gestärkt.
Erklärungsversuch mit Hilfe des Analyserasters
Zieht man das Analyseraster heran, dann gewinnen diese Befunde schnell
an Plausibilität. So sind zwar die externen Herausforderungen (internationale
Ebene) noch stärker geworden. Die – 2004 erfüllten – Erwartungen der
mittel- und osteuropäischen Länder hinsichtlich einer Aufnahme in die
Union sowie die ungeduldig vor der Tür stehenden Kandidatenländer des
Westlichen Balkans und die Türkei übten und üben einen immensen Druck
auf die EU aus, ihren institutionellen Rahmen anzupassen, um sich
Handlungsfähigkeit zu bewahren (+ +).
Gleichzeitig sind, gerade auch nach der Osterweiterung 2004/07, die
Voraussetzungen dafür in den einzelnen Mitgliedstaaten (nationale
Ebene) immer schlechter geworden. Die verfassungsmäßigen Ordnungen
der neu hinzugekommenen Länder setzen in einigen Fällen – aus historisch
gesehen nachvollziehbaren Gründen – der Abgabe von Souveränitätsrechten
deutliche Grenzen.
Die Ansprüche der EU-Bürger, bei wichtigen Entscheidungen der Union
mitwirken zu wollen, haben massiv zu-, das Vertrauen in die Union
dagegen hat in dramatischer Weise abgenommen. Damit sind den
Handlungsspielräumen der nationalen Regierungen, und damit ihrer
Fähigkeit und Bereitschaft zu Kompromissen auf der EU-Ebene, sehr enge
Grenzen gesetzt; so eng, dass man dafür wohl zwei Minuszeichen vergeben
muss (- -).
Fast noch negativer fällt ein Blick auf die Determinanten der
supranationalen Ebene aus. Hier ist das nach der Osterweiterung nie
dagewesene Ausmaß an Heterogenität zwischen den Mitgliedstaaten
hinsichtlich aller Dimensionen zu nennen (- -). Die Aktivitäten der
supranationalen Organe konnten, da es sich beim Lissaboner Vertrag
primär um grundsätzliche institutionelle und nicht, wie beim Binnenmarkt,
auch um inhaltliche Fragen handelt, bei den Diskussionen lange keine so
einflussreiche Rolle spielen.
Funktionale Zwänge sind zwar, nicht zuletzt auch verbunden mit der
Zunahme des acquis, vorhanden, können ihre Wirkung aber nur noch
innerhalb der durch die eben angesprochenen Faktoren eng gesetzten
Grenzen entfalten (+). Fassen wir diese Erkenntnisse wieder in unserem
Analyseraster zusammen, ergibt sich folgendes Bild.
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Leitfrage nach Determinanten der EU-Entwicklung |
Wendet man die Erkenntnisse auf unsere Leitfragen an, so lässt sich kurz
zusammengefasst folgendes sagen: Der extrem hohe Problemdruck
insbesondere durch externe Herausforderungen (++) sowie unterstützende
Elemente auf der supranationalen Ebene (+) erklären, warum über ein
Jahrzehnt hinweg versucht wurde, die Spielregeln anzupassen.
Die anderen Faktoren (- & --) lassen verstehen, warum es so lange
gedauert hat, zu einer Lösung zu kommen. Und sie erklären auch, warum
diese "Lösung", der Lissaboner Vertrag, so widersprüchlich und
unzureichend ist. Das wiederum wird über kurz oder lang dazu führen,
dass erneut über Anpassungen des institutionellen Rahmens nachgedacht
werden muss (Leitfrage "Warum verändert sich das System ständig?").
Damit sind wir am Ende dieser Einführung in den Abschnitt zur
EU-Entwicklungh angekommen. Wir hoffen, es ist uns gelungen, Ihr
Interesse für die EU-Entwicklung zu gewinnen und das grundlegende
Verständnis zu vermitteln, das Sie benötigen, um sinnvoll analytisch mit
diesem Gegenstand umgehen zu können.
... weiter
zu Etappe 1 der EU-Entwicklung
[© Text und Grafiken: Gesellschaft
Agora]
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