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Inhaltsverzeichnis


Themen des Online-Lehrbuchs Web 2.0:

Einleitung

Was ist das Web 2.0?

 Elemente des Web 2.0

 Tagging: Denken 2.0

Lernen 2.0

Politik 2.0

Wirtschaft 2.0

Gesellschaft 2.0

 


Tagging und Folksonomies: Denken 2.0

Beginnen wir mit einer Geschichte:

"Die ersten Zoologen klassifizierten Säugetiere als solche, die ihre Jungen säugen, und Reptilien als solche, die Eier legen. Dann wurde in Australien das Schnabeltier entdeckt, das wie ein Reptil Eier legt und seine Jungen nach dem Ausschlüpfen wie ein Säugetier säugt.

Die Entdeckung schlug ein wie eine Bombe. Was für ein Rätsel! rief man. Was für ein Geheimnis. Was für ein Naturwunder. Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts die ersten ausgestopften Exemplare aus Australien in England eintrafen, hielt man sie für eine Fälschung und glaubte, Teile verschiedener Tiere seien zu einem zusammengefügt worden. Selbst heute noch findet man gelegentlich Artikel in naturkundlichen Zeitschriften, die fragen: »Wieso gibt es dieses Paradox der Natur?«

Die Antwort lautet: Es gibt dieses Paradox gar nicht. Das Schnabeltier benimmt sich keineswegs paradox. Es hat keine Probleme. Schnabeltiere haben seit Jahrmillionen Eier gelegt und ihre Jungen gesäugt, lange bevor einige Zoologen daherkamen und es für illegitim erklärten.

Das eigentliche Rätsel, das eigentliche Geheimnis liegt darin, dass erwachsene, objektive, wissenschaftlich ausgebildete Beobachter dem armen, unschuldigen Schnabeltier die Schuld für ihre eigene Fehlleistung geben."

[aus: Robert M. Pirsig, Lila oder ein Versuch über Moral, Frankfurt/Main 1992, S. 118]









Foto: TwoWings, Wikimedia Commons, Creative Commons-



Hierarchische Einordnung des Schnabeltiers:

Wissenschaft
       Ґ
 Naturwissenschaft
        Ґ
  Biologie
         Ґ
   Flora und Fauna
          Ґ
    Animalia
           Ґ
     Chordata
            Ґ
      Mammalia
             Ґ
       Monotremata
              Ґ
        Schnabeltier



Herkömmliche Klassifikationen sind hierarchische "entweder-oder"-Ordnungssysteme. Entweder legt ein Tier Eier und wird deshalb der Kategorie "Reptilien" zugeordnet oder es säugt die Jungen und wird deshalb der Kategorie "Säugetiere" zugeordnet. Das Schnabeltier stellt diese Art der Klassifikation vor unüberwindliche Probleme und muss deshalb in eine Restkategorie "Verschiedenes" (engl. miscellaneous) eingeordnet werden. 2007 hat der Internetphilosoph David Weinberger ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: "Everything is Miscellaneous", das 2008 auch auf deutsch erschienen ist ("Das Ende der Schublade") und auf das wir weiter unten näher eingehen werden.

Doch zunächst wollen wir uns ansehen, wie es dem Schnabeltier in einem Ordnungssystem ergehen würde, das auf tags aufbaut. Hier hätte es tatsächlich keine Probleme. Dem Schnabeltier würde sowohl der tag "legt_Eier" als auch der tag "säugt_Junge" angeheftet. Das Problem. das den Zoologen schlaflose Nächte bereitet hatte, würde erst gar nicht auftauchen.


 

 

 

tag / tagging

 

"tag" ist ein englisches Wort und bezeichnet ein kleines Schild, das man an etwas heftet oder auf etwas klebt; "price tag" ist z.B. das Preisschild.

Das Verb "to tag" heißt "etwas mit einem Anhängeschildchen versehen" oder einfach "bezeichnen" bzw. "etikettieren".

Blogs, Wikis, Social Bookmarking-Dienste etc. (siehe Elemente des Web 2.0) bieten tagging-Systeme zur freien, individuellen Verschlagwortung der Inhalte an (Fotos, Videos, Blog-Posts, Links etc.), die man als Nutzer generiert.

Bei einer großen Anzahl von Nutzern entsteht aus den individuellen tags ein nicht-hierarchisches System aus Schlagworten. Diese durch gemeinschaftliches tagging erstellten Sammlungen heißen Folksonomy (folk + taxonomy).

 

 




Beispiel:
digitale Fotos



Die grundlegenden Vorzüge von tagging als dem der digitalen Welt (im Gegensatz zur physikalischen Welt) angemessenen Ordnungskonzept kann man etwa am Beispiel von Fotos verdeutlichen. Früher bewahrte man Abzüge der Fotos, die man 1991 beim 50. Geburtstag von Tante Inge in Barcelona gemacht hatte, in einem Fotoalbum (oder einfach in einem Schuhkarton) auf. Die Bilder vom 70. Geburtstag im Jahr 2011 hat man dagegen mit einer Digitalkamera gemacht, auf Flickr hochgeladen und mit tags versehen.


 



Während die Bilder des Jahres 1991 nur im Kontext des 50. Geburtstags und nur an einer einzigen Stelle im Fotoalbum aufgefunden werden können, können die Digitalfotos des Jahres 2011 in all den Kontexten aufgefunden werden, die man selbst mit den tags geschaffen hat.

Man hat natürlich während des Barcelona-Aufenthalts nicht nur Fotos der Familienfeier gemacht, sondern auch die Sehenswürdigkeiten der Stadt besucht. Die tags für dieses Foto von der Sagrada Família - der von Antoni Gaudí entworfenen Kirche - könnten z.B so aussehen:

2011, Geburtstag, Inge, Familienfeiern, Barcelona, Spanien, Katalonien, SagradaFamilia, Gaudi, Architektur, Kirchen

Wenn nun in ein paar Jahren die Tochter Architektur-Fotos für ihr Studium benötigt, ist es hochgradig unwahrscheinlich, dass man sich an die Geburtstagsfeier des Jahres 1991 erinnert. Es ist aber völlig problemlos, in der eigenen Fotosammlung auf Flickr den tag "Architektur" anzuklicken, der einem dann auch dieses Foto liefert, das zwar in einem gänzlich anderen Kontext entstanden ist, trotzdem aber das Bauwerk eines bedeutenden Architekten zeigt.









physikalische versus digitale Welt


Bildlich gesprochen legt man das Foto der Sagrada Família gleichzeitig in 11 Fotoalben ab: In das Album "Alle Fotos des Jahres 2011", in das Album "Alle Fotos von Geburtstagen", in das Album "Alle Fotos von Inge" usw. - und eben auch in das Album "Alle Fotos von architektonischem Interesse". Das lässt sich natürlich sinnvoll nur mit einem digitalen Foto machen, bei einem analogen Foto würde man 11 Abzüge und 11 Fotoalben benötigen.

Tatsächlich legt man das Foto der Sagrada Família aber gar nicht ab. Man wirft es auf den digitalen Haufen zu all den anderen Fotos - und trotzdem lässt es sich später besser, schneller und in allen möglichen Kontexten wiederfinden. Hier spricht David Weinberger von der "Macht der neuen digitalen Unordnung" (so der Untertitel seines Buches).

Den grundlegenden Unterschied zwischen der digitalen und der physikalischen Welt veranschaulicht er anhand des Labors der amerikanischen Büromarktkette Staples. Dieses Labor stellt einen kompletten Staples-Markt nach. Die Mitarbeiter versuchen, die Anordnung der Produkte und die Informationssysteme so kundenfreundlich wie möglich zu gestalten. Sie kämpfen also mit den Beschränkungen der physikalischen Welt, die

"so sehr zu unserer Alltagswelt [gehören], dass wir sie gar nicht mehr erkennen. Zum Beispiel:
Im physischen Raum sind manche Dinge näher als andere. (...) Physische Objekte können zu jeder Zeit immer nur an einem Ort sein. (...) Im physischen Raum kann es immer nur eine Anordnung geben. (...) Die physischen Fähigkeiten der Menschen sind begrenzt. (...) Der Markt muss systematisch und ordentlich organisiert sein. (...) Aufgrund dieser Beschränkungen wird das meiste im Staples-Markt den Kunden schlicht im Weg sein (...). Wenn ich mit einer Liste von 15 Dingen komme, sind die restlichen 7185 Artikel im Angebot von Staples für mich nicht nur uninteressant, sie verstellen mir sogar den Blick auf das, wonach ich suche." (S. 5-6)

Die digitale Welt dagegen überwindet diese Beschränkungen, da sie nicht aus Atomen besteht, die Raum einnehmen, sondern aus Bits:

"In ihr müssen wir nicht an langen Regalreihen entlangwandern, denn alles ist nur ein paar Klicks entfernt. Sie braucht nicht für alle Menschen gleich zu sein, sie kann sich für jeden von uns und für unsere aktuellen Aufgaben in Sekundenschnelle umarrangieren. Sie ist nicht durch den Raum und den Imperativ der Einfachheit bei den Abläufen beschränkt, sondern kann alle Artikel und alle Variationen enthalten, die die Kunden sich wünschen könnten. Dort können die Artikel nicht nur in einem oder vielleicht auch in zwei Bereichen platziert werden, sondern gemäß den Erwartungen der Kunden in einer Vielzahl von Kategorien klassifiziert werden. Statt in den ordentlichen Regalen zu liegen (...), können die Artikel digital auf einen großen Haufen geworfen werden und müssen nur sortiert werden, wenn ein Benutzer nach ihnen sucht." (S. 7)

Weinbergers Beispiel - ein Büromarkt und dessen Beschränkungen im Vergleich mit einem Online-Shop für Büroartikel - führt bereits zu interessanten Erkenntnissen, bildet aber erst den Ausgangspunkt für sein Buch, in dem er versucht, die Bedeutung der Unterschiede in verschiedenen Bereichen zu vermessen:

"Hier geht es nämlich um etwas viel Größeres als die Frage, wie wir unsere Märkte gestalten sollen. Die physischen Beschränkungen, denen die Organisation eines Büromarktes unterworfen ist, bestimmen auch, wie wir unsere Unternehmen, unsere Verwaltungen und unsere Schulen organisieren - und das Wissen selbst. Von den Managementstrukturen über die Enzyklopädien bis zu der Bildung, die wir unseren Kindern angedeihen lassen (...), haben wir unsere Ideen anhand von Prinzipien organisiert, die auf eine durch die Gesetze der Physik beschränkte Welt ausgerichtet sind. Jetzt sind wir zum ersten Mal in unserer Geschichte in der Lage, unsere Konzepte ohne die Beschränkungen des Physischen zu ordnen. Das wird zu fundamentalen Veränderungen bei unseren Ideen und Organisationen und beim Wissen selbst führen. (...) Was wir dabei entdecken werden? Wenn wir neue Organisationsprinzipien erfinden, die in einer Welt ohne physische Beschränkungen sinnvoll sind, wollen die Informationen nicht nur frei sein, sondern ungeordnet." (S. 7-8)



 



Was es heißt, dass unsere Ordnungssysteme "auf eine durch die Gesetze der Physik beschränkte Welt ausgerichtet sind", kann man sich wiederum am Schnabeltier verdeutlichen. Der Bibliothekar muss ein neu erschienenes Buch zum Schnabeltier an eine bestimmte Stelle im Regal einordnen.

Hat er nur die Kategorien "Säugetier" und "Reptil", kann das nicht gelingen. Deshalb wurde eine neue Kategorie auf der gleichen hierarchischen Stufe geschaffen, die Monotremata, zu denen neben dem Schnabeltier noch der Ameisenigel gehört (viele weitere, sehr unterhaltsame Beispiele führt Weinberger in dem Vortrag an, den das Video zeigt).

Diese Kategorisierung steht in Wechselwirkung mit unserem Verständnis der Welt, obwohl sie nichts mit Wissen zu tun hat, sondern eine Reaktion auf die Beschränkungen der physikalischen Welt darstellt.





Entweder-oder-Ordnungssysteme
 


"Der Preis für die Anordnung des Wissens in der physischen Welt ist (...), dass man Entweder-oder-Entscheidungen treffen muss. (...) Das Buch über die Militärmusik wird bei den Militärbüchern oder bei den Musikbüchern platziert, kann aber nicht an beiden Stellen stehen. Die Geografie des Wissens in einer Bibliothek kann nur eine Form haben, aber keine andere. Das ist kein Gesetz des Wissens, sondern ein Gesetz der räumlichen Geografie." (S. 68)

Und es gibt noch viele weitere Einflussfaktoren auf die Art und Weise, wie wir unser Wissen von der Welt organisieren. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Kategorie "Planet" (und der Frage, ob Pluto ein Planet ist) kommt Weinberger zu dem Schluss:

"Um unsere Sonne kreisen Millionen von Objekten. Die neun bisher als Planeten bezeichneten sind für uns interessant, weil wir ein jahrtausendealtes Wissen über sie haben. Die Beibehaltung der Kategorie 'Planeten' sagt weniger über die Natur unseres Universums aus als über unser Bedürfnis, uns vorzustellen, dass wir über andere Himmelskörper als unseren eigenen blauen wandeln. (...) Dass wir so hartnäckig an dieser Kategorie festhalten, obwohl es keinen zwingenden wissenschaftlichen Grund dafür gibt, enthüllt eine tiefere Bedeutung, die umso wichtiger wird, je mehr Bereiche die Fesseln der Kategorisierung abwerfen und in den Wirbel der ungeordneten Vielfalt eintauchen: Wie wir unsere Welt organisieren, reflektiert nicht nur die Welt, sondern auch unsere Interessen, Leidenschaften, Bedürfnisse und Träume." (S. 47)



Ende traditioneller Autoritäten


Ein wichtiger Aspekt des Übergangs von der physikalischen in die digitale Welt besteht darin, dass traditionelle Autoritäten - Türsteher vor den Eingängen zu Wissensbeständen - ihre Funktion einbüßen. Und genau dieser Aspekt sorgt für interessante Diskussionen ("Weisheit der Vielen" versus "Kult des Amateurs", siehe "The Good, the Bad, and the Web 2.0"), an denen auch David Weinberger prominent beteiligt ist.

"Dass die Papierordnung die Organisationsmöglichkeiten stark einschränkt, hat ganze Branchen und zahllose Institutionen hervorgebracht. Museen, Lehrpläne, Zeitungen, die Tourismusbranche und die Programme der Fernsehsender beruhen sämtlich auf der Annahme, dass wir in der Welt der zweiten Ordnung Spezialisten brauchen, die die Informationen, die Ideen und das Wissen durchgehen und übersichtlich für uns ordnen. Doch jetzt können wir - die Kunden, die Beschäftigten, einfach jeder - die zweite Ordnung umgehen. Wir können uns dem ungeordneten Haufen direkt stellen. (...) Wir können uns selbst - und, was noch wichtiger ist, gemeinsam - überlegen, welche Anordnungen für uns im Augenblick sinnvoll sind und welche neuen Anordnungen eine Minute später. So können wir schneller finden, was wir brauchen, und die traditionellen Autoritäten einfach ignorieren. Die dritte Ordnung der Ordnung revolutioniert nicht nur die Wirtschaft - sie verändert auch unsere Vorstellung davon, wie die Welt selbst organisiert ist und (was von noch größerer Bedeutung sein könnte) wer die Autorität hat, uns das zu sagen." (S. 26-27)



Defizite hierarchischer Klassifizierung


Alle herkömmlichen Klassifizierungsversuche (der Zoologen, die Tiere kategorisieren, oder Deweys Dezimalsystem, nach dem viele Bibliotheken weltweit ihre Bestände sortieren) sind implizit hierarchisch. Ein Vergleich von Deweys System mit der Art und Weise, wie man beim Online-Buchhändler Amazon auf Bücher stößt und nach Büchern suchen kann, bringt Weinberger zu folgendem Fazit:

"Das (...) Problem liegt (...) darin, dass jede Karte des Wissens von der Voraussetzung ausgeht, dass es eine Geografie des Wissens gibt, dass das Wissen eine Gestalt besitzt, dass man es von oben nach unten betrachten kann. Bei der ersten und zweiten Ordnung der Ordnung ist diese Annahme sinnvoll. Sie hemmt aber die nützliche Unordnung der dritten Ordnung, ohne dass das nötig wäre." (S. 75)

[alle Zitate aus: David Weinberger (2008), Das Ende der Schublade: Die Macht der neuen digitalen Unordnung, München]



Tagging und Folksonomies


Tagging ist ein Ordnungssystem, das der "digitalen Unordnung" angemessen ist. Es benötigt keine Hierarchie, keine festen Zu- oder Einordnungen und damit keine Entweder-oder-Klassifizierung. Systeme, die auf tagging beruhen, sind flexibel und personalisierbar. Man benötigt keine "Karte des Wissens", bevor man mit dem Ordnen anfängt. Vielmehr entsteht diese Ordnung dadurch, dass viele Nutzer (wie bei Flickr) tags verwenden. Das stets vorläufig bleibende Resultat der Ordnungsbemühungen ist die Folksonomy, die spontan entstehende Taxonomie der Vielen. Individueller und gemeinschaftlicher Nutzen verschwimmen - ein Phänomen, das sich bei allen Web 2.0-Elementen findet.

Um die möglichen Ordnungen, die durch tags entstehen, anschaulich darzustellen, hat sich die Aggregierung als tag cloud eingebürgert. Die cloud besteht aus den (beispielsweise in diesem Blog oder jener Bookmarksammlung) verwendeten tags. Je häufiger ein tag vergeben wurde, desto prominenter erscheint er in der tag cloud. Ein bekanntes Beispiel stellt die folgende, eher technisch orientierte tag cloud zum Web 2.0 dar:




tag cloud




Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Web_2.0_Map.svg (By Original by Markus Angermeier Vectorised and linked version by Luca Cremonini [CC-BY-SA-2.5 (www.creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5)], via Wikimedia Commons)








neuer Wissensbegriff



"Wissen bedeutet nicht mehr, das Einfache zu sehen, sondern im Komplexen zu schwimmen."

[David Weinberger (2008), Das Ende der Schublade, München, S. 237]



Jeff Howe sieht im Tagging und den daraus resultierenden Folksonomies eine weitere mächtige Anwendung von "Crowdsourcing" (so der Titel seines lesenswerten Buches):

"The advantage folksonomies offer is no different than that of many other crowdsourcing applications: it makes an overwhelming task manageable." (S. 240)

Wie Weinberger misst er dieser Entwicklung hin zum Denken 2.0 eine große Bedeutung zu:

"This all amounts to a sea change in how we experience the world around us. If ever there was a realm in which the expert once reigned uncontested, it was in the selection and organization of the world's knowledge. Yet in a few short years, this function has been largely democratized." (S. 241)

[beide Zitate aus: Jeff Howe (2009), Crowdsourcing. Why the Power of the Crowd is Driving the Future of Business, New York]

Exemplarisch für diesen Wandel steht das Online-Lexikon Wikipedia, das in den Erörterungen von Weinberger, Howe wie auch all der anderen Autoren, die sich mit dem Web 2.0 beschäftigen, breiten Raum einnimmt. Stefan Münker führt aus:

"Der Wissensbegriff (...), für den Wikipedia steht, hat mit dem Wissensbegriff, den wir alle als Kinder der wissenschaftlichen Neuzeit und der Aufklärung gelernt haben, wenig zu tun. Wenn der durch die veränderte Mediennutzung angeregte Trend stabil bleibt (...), dann stellen wir unsere Wissensfragen in Zukunft eben zunehmend weniger, wenn überhaupt, an die enzyklopädischen Elitemedien der Buchdruckkultur, sondern überantworten sie vielmehr der Schwarmintelligenz der digitalen Netzkultur und ihrer Effekte. Unser Begriff des Wissens aber ist dann nicht länger durch den Bezug auf eine relativ kleine Klasse von ausgewiesenen Experten geprägt; Wissen ist dann vielmehr zu verstehen als Resultat der vernetzten Kollaboration eines zunehmend großen Kreises von engagierten Amateuren, deren weitgehende Anonymität jegliche Rückschlüsse auf ihre Kompetenzen verbietet. (...) Wer zwischen der kollaborativen Wissensproduktion im Netz und dem Expertenwissen der Bücher einen klaren Gegensatz sieht, für den gilt: Die Weisheit der vielen triumphiert im Web 2.0 über das Wissen der Eliten."

[Stefan Münker (2009), Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0, Frankfurt/Main, S. 99-100]



Die Debatte um die Weisheit der Vielen, wie sie u.a. James Surowiecki in einem vielbeachteten Buch untersucht hat, fassen wir auf der Seite "Weisheit der Vielen" im Abschnitt Gesellschaft 2.0 zusammen. Die Auswirkungen auf das Wirtschaftssystem, die sich mit dem Begriff Wikinomics verbinden, stellen wir im Abschnitt Wirtschaft 2.0 dar. Die Seite Digital Natives widmet sich u.a. dem Problem, dass Lehrer und Schüler nicht mehr die gleiche "Sprache" sprechen.

Wer sich intensiver mit den Auswirkungen des Web (2.0) auf unser Denken beschäftigen möchte, dem sei als Ausgangspunkt neben den Büchern von David Weinberger das 2010 erschienene webkritische Buch von Nicholas Carr "The Shallows. What the Internet Is Doing to Our Brains" empfohlen (Titel der deutschen Übersetzung: "Wer bin ich, wenn ich online bin... Und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert"). Alle unsere Literaturempfehlungen zum Thema Web 2.0 finden Sie hier...


[Autor: Dr. Ragnar Müller]

 

 

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