Der Begriff "Digital Natives" geht auf einen kurzen Aufsatz von Marc
Prensky aus dem Jahr 2001 zurück. Dieser Aufsatz steht im Volltext
als pdf zur Verfügung (Marc
Prensky: Digital Natives, Digital Immigrants).
Der Autor geht von folgender These aus:
"Our students have changed radically. Today's students are no longer
the people our educational system was designed to teach." (S. 1)
Inwiefern haben sich die Jugendlichen
grundlegend geändert? Sie sind die erste Generation, die mit
digitaler Technologie aufgewachsen ist: Computer, Internet,
Mobiltelefone, MP3-Player, Digitalkameras, Computerspiele etc. sind
für sie ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags.
"It is now clear that as a result of
this ubiquitous environment and the sheer volume of their
interaction with it, today's students think and process
information fundamentally differently from their predecessors."
(S. 1)
Die Jugendlichen denken anders - nicht
schlechter, aber anders: vernetzter, verspielter, sprunghafter,
interaktiver, über etablierte Grenzen hinweg, also
interdisziplinärer, weniger systematisch im traditionellen Sinn
hierarchischer Klassifikationen (siehe
Denken 2.0), häufig kreativer, so die Einschätzung Prenskys, die
er in einem zweiten Aufsatz untermauert, der ebenfalls im Volltext
als pdf zur Verfügung steht (Marc
Prensky: Digital Natives, Digital Immigrants, Part II: Do They
Really Think Differently?).
Lehrer und Schüler sprechen nicht mehr die gleiche "Sprache"
Und diese Jugendlichen nennt Prensky "Digital Natives", um sie von den
"Digital Immigrants" abgrenzen zu können. Digital Natives sind die "Muttersprachler"
des digitalen Zeitalters, während die Digital Immigrants in der
digitalen Welt immer einen "Akzent" behalten (Beispiele für
diesen Akzent - wie das Ausdrucken von E-Mails - nennt Prensky in seinem
Aufsatz).
Dabei handelt es sich natürlich nicht um trennscharfe
wissenschaftliche Kategorien, weswegen die häufig geführten Debatten, ob
Digital Natives nun die nach 1970 oder doch eher die nach 1980 geborenen
Personen bezeichnet, wenig ergiebig sind. Natürlich gibt es Digital
Immigrants, die sich behende in der digitalen Welt bewegen - David
Weinberger schlägt hier den schönen Begriff "Digital Settlers" vor.
Umgekehrt gibt es Menschen, die nach 1980 geboren wurden, die aber alles
andere als digitale Muttersprachler sind.
Das eigentliche Problem, auf das Prensky aufmerksam machen will,
besteht nun darin, dass in unseren Bildungssystemen Digital Immigrants (mit ihrem anderen Denken und
ihrer anderen Herangehensweise) Digital Natives unterrichten.
Hier sieht er die zentrale Ursache für die verschiedenen Probleme im
Bildungswesen:
"... the single biggest problem facing education today is that our
Digital Immigrant instructors, who speak an outdated language (that of
the pre-digital age), are struggling to teach a population that speaks
an entirely new language." (S. 2)
Wo liegen die Unterschiede? Inwiefern sind
Lehrkonzepte der Digital Immigrants und Lernkonzepte der Digital Natives
inkompatibel? Prensky führt aus:
"Digital Natives are used to receiving
information really fast. They like to parallel process and multi-task.
They prefer their graphics before their text rather than the
opposite. They prefer random access (like hypertext). They function best
when networked. They thrive on instant gratification and frequent
reward. They prefer games to 'serious' work. (...) These skills are
almost totally foreign to the Immigrants, who themselves learned - and
so choose to teach - slowly, step-by-step, one thing at a time,
individually, and above all, seriously." (S. 2)
[alle Zitate aus: Marc Prensky: Digital
Natives, Digital Immigrants; On the Horizon, Vol. 9, No. 5, October
2001]
Prenskys Lösungsvorschlag besteht darin,
mit Hilfe von (Computer-)Spielen zu unterrichten, die Digital Natives
also methodisch dort abzuholen, wo sie stehen. Computerspiele sprechen
die Digital Natives in ihrer "Muttersprache" an. Dieser Vorschlag hat
sicher seine Berechtigung, greift aber angesichts der grundlegenden
Änderungen, die sich mit dem Web (2.0) für Lehren und Lernen ergeben, zu
kurz (siehe Seite Lernen 2.0).
Net Generation
Der Begriff "Digital Natives" hat schnell Verbreitung gefunden. In
Verbindung mit dem Gegenbegriff "Digital Immigrant" bringt er eine
Trennlinie auf den Punkt und die Metaphorik leuchtet intuitiv ein. Es gibt
aber
auch konkurrierende Begriffe, die dasselbe zu bezeichnen versuchen,
allen voran der von Don Tapscott bereits 1997 in seinem Buch "Growing Up
Digital" geprägte Begriff "Net Generation". 2008 veröffentlichte
Tapscott die Ergebnisse eines großen Forschungsprojekts unter dem Titel
"Grown Up Digital. How the Net Generation is Changing Your World". Die
folgenden Videos zeigen ein Interview mit dem Autor über das Buch sowie
ein Vortrag über die Kernthesen von "Grown Up Digital":
Kritik an den Digital Natives
Die weit verbreitete Kritik an der "Net Generation", die Tapscott in
seinem Vortrag (wie auch im Buch) zu entkräften versucht, fasst er
selbst (in bewusster Zuspitzung) folgendermaßen zusammen:
"They're dumber than we were at their age. (...) They're screenagers,
Net addicted, losing their social skills, and they have no time for
sports or healthy activities. (...) They have no shame. (...) Because
their parents have coddled them, they are adrift in the world and afraid
to choose a path. (...) They steal. They violate intellectual property
rights. (...) They're bullying friends online. (...) They're violent.
(...) They have no work ethic and will be bad employees. (...) This is
the latest narcissistic 'me' generation. (...) They don't give a damn."
[Don Tapscott (2008), Grown Up Digital. How the Net Generation is
Changing Your World, New York u.a., S. 4-5]
In ihrem Forschungsbericht "Digital
Natives With a Cause? A Knowledge Survey and Framework" fassen die
Autoren Nishant Shah und Sunil Abraham Kritik und Lob an den Digital
Natives unter folgenden Überschriften zusammen (pdf
im Internet):
Digital Natives
The
Criticism
The
Applause
Ignorance and
Dumbness
The Values of
Freedom
Addiction and
Poor Social Skills
Promoting
Tolerance and Co-existence
Confessionals
and Privacy
A Call for
Diversity
Self-centredness
and Self-importance
Finding
Collaborators and Innovators
Digital
Piracy
Mobilisation
and Participation
Plagiarism
and the Digital Classroom
Information
Dissemination & Political Engagement
Consumers
rather than Citizens
Cultural
Production and Interventions
Gibt es eine "Net Generation"?
Neben den mitunter hitzigen Debatten um die Merkmale der Digital Natives
melden andere Autoren Zweifel an, ob es so etwas wie eine "Net
Generation" überhaupt gibt. Insbesondere an Prenskys zugespitzten
Thesen entzündete sich viel Kritik. Zu den ausgeprägten Skeptikern zählt
Rolf Schulmeister:
"Die Tatsache, dass heute andere Medien genutzt werden als in früheren
Zeiten, rechtfertigt es nicht, eine ganze Generation als andersartig zu
mystifizieren. Im Gegenteil, die Generation, die mit diesen neuen Medien
aufwächst, betrachtet sie als ebenso selbstverständliche Begleiter ihres
Alltags wie die Generationen vor ihr den Fernseher, das Telefon oder das
Radio."
[Rolf Schulmeister (2009), Gibt es eine "Net Generation"? Erweiterte
Version 3.0, S. 149,
pdf
im Internet]
Eine ausgewogene Darstellung findet sich in dem 2008 erschienenen Buch
von John Palfrey und Urs Gasser "Born Digital. Understanding the First
Generation of Digital Natives" (ebenfalls 2008 auf deutsch erschienen
mit dem Titel: "Generation Internet. Die Digital Natives: Wie sie leben,
was sie denken, wie sie arbeiten"). In einem Interview in der
Stuttgarter Zeitung vom 10.01.2009 definiert Urs Gasser die Digital
Natives folgendermaßen:
"Wir grenzen die Digital Natives, also die Eingeborenen, von den Digital
Immigrants, den Einwanderern, ab. Die Immigrants sind jene, die sich
noch an eine Zeit ohne Internet und Handy erinnern können. Sie lesen
noch Zeitungen und suchen Informationen in Büchern und Bibliotheken. Die
Digital Natives legen ein anderes Medienverhalten an den Tag. Um zu den
Digital Natives gerechnet zu werden, müssen junge Menschen drei
Kriterien erfüllen. Erstens müssen sie nach 1980 geboren worden sein,
also in eine Welt hinein, für die Mobiltelefone, Computer und Internet
völlig selbstverständlich geworden ist. Zweitens müssen sie Zugang zu
den modernen Kommunikationsmitteln haben. In vielen Ländern und in
einigen sozialen Schichten ist das nicht selbstverständlich. Das dritte
Kriterium wird oft unterschätzt: Digital Natives müssen wissen, wie man
mit diesen Kommunikationsmitteln umgeht."
Das Buch richtet sich im wesentlichen an Eltern und Lehrer der Digital
Natives, die nach Palfrey/Gasser eine wichtige Rolle spielen, um Kinder
und Jugendliche bei der Internutzung anzuleiten. Dem steht bislang noch
im Weg, dass sie als Digital Immigrants nicht über die dafür nötigen
Kompetenzen verfügen. In den 12 Kapiteln des Buches werden unter
folgenden Kapitelüberschriften Gefahren und Chancen der Internetnutzung
durch die Digital Natives beleuchtet:
Identitäten - (Digitale) Dossiers - Privatsphäre - Sicherheit -
Kreativität - Piraterie - Qualität - Overload - Aggression -
Innovationen - Lernen - Aktivismus. Auf der
begleitenden Website zum Buch finden sich von Studenten erstellte
Videos zu allen Kapiteln, die sich als Einführung oder
Zusammenfassung eignen:
http://youthandmedia.org/video/born-digital/
"Educating the Net Generation"
Wer sich vertieft mit der Thematik "Digital Natives und Lernen"
auseinandersetzen möchte, dem sei als Ausgangspunkt das von Diana und James Oblinger
2005 herausgegebene eBook "Educating the Net
Generation" empfohlen, das vollständig online zur Verfügung steht:
http://www.educause.edu/educatingthenetgen.
Welche Auswirkungen der Eintritt der Net Generation in die Wirtschafts-
und Arbeitswelt haben könnte, bildet ein wichtiges Thema von Wikinomics,
der einflussreichen Darstellung von Wirtschaftstrends, der wir uns im
Abschnitt Wirtschaft 2.0 zuwenden.
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