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Inhaltsverzeichnis


Themen des Online-Lehrbuchs Web 2.0:

Einleitung

Was ist das Web 2.0?

Lernen 2.0

Politik 2.0

Wirtschaft 2.0

Gesellschaft 2.0

 Gefahren des Web 2.0

 Soziale Netzwerke

 Weisheit der Vielen

 Digital Natives
 


Weisheit der Vielen

Das schnell zum Standardwerk avancierte Buch "The Wisdom of Crowds" von James Surowiecki beginnt mit einer Geschichte aus dem England des Jahres 1906:

Der Gelehrte Francis Galton besuchte die West of England Fat Stock and Poultry Exhibition in Plymouth. Dort wurde jedes Jahr ein Wettbewerb durchgeführt, der darin bestand, dass man das Gewicht eines Ochsen schätzen konnte. Jeder konnte mitmachen: die wenigen Experten wie Metzger und Viehhändler, aber auch die vielen unbedarften Besucher der Messe.

Wie die meisten Menschen vor und nach ihm dachte Galton, dass die durchschnittliche Schätzung einer solchen Gruppe, die sich hauptsächlich aus Ahnungslosen zusammensetzte, nur eines wiederspiegeln könne, nämlich die Dummheit der Masse. Das wollte er beweisen und bat die Veranstalter, ihm nach dem Wettbewerb alle abgegebenen Schätzungen - 1906 nahmen 787 Personen teil - zu überlassen.

Aus diesen 787 Schätzungen ermittelte er den Durchschnitt als die "kollektive Weisheit" dieser Gruppe. Zu seiner großen Überraschung stellte sich heraus, dass die Gruppe 1197 Pfund geschätzt hatte und damit besser abschnitt als der beste unter den individuellen Schätzern. Das tatsächlich gemessene Gewicht des Ochsen war 1198 Pfund!

"Galton undoubtedly thought that the average guess of the group would be way off the mark. After all, mix a few very smart people with some mediocre people and a lot of dumb people, and it seems likely you’d end up with a dumb answer. But Galton was wrong." (S. XIII)




[Sir Francis Galton, 1822-1911]



Kernthese von "The Wisdom of Crowds"



Diese Geschichte führt Surowiecki zur Kernthese seines Buches: Die scheinbar intuitiv richtige Einschätzung, die von Philosophen seit Aristoteles, von Wissenschaftlern und dem gesunden Menschenverstand geteilt wird, dass die Masse dumm sei, ist zumindest einseitig oder schlicht falsch. Daraus aber den Schluss zu ziehen, die Masse habe immer recht, wie es unter Berufung auf Surowieckis "Wisdom of Crowds" häufig geschieht, wäre naiv und wird dem Autor nicht gerecht. Er formuliert seine These an verschiedenen Stellen im Buch vorsichtiger:

"...under the right circumstances, groups are remarkably intelligent, and are often smarter than the smartest people in them. (…) Even if most of the people within a group are not especially well-informed or rational, it can still reach a collectively wise decision." (S. XIIIf.)

"With most things, the average is mediocrity. With decision making, it’s often excellence." (S. 11)

"The idea of the wisdom of crowds is not that a group will always give you the right answer but that on average it will consistently come up with a better answer than any individual could provide." (S. 235)

"The Wisdom of Crowds is not an argument against experts, but against our excessive faith in the single individual decision maker." (S. 277)

Entscheidend sind, so Surowiecki, die "right circumstances", d.h. die Frage, um welche Art von Entscheidungen es geht, und die Frage nach der Zusammensetzung und Beschaffenheit der Gruppen, die Entscheidungen treffen sollen. Der Untersuchung dieser beiden Aspekte ist das Buch gewidmet. Weiß man, unter welchen Bedingungen welche Art von Gruppen "weise" Entscheidungen treffen, kann man diese "Weisheit der Vielen" nutzen, sei es im Bereich der Politik oder für wirtschaftliche und sonstige Zwecke. Wie sehen diese Bedingungen aus?



Bedingungen für die "Weisheit der Vielen"

vielfältig

unabhängig

dezentral


"... conditions that are necessary for the crowd to be wise: diversity, independence, and a particular kind of decentralization" (S. XVIII, eigene Hervorhebung)

"Diversity and independence are important because the best collective decisions are the product of disagreement and contest, not consensus or compromise." (S. XIX)

"The smartest groups … are made up of people with diverse perspectives who are able to stay independent of each other." (S. 41)

"The idea of the wisdom of crowds also takes decentralization as a given and a good, since it implies that if you set a crowd of self-interested, independent people to work in a decentralized way on the same problem, instead of trying to direct their efforts from the top down, their collective solution is likely to be better than any other solution you could come up with." (S. 70)

"... a decentralized system can only produce genuinely intelligent results if there’s a means of aggregating the information of everyone in the system." (S. 74)

"We know that the crowds that make the best collective judgments are crowds where there’s a wide range of opinions and diverse sources of information, where people’s biases can cancel themselves out, rather than reinforcing each other." (S. 227)

"Groups are only smart when there is a balance between the information that everyone in the group shares and the information that each of the members of the group holds privately. It’s the combination of all those pieces of independent information, some of them right, some of them wrong, that keeps the group wise." (S. 255/56)



Beispiel: Börse

kollektive Weisheit der Marktteilnehmer, aber auch Blasen und Crashs


Die Börse bildet einen wichtigen und interessanten Testfall für kollektive Entscheidungsfindung. Surowiecki verwendet die Reaktion der Börse auf das Challenger-Unglück im Jahr 1986 als Beispiel für die kollektive Weisheit dieses besonderen (Markt-)Mechanismus. Obwohl die Ursachen des Unglücks noch unbekannt waren, brach der Börsenkurs derjenigen Firma am stärksten ein, bei der sich nach langwierigen Untersuchungen herausstellte, dass sie die Hauptschuld an dem Unglück trug. Das bestätigt die These des Autors, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine Gruppe weise Entscheidungen treffen kann:

"The market was smart that day because it satisfied the four conditions that characterize wise crowds: diversity of opinion (each person should have some private information, even if it’s just an eccentric interpretation of the known facts), independence (people’s opinions are not determined by the opinions of those around them), decentralization (people are able to specialize and draw on local knowledge), and aggregation (some mechanism exists for turning private judgments into a collective decision)." (S. 10)

An den Pathologien des Börsenhandels - Spekulationsblasen und Börsencrashs - lässt sich andererseits auch ablesen, was passiert, wenn die genannten Bedingungen nicht erfüllt sind:

"Bubbles and crashes are textbook examples of collective decision making gone wrong. In a bubble, all of the conditions that make groups intelligent – independence, diversity, private judgment – disappear." (S. 244)

"During a bubble, (…) a market (…) turns into a mob." (S. 256)




Widerstände


Bernard Baruch: "Anyone taken as an individual is tolerably sensible and reasonable – as a member of a crowd, he at once becomes a blockhead."


Henry David Thoreau: "The mass never comes up to the standard of its best member, but on the contrary degrades itself to a level with the lowest."


Thomas Carlyle: "I do not believe in the collective wisdom of individual ignorance."



Mit dem Web 2.0 steht nun eine Plattform zur Verfügung, die es erlaubt, die "Weisheit der Vielen" für alle erdenklichen Bereiche zu nutzen. Noch aber müssen Widerstände überwunden werden, wie nicht zuletzt die anhaltenden Diskussionen um Wikipedia zeigen.

"In the popular imagination, groups tend to make people either dumb or crazy, or both." (S. XV)

"One of the striking things about the wisdom of crowds is that even though its effects are all around us, it’s easy to miss, and, even when it’s seen, it can be hard to accept." (S. XIV)

"... we feel the need to ‘chase the expert’ (...). We should stop hunting and ask the crowd." (S. XV)

Unsere wissenschafts- und vor allem expertengläubige Gesellschaft übersieht gerne die vielfach belegte These, dass (auch) Experten Fehler machen. Sind sie die alleinigen Entscheidungsträger, kann das katastrophale Folgen haben. Daraus resultiert ein weiteres wichtiges Argument dafür, kollektive Weisheit zu nutzen, wo immer das möglich und sinnvoll ist, wie Surowiecki betont:

"To me, that’s one of the (and maybe the) great virtues of collective decision making: it doesn’t matter when an individual makes a mistake. As long as the group is diverse and independent enough, the errors people make effectively cancel themselves out, leaving you with the knowledge that the group has." (S. 278)

[alle Zitate aus: James Surowiecki (2005), The Wisdom of Crowds, New York]



In einem TED Talk aus dem Jahr 2005 fasst James Surowiecki - ausgehend von Blog-Postings zum Tsunami des Vorjahres - anhand der Blogosphäre einige Grundgedanken seines Buchs "The Wisdom of Crowds" zusammen.




verwandte Konzepte






Die genannten und weitere Konzepte rund um das Web 2.0 (wie z.B. "The Long Tail" von Chris Anderson oder "The Future of Ideas" von Lawrence Lessig) werden im folgenden Buch komprimiert dargestellt:



Tim O’Reilly wird häufig mit dem Satz zitiert: "Die Nutzung der kollektiven Intelligenz steht als zentrales Prinzip hinter der Web 2.0-Ära." Die "Weisheit der Vielen" zählt zweifellos zu den Grundgedanken der Web 2.0-Welt. Verschiedene Autoren haben darauf aufbauend unterschiedliche Konzepte entwickelt, die eng damit und miteinander zusammenhängen. Diese Konzepte überlappen sich, ohne dass sich bislang eine eindeutige Terminologie herausgebildet hat. Zu den wichtigsten zählen:

Crowdsourcing (Jeff Howe)

"Once upon a time there were producers and consumers. Their roles were static and well defined. But thanks to the Internet and the falling cost of the silicon chip, the line between producer and consumer has begun to blur. Amateurs provide the crowdsourcing engine with fuel, and the open source software movement provided it with a blueprint. But it's the widespread availability of the means of production that empower the crowd to take part in a process long dominated by companies. As a result, the 'consumer', as traditionally conceived, is becoming an antiquated concept. Media - publishing, filmmaking, photography, and music - comprise the vanguard in this movement (...). And these same dynamics are beginning to affect other fields as well."

[Jeff Howe (2009), Crowdsourcing. Why the Power of the Crowd is Driving the Future of Business, New York, S. 71f.]


Social Production (Yochai Benkler)

In seinem Buch "The Wealth of Networks: How Social Production Transforms Markets and Freedom" (2006) beschreibt Benkler ausgehend von Fallstudien (Google, Wikipedia, Open Source Software etc.) ein neues ökonomisches Modell, das er "social production" nennt ("collaborations among individuals that are organized without markets or managerial hierarchies"). Dieses Konzept ist weitgehend synonym mit "crowdsourcing".


Groundswell (Charlene Li / Josh Bernoff)

Das Zusammenspiel von massenhaft vernetzten Menschen, neuer Web 2.0-Technologie und Spezifika der Online-Ökonomie bildet die Groundswell, "a social trend in which people use technologies to get the things they need from each other, rather than from traditional institutions like corporations" (S. 9), so die Autoren in ihrem Buch "Groundswell. Winning in a World Transformed by Social Technologies", Boston 2008 (deutsche Übersetzung: "Facebook, YouTube, Xing & Co.: Gewinnen mit Social Technologies", München 2009). Das Buch veranschaulicht die Folgen dieses mächtigen Trends und gibt Unternehmen eine Strategie an die Hand, wie sie den Groundswell nutzen können.


Wikinomics (Don Tapscott / Anthony D. Williams)

Mehr noch als bei Benkler und Howe und ähnlich wie bei "Groundswell" bezieht sich das Konzept "Wikinomics" auf den Bereich der Wirtschaft, weswegen wir es ausführlich im Abschnitt Wirtschaft 2.0 vorstellen.


Cult of the Amateur (Andrew Keen)

Ein Schlagwort mit gänzlich anderer Ausrichtung stammt aus Keens Buch "The Cult of the Amateur: How Today's Internet is Killing Our Culture" (2007). Wer sich für diese Fundamentalkritik des Web 2.0 interessiert, dem sei die Debatte zwischen Andrew Keen und David Weinberger empfohlen, die in der Online-Ausgabe des Wall Street Journal dokumentiert ist ..."The Good, the Bad, and the Web 2.0". Weitere Web 2.0-kritische Bücher sind beispielsweise das Manifest des Internetpioniers Jaron Lanier "You Are Not a Gadget. A Manifesto" (New York 2010) oder Markus Reiters "Dumm 3.0: Wie Twitter, Blogs und Networks unsere Kultur bedrohen" (Gütersloh 2010). Alle unsere Literaturempfehlungen zum Thema Web 2.0 finden Sie hier...

Das folgende Video fasst die Grundgedanken von "Crowdsourcing" bzw. "Mass Collaboration" bzw. "Wisdom of Crowds" in 3 Minuten zusammen:




[Autor: Dr. Ragnar Müller]

 

 

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