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Grundkurs 2: Wie haben sich die
Vereinten Nationen entwickelt?
[Otfried Höffe bezeichnete Kants
Abhandlung "Zum ewigen Frieden" als "den philosophisch entscheidenden Text
der neuzeitlichen Friedensdebatte"] |
Die Geschichte der Vereinten
Nationen beginnt lange vor der Gründung der Weltorganisation am 26. Juni 1945 in
San Franzisko. Die ideengeschichtlichen Wurzeln reichen mindestens bis zu den
Theorien bedeutender Denker wie Hugo Grotius (Begründer des modernen
Völkerrechts, 1584-1645), des Abbé de Saint-Pierre (1658-1743) oder
Immanuel Kants 1795 erschienenen Abhandlung "Zum ewigen Frieden"
zurück.
Die Beschäftigung mit diesen Wurzeln kann an dieser Stelle nicht vertieft
werden, Informationen dazu finden sich aber an anderer Stelle im Rahmen des
Themenkomplexes Friedenspädagogik auf D@dalos:
Im Rahmen dieses
Grundkurses zur Entwicklung der Vereinten Nationen beschränken wir uns auf
die unmittelbare Vorgeschichte, also auf den Völkerbund als
Vorläuferorganisation. Der folgende Text fasst die
wichtigsten Informationen zum Völkerbund zusammen. |
Weitere Abschnitte im Rahmen
dieses Grundkurses skizzieren die Entwicklung der Vereinten Nationen von der
Gründung bis zur Gegenwart:
Der Völkerbund als Vorläufer der Vereinten Nationen
In einem kurzen Einleitungstext zu einer Publikation der Charta der Vereinten
Nationen führt Hartmut Krüger aus:
"Die Gründung der Vereinten Nationen war nicht der erste Versuch, eine
weltumspannende Friedensorganisation zu schaffen. Unter dem Eindruck der
gewaltigen Verluste an Menschen und Material im Verlauf des Ersten Weltkrieges
hatten Politiker ... für einen Zusammenschluss der Nationen zur Verhinderung von
Kriegen geworben. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson rief in seinen
berühmt gewordenen 14 Punkten vom 8. Januar 1918 u.a. zu einer 'allgemeinen
Assoziation der Nationen mit wechselseitiger Garantie der politischen
Unabhängigkeit und der territorialen Integrität für große wie für kleine Staaten
in gleicher Weise' auf.
Wie revolutionär der Gedanke einer kollektiven Verantwortung für Frieden und
Sicherheit war, wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass nach der
Völkerrechtslehre bis zum Ersten Weltkrieg das Führen eines Krieges, auch eines
Aggressionskrieges - sofern er formell erklärt war -, nicht als unmoralisch und
verbrecherisch, sondern als legitimes letztes Mittel der Politik galt.
Die Völkerbundsatzung von 1919/20 verpflichtete die Mitglieder, die
Unversehrtheit des Gebietes und die bestehende politische Unabhängigkeit aller
Mitglieder zu achten. Bei Verstößen gegen diese Verpflichtung sollte der
Völkerbund 'geeignete Maßnahmen' ergreifen. Die Mitglieder sollten Streitfragen
im Wege der internationalen Gerichtsbarkeit lösen. Sie kamen überein,
kriegerische Maßnahmen frühestens nach Ablauf von drei Monaten nach dem
Gerichtsurteil zu ergreifen. Der Briand-Kellog-Pakt von 1928, den alle
bedeutenden Staaten unterzeichneten, brachte eine vollständige Ächtung des
Krieges."
[aus: Hartmut Krüger, Einleitung; in:
Charta der Vereinten Nationen, Reclam Stuttgart 1982, S. 3]
Mit Blick auf die Vereinten Nationen kommt dem Völkerbund insofern große
Bedeutung zu, als er viele Neuerungen mit sich brachte, an die die Architekten
der Vereinten Nationen anknüpfen konnten. Dies gilt sowohl für
die Organe als auch für den Grundansatz eines Systems kollektiver Sicherheit,
wie die folgenden Textauszüge
von Sven Gareis und Johannes Varwick aufzeigen:
Organe des Völkerbundes
"Das Verständnis der dem kollektiven Sicherheitssystem der Vereinten Nationen
zugrundeliegenden Intentionen und Normen bleibt unvollständig ohne eine
zumindest skizzenhafte Darstellung des Völkerbundes. Beide Organisationen werden
häufig so zueinander in Zusammenhang gebracht, dass die Vereinten Nationen die
normativen und strukturellen Schwächen und Defizite ihres Vorgängers haben
beseitigen wollen.
So zutreffend dies auf der einen Seite ist, so sehr wird andererseits übersehen,
dass bereits durch den Völkerbund Entwicklungen von weitreichender Bedeutung in
Gang gesetzt und organisatorische Voraussetzungen geschaffen wurden, an die die
Vereinten Nationen anknüpfen konnten. Dies gilt insbesondere für den Grundansatz
des Völkerbundes, ein auf internationalen Rechtsnormen basierendes
Kriegsverhütungsregime zu schaffen und die Verantwortung für den Frieden auf
eine internationale Organisation zu übertragen (...).
Hauptorgane des Völkerbundes waren ... die Bundesversammlung, der Rat und das
Ständige Sekretariat. (...) In der Bundesversammlung waren alle Mitgliedstaaten
durch Delegationen vertreten, die über je eine Stimme verfügten (...). Der
Bundesversammlung waren umfassende Zuständigkeiten bezüglich aller die
Tätigkeitsfelder des Völkerbundes oder den Weltfrieden betreffenden Fragen
zugewiesen, so dass sie sich jedes Sachverhaltes annehmen und Empfehlungen
aussprechen konnte.
Der Rat bestand aus Ständigen und Nichtständigen Mitgliedern (...). Für das Jahr
des Inkrafttretens der Satzung 1920 waren mit den 'Vertretern der Alliierten und
Assoziierten Hauptmächte' der Friedensverträge fünf Ständige (Frankreich,
Großbritannien, Italien, Japan, USA) und vier Nichtständige Ratsmitglieder
vorgesehen, die durch die Bundesversammlung nach freiem Ermessen zu bestimmen
waren. Durch den Nichteintritt der USA in den Völkerbund blieb deren Ständiger
Sitz allerdings frei (...).
Seine Beschlüsse und Empfehlungen traf der Rat in der Regel einstimmig
(...). Falls Ratsmitglieder in eine Streitsache involviert
waren, waren sie von der Stimmabgabe ausgeschlossen, so dass ein Veto in eigener
Sache nicht möglich war. Der Rat ... war mit den gleichen umfassenden
Kompetenzen ausgestattet wie die Bundesversammlung (...).
Das Ständige Sekretariat unter seinen beiden Generalsekretären Sir James Eric
Drummond (bis 1933) und Francois Joseph Avenol bildete die Verwaltungsbehörde
des Völkerbundes. Dem Generalsekretär ... unterstand eine internationale, nach
Fachabteilungen gegliederte Behörde, deren Personal sich im wesentlichen aus der
Fachbeamtenschaft der Mitgliedstaaten rekrutierte."
[aus: Sven Gareis/Johannes
Varwick, Die Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen;
Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 403, Bonn 2003, S.
92-95]
Das kollektive Sicherheitssystem des Völkerbundes
"Zur Gewährleistung von Weltfrieden und internationaler Sicherheit wurde durch
die Völkerbundssatzung ein duales System kollektiver Sicherheit geschaffen, das
zum einen auf Kriegsverhütung durch Verfahren der friedlichen Streitbeilegung
ausgerichtet war, zum anderen jedoch auch einen Sanktionsmechanismus zur
Beendigung bereits begonnener Kriege vorsah.
Das partielle Kriegsverbot der Völkerbundssatzung verpflichtete alle
Mitgliedstaaten zur Beteiligung an einem cooling-off-Verfahren in jenen
Streitfällen, die möglicherweise zu einem Krieg führen könnten. Ziel dieses
Verfahrens war, die strittige Angelegenheit entweder einem Schiedsgericht, dem
Ständigen Internationalen Gerichtshof oder dem Rat zu unterbreiten.
Binnen sechs Monaten hatte der Rat die Angelegenheit zu untersuchen und einen
Bericht abzufassen (...). Während dieser Phase sowie einer sich daran
anschließenden weiteren Frist von drei Monaten durfte keine Partei zum Kriege
schreiten. Für den Fall, dass eine der Streitparteien ein Urteil oder einen
Schiedsspruch bzw. eine einstimmig durch den Rat abgegebene Empfehlung
akzeptierte, trat ein Kriegsverbot ein."
[aus: Sven Gareis/Johannes Varwick, Die
Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen; Bundeszentrale für
politische Bildung Schriftenreihe Band 403, Bonn 2003, S. 95-96]
Schwäche des Systems
"Zu den gravierenden Schwächen dieser Regelungen gehörte, dass alle Formen der
Gewaltanwendung unterhalb der Schwelle eines Krieges nicht in diesen
Verbotsrahmen fielen. Daher musste die Frage offen bleiben, wann zulässige
Gewaltanwendung in einen verbotenen Krieg überging.
Diese Unschärfen waren von erheblicher Bedeutung für die Effektivität der
kollektiven Sicherheitsmaßnahmen. Zwar eröffnete die Satzung dem Völkerbund die
Möglichkeit, gegen einen Staat Sanktionen zu verhängen, wenn dieser entgegen den
Festlegungen einen Krieg begann. Diese kollektiven Maßnahmen, deren Spektrum von
wirtschaftlichem und politischem Boykott bis hin zu militärischem Zwang reichte,
waren von allen Bundesmitgliedern zu exekutieren (...).
Allerdings herrschte aufgrund des Fehlens einer klaren Aggressionsdefinition ...
große Unsicherheit bezüglich der Voraussetzungen für die Verhängung von
Zwangsmaßnahmen im allgemeinen und über die Reichweite der militärischen
Beitragsverpflichtungen im besonderen (...). Die Sanktionspraxis des
Völkerbundes blieb dann auch auf einen Fall begrenzt: Im Abessinien-Krieg 1937
verhängte der Rat ein Embargo gegen Italien, das allerdings seinen Zweck, die
Beendigung der italienischen Aggression, verfehlte.
Bereits im Falle der japanischen Invasion in Nordchina zu Beginn der dreißiger
Jahre war der Völkerbund untätig geblieben und konnte, zumal nach dem 1933
erfolgten Austritt Japans aus der Organisation, den Ausbruch des
japanisch-chinesischen Krieges ab 1935 nicht verhindern. Die sowjetische
Aggression gegen Finnland führte im Dezember 1939 zwar zum Ausschluss der UdSSR
aus der Organisation, doch war angesichts des im September 1939 begonnenen
Zweiten Weltkriegs der Völkerbund zu diesem Zeitpunkt als kollektives
Sicherheitssystem bereits endgültig gescheitert."
[aus: Sven Gareis/Johannes Varwick, Die
Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen; Bundeszentrale für
politische Bildung Schriftenreihe Band 403, Bonn 2003, S. 96-97]
Hartmut Krüger bilanziert die Arbeit des Völkerbundes im zentralen Bereich der
Friedenssicherung folgendermaßen: "Seine Hauptaufgabe, Kriege zu verhindern,
konnte der Völkerbund nicht lösen. Alle Bemühungen um Rüstungsbeschränkungen
oder gar Abrüstung blieben erfolglos. Unwirksam blieben die Bestimmungen der
Völkerbundsatzung, durch die man die Geheimdiplomatie verhindern wollte, in der
man eine der Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges sah:
internationale Verträge sollten offengelegt werden, bei Verstößen gegen die
Völkerbundsatzung sollten sie automatisch unwirksam sein."
[aus: Hartmut Krüger, Einleitung; in:
Charta der Vereinten Nationen, Reclam Stuttgart 1982, S. 4]
Gründe für das Scheitern des Völkerbundes
"Für das Scheitern dieses ersten Versuches zur Etablierung eines globalen
Sicherheitssystems werden allgemein und zutreffend Defizite und Unschärfen im
Normenbereich der Satzung wie die ... unzweckmäßige Beschränkung auf ein
partielles Kriegsverbot verantwortlich gemacht. Aber auch strukturelle Schwächen
in der Organisation selbst müssen als Ursachen genannt werden (...). Vor allem
aber ist es dem Völkerbund zu keiner Zeit gelungen, alle damals existierenden
Großmächte einzubinden (...). Zu einer universalen Organisation konnte der
Völkerbund so nie werden. Am 18. April 1946 erfolgte auf der 21.
Bundesversammlung seine Auflösung."
[aus: Sven Gareis/Johannes Varwick, Die
Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen; Bundeszentrale für
politische Bildung Schriftenreihe Band 403, Bonn 2003, S. 97]
Bedeutung des Völkerbundes
Trotz des Scheiterns fällt die Bilanz dieser neuartigen Organisation in der
internationalen Politik keineswegs nur negativ aus, wie der folgende Textauszug
von Sven Gareis und Johannes Varwick beispielhaft zeigt:
"Der Völkerbund steht für eine ideengeschichtliche Wende in den internationalen
Beziehungen, auch wenn die Staaten zu seiner Zeit noch nicht bereit waren,
diesem revolutionär neuen Grundanliegen der Kriegsverhütung und der
Friedenssicherung durch ein globales System eine wirkliche Chance der
Realisierung einzuräumen und ihn zumindest zu einem Clearing House für
Fragen globaler Sicherheit werden zu lassen.
Sein letztendliches Scheitern in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat
nicht grundsätzlich zu der Überzeugung geführt, dass die dem Völkerbund
zugrundeliegenden Ideen und Normen utopisch oder überflüssig wären. Vielmehr
wurde durch den Beginn und den Verlauf des Zweiten Weltkriegs die Notwendigkeit
eines effektiven kollektiven Sicherheitssystems in dramatischer Weise
unterstrichen. Mit der Charta der Vereinten Nationen nahm die Welt einen zweiten
Anlauf zur Etablierung einer globalen Organisation zur Friedenssicherung."
[aus: Sven Gareis/Johannes Varwick, Die
Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen; Bundeszentrale für
politische Bildung Schriftenreihe Band 403, Bonn 2003, S. 97-98]
[Autor: Ragnar Müller]
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