Dass Computer und Digitalisierung die Gesellschaft tiefgreifend
verändern, ist unumstritten. So geht etwa Dirk Baecker von der
folgenden Abfolge aus: Die Einführung der Sprache
konstituierte die Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift
die antike Hochkultur, die Einführung des Buchdrucks die
moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers
konstituiert nun - was? Baecker ist vorsichtig und spricht in
Anlehnung an Peter F. Drucker von der "nächsten Gesellschaft".
[Dirk Baecker (2007), Studien zur
nächsten Gesellschaft, Frankfurt/Main]
Manuel Castells legt sich fest und
bezeichnet die im Entstehen begriffene Gesellschaft in seiner
epochalen Trilogie zum Informationszeitalter als
Netzwerkgesellschaft:
"Es lässt sich als historische Tendenz
festhalten, dass die herrschenden Funktionen und Prozesse im
Informationszeitalter zunehmend in Netzwerken organisiert sind.
Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften,
und die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert die Funktionsweise
und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und
Kultur wesentlich. Zwar hat es Netzwerke als Form sozialer Organisation
auch zu anderen Zeiten und in anderen Räumen gegeben, aber das neue
informationstechnologische Paradigma schafft die materielle Basis dafür,
dass diese Form auf die gesamte gesellschaftliche Struktur ausgreift und
sie durchdringt."
[Manuel Castells
(2004): Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil I der Trilogie "Das
Informationszeitalter", Opladen: UTB 8259, S. 527]
Als Castells seine Trilogie verfasste, gab es das Web 2.0 weder als
Begriff noch in der Realität. Das Web (1.0) war noch nicht über das
Stadium einer "besseren Litfaßsäule" (Stefan Münker) hinausgekommen,
auch wenn seine Entwicklung von Anfang an von utopischen
Gesellschaftsentwürfen begleitet wurde. Als schönes Beispiel hierfür
wird von Stefan Münker "A Declaration of the Independence of
Cyberspace" von John Perry Barlow aus dem Jahr 1996 angeführt:
"Der Cyberspace liegt nicht innerhalb Eurer Hoheitsgebiete. Glaubt nicht,
Ihr könntet ihn gestalten, als wäre er ein öffentliches Projekt. Ihr
könnt es nicht. Der Cyberspace ist ein natürliches Gebilde und wächst
durch unsere kollektiven Handlungen. (...) Wir erschaffen eine Welt, in
der jeder einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken
darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der
Konformität aufgehen zu müssen. Eure Rechtsvorstellungen von Eigentum,
Redefreiheit, Persönlichkeit, Freizügigkeit und Kontext treffen auf uns
nicht zu."
[John Perry Barlow; zitiert nach: Stefan Münker (2009): Emergenz
digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0,
Frankfurt/Main, S. 52]
Umbruchsphase und Übergangszeit
"So if a new infrastructure
comes along that allows us to connect with everyone else on the planet
and to invent new types of connections, this is big news indeed."
[David Weinberger (2002), Small Pieces Loosely Joined, New York,
S. XI]
Weder diesen Aspekt alternativer Gesellschaftsentwürfe noch den Bereich
großer Gesellschaftstheorien können und wollen wir im Rahmen dieses
Abschnitts des Online-Lehrbuchs zum Web 2.0 vertiefen, zumal es sich
hierbei um Themen handelt, die mehr mit der Digitalisierung als
übergreifendem Prozess als mit dem Web 2.0 im engeren Sinn zu tun haben.
Unsere Ziele sind bescheiden angesichts der Tatsache, dass wir am Anfang eines Umbruchsprozesses stehen, der nach Meinung vieler
Beobachter alle gesellschaftlichen Bereiche umkrempeln wird.
Wie in der Einleitung zu diesem Online-Lehrbuch
ausgeführt, geht es uns um eine
vorläufige Bestandsaufnahme. Dieselben Schwierigkeiten stellen sich auch
in den anderen behandelten Bereichen (weniger bei Wirtschaft 2.0,
besonders ausgeprägt bei
Politik 2.0).
Was Gesellschaft 2.0 bedeuten könnte, weiß bisher außer der
Piratenpartei Schweiz, die ihren nationalen Wahlkampf 2011 unter diesem
Motto bestreitet, niemand genau.
Dieses Video enthält ein rund 20-minütiges Interview mit David Weinberger zu Grundfragen des Internet aus dem Jahr 2007
(mit deutschen Untertiteln).
Gliederung dieses
Abschnitts
Augenzwinkernd hat der Internet-Philosoph David Weinberger das Web "definiert"
als "small pieces loosely joined" und das als "A Unified Theory
of the Web" ausgegeben (in Anspielung auf die sagenumwobene "unified
theory of physics", die es ebenfalls nicht gibt). Einen Hauptgrund
dafür, dass sich das Web (2.0) nicht definieren lässt, nennt er im
Vorwort:
"We are the true 'small pieces' of the Web, and we are loosely joining
ourselves in ways that we're still inventing."
[David Weinberger (2002), Small Pieces Loosely Joined. A Unified Theory
of the Web, New York, S. X, eigene Hervorhebung]
Alles ist im Fluss (oder besser: im
reißenden Strom) - das gilt heute im Web
2.0-Zeitalter noch mehr als zum Zeitpunkt des Erscheinens von Weinbergers lesenswertem Buch. Jeden Tag entstehen neue Geschäfts- und
andere Ideen rund um das Web 2.0 als Plattform, die zum ersten Mal in
der Geschichte massenhafte Kooperation im Weltmaßstab ermöglicht.
Beinahe täglich werden neue Nutzungsarten und -varianten erfunden. War MySpace bis vor kurzem noch das Maß der Dinge bei Online-Netzwerken,
wurde Facebook in wenigen Monaten zum uneingeschränkten Platzhirsch (siehe
Seite Soziale Netzwerke). Start-ups kommen und gehen schneller, als wir unsere Seminarunterlagen
aktualisieren können. Was tun?
Wir möchten uns in diesem Abschnitt auf diejenigen Aspekte konzentrieren,
die in der öffentlichen Diskussion eine wichtige Rolle spielen. Ob das (auch
künftig) die wichtigsten Themen sind, lässt sich angesichts der
dynamischen Entwicklung nicht sagen. Gerade hier wird deutlich, dass es
sich bei diesem Online-Lehrbuch um eine vorläufige
Bestandsaufnahme handelt. Auf den Unterseiten dieses Abschnitts
behandeln wir folgende Themen:
Gefahren des Web 2.0:
Cyber-Mobbing, Data-Mining, Datenschutz, Urheberrechtsverletzungen,
gefährdende Inhalte und Kontakte - die Liste der Gefahren, denen v.a.
Jugendliche im Web (2.0) ausgesetzt sind, ist lang. Diese Aspekte stehen
im Mittelpunkt der Berichterstattung über das Web 2.0 und prägen das
Bild des durchschnittlichen Mediennutzers von der neuen Netzwelt. Um den
Gefahren begegnen zu können, bedarf es in erster Linie Medienkompetenz -
seitens der Jugendlichen, aber auch seitens von Eltern und Lehrern. Die
Vermittlung dieser Kompetenzen haben sich die Safer Internet Centres in
den verschiedenen europäischen Staaten zum Ziel gesetzt. Sie werden auf
der Seite zu den Gefahren des Web 2.0 vorgestellt ...mehr
Soziale Netzwerke: Facebook
beherrscht die Schlagzeilen - im positiven wie im negativen: Den
beeindruckenden Nutzerzahlen steht die Diskussion um den Schutz der
Privatsphäre gegenüber, die sich auf den Marktführer fokussiert. Was
sind die Ursachen für den Erfolg von Facebook und wie könnte Facebook
das Web verändern? Außerdem stellt dieser Abschnitt die brillante
Analyse "Here Comes Everybody" von Clay Shirky vor ...mehr
Weisheit der Vielen: James
Surowiecki widerspricht in seinem Buch "The Wisdom of Crowds" der weit
verbreiteten, scheinbar intuitiv richtigen Ansicht, die Masse sei dumm.
Er analysiert die Bedingungen, unter denen (große) Gruppen kollektiv
bessere Entscheidungen treffen als die besten Individuen in der Gruppe.
Mit dem Web 2.0 steht eine Plattform zur Verfügung, die kollektive
Entscheidungsfindung ermöglicht. Es ist also Zeit, unsere
alten Vorurteile über Bord zu werfen ...mehr
Digital Natives: Marc Prensky
hat die Methaphern "Digital Natives" und "Digital Immigrants" eingeführt,
die sich als so eingängig erwiesen haben, dass sie weite Verbreitung
gefunden haben. Umstritten ist, wie die Digital Natives zu bewerten sind
und ob sie tatsächlich aufgrund der massiven Nutzung von Mobiltelefonen,
Computerspielen und des Internets anders denken als die Generationen vor
ihnen ...mehr
In ihrem mutigen Buch "Macrowikinomics"
entwerfen Don Tapscott und Anthony D. Williams das Bild einer
Gesellschaft im Zeitalter der vernetzten Intelligenz ("The Age of
Networked Intelligence"). Dabei untersuchen sie die Auswirkungen des Web
2.0 auf so unterschiedliche Felder wie die globale Finanzindustrie, die
Bekämpfung des Klimawandels, die Zukunft der Bildung, das
Gesundheitswesen, die (traditionellen) Medien oder Politik und Regieren.
Sie sehen uns an einem "turning point in history" (S. 9ff.) und fordern
"renewal and transformation, not tinkering" (S. 15ff.):
"...mass collaboration provides an
attractive alternative to the hierarchical, command-and-control
management systems that are failing many of our key institutions. (...)
So let's use the opportunity that the digital revolution presents to
rethink and rebuild all of the old approaches and institutions that are
failing. Many promising solutions to issues ranging from the current
health care crisis to climate change already exist at the fringes of
established institutions and in the collaborative spaces of the Web."
(S. 19, 21)
Wer sich mit den Auswirkungen des Web 2.0
auf die Gesellschaft beschäftigt, kommt um die Lektüre dieses anregenden
Buches nicht herum. Oben auf dieser Seite haben wir auf die Abfolge von
Dirk Baecker verwiesen, nach der die Einführung des Buchdrucks die
moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers die "nächste Gesellschaft"
konstituiert habe. Tapscott und Williams arbeiten die Unterschiede
heraus:
"Printing gave humanity the written word.
The Web makes everyone a publisher. Printing enabled the distribution of
knowledge. The Web provides a platform for networking human minds.
Printing allowed people to know. The Web enables people to collaborate
and to learn collectively. Printing played a key role in the rise of the
industrial revolution and the creation of capitalism. The Web is now
enabling new models for creating wealth and prosperity on a global
basis. However, the biggest difference between the printing press and
the Internet is that what took four centuries to unfold then is occuring
in as little as four decades today." (S. 24-25)
[alle Zitate aus: Don Tapscott/Anthony D.
Williams (2010): Macrowikinomics.
Rebooting Business and the World, New York]
Neben dem Buch "Here Comes
Everybody" von Clay Shirky (siehe
Soziale Netzwerke) zählt das bereits 2002 erschienene "Smart
Mobs" von Howard
Rheingold zu den Referenzpunkten der Debatte um die Auswirkungen
des Web 2.0 auf die Gesellschaft. Der Autor fasst den Inhalt in
seinem Smart
Mobs Blog so zusammen:
"Smart mobs emerge when communication
and computing technologies amplify human talents for cooperation.
The impacts of smart mob technology already appear to be both
beneficial and destructive, used by some of its earliest adopters to
support democracy and by others to coordinate terrorist attacks
(...).
Street demonstrators in the
1999 anti-WTO protests used dynamically updated websites,
cell-phones, and 'swarming' tactics in the 'battle of Seattle.' A
million Filipinos toppled President Estrada through public
demonstrations organized through salvos of text messages.
The pieces of the puzzle are
all around us now, but haven't joined together yet. The radio chips
designed to replace barcodes on manufactured objects are part of it.
Wireless Internet nodes in cafes, hotels, and neighborhoods are part
of it. Millions of people who lend their computers to the search for
extraterrestrial intelligence are part of it. The way buyers and
sellers rate each other on Internet auction site eBay is part of it.
Research by biologists, sociologists, and economists into the nature
of cooperation offer explanatory frameworks (...)."
In diesem
TED Talk "Howard
Rheingold on Collaboration" fasst der Autor die Geschichte menschlicher
Kooperation zusammen, geht auf die klassischen Probleme jeder
Kooperation ein (Gefangenendilemma,
tragedy of the commons) und weist ausgehend von den
Erkenntnissen des
Ultimatumspiels darauf hin, dass die vorherrschende Sicht auf den
Menschen als Kosten-Nutzen-Optimierer zu kurz greift - eine Erkenntnis,
die mit dem Web 2.0 täglich an Durchschlagskraft gewinnt.
1998-2011 D@dalos - politische Bildung, Demokratieerziehung,
Menschenrechtsbildung, Friedenspädagogik (ein Projekt von
Pharos e.V.), Web:
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